SoZ - Sozialistische Zeitung |
Als sich Calvin am 5.September 1536 erstmals in Genf niederlässt,
ist die Stadt bereits ein souveräner Kleinstaat, politisch unabhängig und somit für
eine Stadt des 16.Jahrhunderts eine Ausnahme. Nun ist dieser Status nicht der Höhe ihrer Mauern
geschuldet, sondern der Rivalität ihrer Nachbarn — im Wesentlichen Bern, Savoyen und
Frankreich —, was Genfs Eliten einen gewissen Spielraum verschafft. Sie können diesen
ausnützen, um sich um ein politisches Projekt und einen dauerhaften ideologischen Konsens zu
scharen, und sie sind bis zu einem gewissen Grad in der Lage, dafür die Zustimmung der
Bevölkerung zu erhalten. Dafür ist Calvin der richtige Mann, und dessen ist er sich
schnell bewusst.
Zwar haben die Genfer die Bande
zerrissen, die sie zu Untertanen des Herzogs von Savoyen und des Fürstbischofs von Genf gemacht
hatten, doch die neue Kirche hat ihre Herzen in Ketten gelegt, um sie direkt Gott zu unterwerfen.
Tatsächlich ist für Calvin der Mensch „völlig unbedeutend”, sein einziges
Heil liegt in Christus, und das der Gesellschaft in den Händen derer, „die dazu
erwählt sind, Gottes Pläne auszuführen” Das Bürgertum erkennt sich darin
mühelos wieder. Genf verwandelt sich so in „die vollkommenste Schule Christi, die jemals
seit der Zeit der Apostel auf Erden wirkte” (John Knox).
Mit täglich zur festgesetzten
Stunde gehaltener Predigt, dem verbindlichen Sonntagsgottesdienst, dem viermal im Jahr gehaltenen
Abendmahl ("aktives gemeinschaftliches Glaubensbekenntnis"), dem Studium der Fibeln und des
Katechismus, aber auch mit dem Auswendiglernen der Psalmen, die in der Kirche, auf der Straße
oder während der Arbeit gesungen werden, errichtet die neue Kirche das Gesetz Gottes zur
Richtschnur für das Alltagsleben. Seit 1546 zeugt die Veränderung der gebräuchlichen
Vornamen von der Kulturrevolution, die im Gang ist: Vor der Reform erhielten 46% der Kinder die
Namen von Heiligen, im Zeitraum 1550—1560 sind es nur noch 2%.
In diesem ideologischen Zusammenhalt
liegt das Geheimnis der kräftigen Expansion der Republik Genf in den Jahrzehnten nach der
Reformation, aber vor allem im 17. und 18.Jahrhundert, während die Stadtrepubliken im
restlichen Europa dem unaufhaltsamen Aufstieg der Territorialstaaten weichen mussten.
Die angestrebte Ordnung rechtfertigt die Entwicklung einer beispiellosen Polizei, die Seele,
Geist und Körper überwacht. Um die patriarchalische Ordnung zu festigen und die Weitergabe
des Eigentums innerhalb der Familie zu sichern, wird die Institution der Ehe gestärkt, ebenso
der Kampf gegen Unzucht, Ehebruch, Kindstötung und Sodomie. Um 1560 ist der Anteil
außerehelicher Geburten und vorehelicher Empfängnis in Genf so gering wie nirgends in
Europa.
Gleichzeitig wird die
öffentliche Moral verschärft überwacht: Gasthöfe, Tavernen und Badeanstalten
werden einem strengen Reglement unterworfen; Luxus und Koketterie werden an den Pranger gestellt;
Auktionen, obszöne Handlungen, öffentliche Trinkgelage, anstößige Tänze und
Lieder werden unterdrückt, das Glückspiel und die Prostitution verboten, usw. Abgeschafft
werden auch die arbeitsfreien religiösen Festtage. Jedes Jahr gehen von den Pastoren
beauftragte Beamte in die Häuser und verhören ihre Bewohner; jeder Fünfzehnte (nach
anderen Angaben jeder Achte) wird vor das Konsistorium zitiert (eine Gerichtsbarkeit über Moral
und Verhaltensweisen der Genfer Bevölkerung, die kirchliche Strafen bis hin zur Exkommunikation
verhängen oder sie der weltlichen Gerichtsbarkeit ausliefern kann).
Diesen Weg hat zum ersten Mal Ende
des 15.Jahrhunderts Florenz unter dem Einfluss von Savonarola gezeigt; das Konzil von Trient
(1545—1563) hat ihn für die katholische Welt aufgegriffen; und im zweiten Drittel des
16.Jahrhunderts wird das Genf Calvins für die protestantische Welt zum Verfechter dieses
Strebens nach „sozialer Disziplinierung”
Die Frau des „neuen
Menschen” zahlt einen besonders schweren Tribut. Die Ehebrecherin wird mit dem Tode bestraft,
wenn allein sie verheiratet und der Skandal öffentlich ist; der Mann wird ausgepeitscht und
verbannt. Ist dagegen nur der Mann verheiratet, wird er mit zwölf Jahren Gefängnis
bestraft. Ausnahmsweise ist Ehescheidung zugelassen, doch wird sie der Frau häufiger
verweigert. Schließlich werden Menschen mit Transgender-Identität verfolgt: „Gott
verlangt, dass keine Frau einem Landsknecht ähnele”, predigt Calvin, „man muss
solch garstige Personen mit Schmutz bewerfen, wenn sie so kühn sind, die Ordnung der Natur
umzustoßen.” Er verdammt auch Männer, „die sich wie Bräute herausputzen
und betrübt darüber zu sein scheinen, dass Gott sie nicht als Frauen geschaffen hat”
Es gibt daher zahlreiche Prozesse wegen „Sodomie” Im März 1554 wird Lambert Le
Blanc zusammen mit vier seiner Freunde lebendig verbrannt. Im September desselben Jahres werden
fünf Jugendliche verfolgt, geschlagen und in effigie verbrannt. Im Januar 1555 wird Mathieu
Durand geköpft und den Flammen überantwortet. 1562 werden zwei weitere Verurteilte
hingerichtet. Im Jahr 1566 wird ein 14-jähriger Piemonteser Schüler, Bartholomé
Tecia, von seinem Mitschüler Agrippa dAubigné, dem zukünftigen Dichter und
Ratgeber König Heinrichs IV., denunziert, „dass er versucht habe, ihn zu
verführen” Tecia wird gefoltert und in der Rhône ertränkt. Zweifellos kennen wir nur
eine Minderheit der Fälle.
Calvin macht sich lustig über
den „Aberglauben der Papisten"; er lehnt die Astrologie ab, die vorgibt, die Zukunft der
Menschen vorauszusehen. Er wendet sich jedoch auch gegen die vom Teufel besessenen Geister, die
glauben, dass sich die Erde um die Sonne dreht. Dieser Verfechter der „Entzauberung der
Welt” glaubt an Hexerei und unterdrückt sie schonungslos. Im 16.Jahrhundert werden
marginalisierte Frauen, die des Pakts mit dem Teufel beschuldigt werden, Opfer dieser Verfolgung und
nach unvorstellbaren Leiden zum Tode verurteilt. 1544/45 ist Calvin angesichts der Pest
überzeugt, Zauberer würden die Türschlösser mit Salbe aus Pestleichen einfetten:
Den verurteilten Frauen wird, bevor sie verbrannt werden, die rechte Hand abgeschlagen.
Zahlreiche Historiker haben auf einen Anstieg der Fremdenfeindlichkeit hingewiesen, insbesondere
gegenüber Predigern und französischen Flüchtlingen, die häufig jung und an ihrer
Sprache leicht zu erkennen waren. Analogien mit der heutigen Welt sind jedoch absurd. Die damaligen
Reaktionen haben ihren Ursprung in der Politik der „gewünschten Einwanderung” der
Städte des 16.Jahrhunderts. Sie unterscheidet drei Gruppen von Kandidaten: die mit
Fähigkeiten und Mitteln versehenen Immigranten, die in der Stadt als Neubürger oder
Ehepartner Anklang finden; diejenigen, die als Lehrlinge oder Tagelöhner beschäftigt
werden und für die Wirtschaft der Stadt unentbehrlich, aber oft Gegenstand besonderer
Überwachung sind; schließlich die obdachlosen Proletarier, die am häufigsten
aufgegriffen und als kleine Diebe oder Sozialfälle aus der Stadt verbannt werden. Im Genf des
16.Jahrhunderts erhalten die wohnberechtigten Ausländer den Status von Einwohnern, ihre
Nachkommen den von Einheimischen; die Bestsituierten unter ihnen können in die Bourgeoisie
aufgenommen werden und ihre Kinder das Bürgerrecht erwerben.
Die Sozialpolitik der Republik Genf
und ihrer Kirche bildet keine Ausnahme in Europa: Die städtischen Reformen des 16.Jahrhunderts
zielen darauf ab, die „Plage der Bettler” zu bannen. Sie helfen zwar jenen Bewohnern,
die — wegen Krankheit oder Alter — nicht für sich sorgen können, doch die
Arbeitsfähigen wollen sie vor allem zur Arbeit zwingen und die verelendeten Fremden
hinausjagen. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass die protestantischen Städte die
Einnahmen, die sie der katholischen Kirche abgenommenen hat, dazu verwendet, soziale Werke zu
finanzieren — in Genf seit 1535 das Städtische Hospital. Es ist die Zeit, in der der
englische König Eduard VI. (1547— 1553), ein Verfechter der Reformation, verfügt:
Demjenigen, der sich zu arbeiten weigert, solle „die Brust mit glühendem Eisen
gebrandmarkt werden” und er solle „zwei Jahre lang jedem untertan sein, der über
einen solchen Faulenzer Auskunft erteilen kann” Er kann geschlagen und in Ketten gelegt werden
und zu „jeder gewünschten Arbeit” gezwungen werden, ja sogar an Wange oder Stirn
gezeichnet und für den Rest seiner Tage versklavt werden, wenn er zu flüchten versucht.
Calvins Herangehen erscheint hier
humaner, doch nur deshalb, weil sich die soziale Frage in Genf weit weniger krass stellte. Das
Fehlen eines städtischen Proletariats, wie es in Deutschland oder Frankreich bereits
existierte, und das Fehlen einer zahlreichen Bauernschaft verhinderte, dass die Reformation in
dieser Stadt mit so schwerwiegenden sozialen Problemen konfrontiert wurde wie anderswo.
Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten
und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo
Sozialistische Hefte für Theorie und Praxis Sonderausgabe der SoZ 42 Seiten, 5 Euro, |
||||
Der Stand der Dinge Perry Anderson überblickt den westpolitischen Stand der Dinge Gregory Albo untersucht den anhaltenden politischen Erfolg des Neoliberalismus und die Schwäche der Linken Alfredo Saa-Fidho verdeutlicht die Unterschiede der keynsianischen und der marxistischen Kritik des Neoliberalismus Ulrich Duchrow fragt nach den psychischen Mechanismen und Kosten des Neoliberlismus Walter Benn Michaelis sieht in Barack Obama das neue Pin-Up des Neoliberalismus und zeigt, dass es nicht reicht, nur von Vielfalt zu reden Christoph Jünke über Karl Liebknechts Aktualität |