SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Oktober 2009, Seite 24

Johannes Calvin (1509—1564)

Schöpfer einer theokratischen Diktatur des frühen Bürgertums

von Jean Batou

Wie doppelzüngig die Schelte „des Abendlands” oft gegen Diktaturen in Ländern des Südens ist, lässt sich u.a. daran messen, wie der offizielle Kulturbetrieb in diesem Jahr den 500.Geburtstag Calvins begeht. In der einleitenden Präsentation der Ausstellung Calvinismus. Die Reformierten in Deutschland und Europa, die bis zum 19.Juli im Deutschen Historischen Museum in Berlin zu sehen war, wird Calvin gefeiert:
"Wie nur wenige Personen entfaltete der Genfer Reformator eine tiefe, bis heute andauernde Wirkung auf Wissenschaft, Politik, Kunst und Mentalitäten. Reformierte Ideale wie Arbeitsethos und Zeitmanagement scheinen heute im Alltag ebenso wieder erkennbar wie in gesellschaftlichen Normen und staatlichen Ordnungen. Calvinistische Bürger prägten die Ausformung eines modernen Wirtschaftssystems, calvinistische Politiker waren bestimmend in der Entwicklung einer modernen, republikanischen Staatlichkeit."
Besieht man sich Calvins Taten näher, muss man zugeben, dass die erste Ausprägung einer frühbürgerlichen republikanischen Ordnung in Wirklichkeit eine schlimme theokratische Diktatur gewesen ist.
Jean Batou kommt aus Genf, lehrt Internationale Geschichte an der Universität Lausanne und ist Mitglied von SolidaritéS.

Als sich Calvin am 5.September 1536 erstmals in Genf niederlässt, ist die Stadt bereits ein souveräner Kleinstaat, politisch unabhängig und somit für eine Stadt des 16.Jahrhunderts eine Ausnahme. Nun ist dieser Status nicht der Höhe ihrer Mauern geschuldet, sondern der Rivalität ihrer Nachbarn — im Wesentlichen Bern, Savoyen und Frankreich —, was Genfs Eliten einen gewissen Spielraum verschafft. Sie können diesen ausnützen, um sich um ein politisches Projekt und einen dauerhaften ideologischen Konsens zu scharen, und sie sind bis zu einem gewissen Grad in der Lage, dafür die Zustimmung der Bevölkerung zu erhalten. Dafür ist Calvin der richtige Mann, und dessen ist er sich schnell bewusst.
Zwar haben die Genfer die Bande zerrissen, die sie zu Untertanen des Herzogs von Savoyen und des Fürstbischofs von Genf gemacht hatten, doch die neue Kirche hat ihre Herzen in Ketten gelegt, um sie direkt Gott zu unterwerfen. Tatsächlich ist für Calvin der Mensch „völlig unbedeutend”, sein einziges Heil liegt in Christus, und das der Gesellschaft in den Händen derer, „die dazu erwählt sind, Gottes Pläne auszuführen” Das Bürgertum erkennt sich darin mühelos wieder. Genf verwandelt sich so in „die vollkommenste Schule Christi, die jemals seit der Zeit der Apostel auf Erden wirkte” (John Knox).
Mit täglich zur festgesetzten Stunde gehaltener Predigt, dem verbindlichen Sonntagsgottesdienst, dem viermal im Jahr gehaltenen Abendmahl ("aktives gemeinschaftliches Glaubensbekenntnis"), dem Studium der Fibeln und des Katechismus, aber auch mit dem Auswendiglernen der Psalmen, die in der Kirche, auf der Straße oder während der Arbeit gesungen werden, errichtet die neue Kirche das Gesetz Gottes zur Richtschnur für das Alltagsleben. Seit 1546 zeugt die Veränderung der gebräuchlichen Vornamen von der Kulturrevolution, die im Gang ist: Vor der Reform erhielten 46% der Kinder die Namen von Heiligen, im Zeitraum 1550—1560 sind es nur noch 2%.
In diesem ideologischen Zusammenhalt liegt das Geheimnis der kräftigen Expansion der Republik Genf in den Jahrzehnten nach der Reformation, aber vor allem im 17. und 18.Jahrhundert, während die Stadtrepubliken im restlichen Europa dem unaufhaltsamen Aufstieg der Territorialstaaten weichen mussten.

Die Diktatur der Tugend

Die angestrebte Ordnung rechtfertigt die Entwicklung einer beispiellosen Polizei, die Seele, Geist und Körper überwacht. Um die patriarchalische Ordnung zu festigen und die Weitergabe des Eigentums innerhalb der Familie zu sichern, wird die Institution der Ehe gestärkt, ebenso der Kampf gegen Unzucht, Ehebruch, Kindstötung und Sodomie. Um 1560 ist der Anteil außerehelicher Geburten und vorehelicher Empfängnis in Genf so gering wie nirgends in Europa.
Gleichzeitig wird die öffentliche Moral verschärft überwacht: Gasthöfe, Tavernen und Badeanstalten werden einem strengen Reglement unterworfen; Luxus und Koketterie werden an den Pranger gestellt; Auktionen, obszöne Handlungen, öffentliche Trinkgelage, anstößige Tänze und Lieder werden unterdrückt, das Glückspiel und die Prostitution verboten, usw. Abgeschafft werden auch die arbeitsfreien religiösen Festtage. Jedes Jahr gehen von den Pastoren beauftragte Beamte in die Häuser und verhören ihre Bewohner; jeder Fünfzehnte (nach anderen Angaben jeder Achte) wird vor das Konsistorium zitiert (eine Gerichtsbarkeit über Moral und Verhaltensweisen der Genfer Bevölkerung, die kirchliche Strafen bis hin zur Exkommunikation verhängen oder sie der weltlichen Gerichtsbarkeit ausliefern kann).
Diesen Weg hat zum ersten Mal Ende des 15.Jahrhunderts Florenz unter dem Einfluss von Savonarola gezeigt; das Konzil von Trient (1545—1563) hat ihn für die katholische Welt aufgegriffen; und im zweiten Drittel des 16.Jahrhunderts wird das Genf Calvins für die protestantische Welt zum Verfechter dieses Strebens nach „sozialer Disziplinierung”
Die Frau des „neuen Menschen” zahlt einen besonders schweren Tribut. Die Ehebrecherin wird mit dem Tode bestraft, wenn allein sie verheiratet und der Skandal öffentlich ist; der Mann wird ausgepeitscht und verbannt. Ist dagegen nur der Mann verheiratet, wird er mit zwölf Jahren Gefängnis bestraft. Ausnahmsweise ist Ehescheidung zugelassen, doch wird sie der Frau häufiger verweigert. Schließlich werden Menschen mit Transgender-Identität verfolgt: „Gott verlangt, dass keine Frau einem Landsknecht ähnele”, predigt Calvin, „man muss solch garstige Personen mit Schmutz bewerfen, wenn sie so kühn sind, die Ordnung der Natur umzustoßen.” Er verdammt auch Männer, „die sich wie Bräute herausputzen und betrübt darüber zu sein scheinen, dass Gott sie nicht als Frauen geschaffen hat” Es gibt daher zahlreiche Prozesse wegen „Sodomie” Im März 1554 wird Lambert Le Blanc zusammen mit vier seiner Freunde lebendig verbrannt. Im September desselben Jahres werden fünf Jugendliche verfolgt, geschlagen und in effigie verbrannt. Im Januar 1555 wird Mathieu Durand geköpft und den Flammen überantwortet. 1562 werden zwei weitere Verurteilte hingerichtet. Im Jahr 1566 wird ein 14-jähriger Piemonteser Schüler, Bartholomé Tecia, von seinem Mitschüler Agrippa d‘Aubigné, dem zukünftigen Dichter und Ratgeber König Heinrichs IV., denunziert, „dass er versucht habe, ihn zu verführen” Tecia wird gefoltert und in der Rhône ertränkt. Zweifellos kennen wir nur eine Minderheit der Fälle.
Calvin macht sich lustig über den „Aberglauben der Papisten"; er lehnt die Astrologie ab, die vorgibt, die Zukunft der Menschen vorauszusehen. Er wendet sich jedoch auch gegen die vom Teufel besessenen Geister, die glauben, dass sich die Erde um die Sonne dreht. Dieser Verfechter der „Entzauberung der Welt” glaubt an Hexerei und unterdrückt sie schonungslos. Im 16.Jahrhundert werden marginalisierte Frauen, die des Pakts mit dem Teufel beschuldigt werden, Opfer dieser Verfolgung und nach unvorstellbaren Leiden zum Tode verurteilt. 1544/45 ist Calvin angesichts der Pest überzeugt, Zauberer würden die Türschlösser mit Salbe aus Pestleichen einfetten: Den verurteilten Frauen wird, bevor sie verbrannt werden, die rechte Hand abgeschlagen.

Fremde und Arbeiter

Zahlreiche Historiker haben auf einen Anstieg der Fremdenfeindlichkeit hingewiesen, insbesondere gegenüber Predigern und französischen Flüchtlingen, die häufig jung und an ihrer Sprache leicht zu erkennen waren. Analogien mit der heutigen Welt sind jedoch absurd. Die damaligen Reaktionen haben ihren Ursprung in der Politik der „gewünschten Einwanderung” der Städte des 16.Jahrhunderts. Sie unterscheidet drei Gruppen von Kandidaten: die mit Fähigkeiten und Mitteln versehenen Immigranten, die in der Stadt als Neubürger oder Ehepartner Anklang finden; diejenigen, die als Lehrlinge oder Tagelöhner beschäftigt werden und für die Wirtschaft der Stadt unentbehrlich, aber oft Gegenstand besonderer Überwachung sind; schließlich die obdachlosen Proletarier, die am häufigsten aufgegriffen und als kleine Diebe oder Sozialfälle aus der Stadt verbannt werden. Im Genf des 16.Jahrhunderts erhalten die wohnberechtigten Ausländer den Status von Einwohnern, ihre Nachkommen den von Einheimischen; die Bestsituierten unter ihnen können in die Bourgeoisie aufgenommen werden und ihre Kinder das Bürgerrecht erwerben.
Die Sozialpolitik der Republik Genf und ihrer Kirche bildet keine Ausnahme in Europa: Die städtischen Reformen des 16.Jahrhunderts zielen darauf ab, die „Plage der Bettler” zu bannen. Sie helfen zwar jenen Bewohnern, die — wegen Krankheit oder Alter — nicht für sich sorgen können, doch die Arbeitsfähigen wollen sie vor allem zur Arbeit zwingen und die verelendeten Fremden hinausjagen. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass die protestantischen Städte die Einnahmen, die sie der katholischen Kirche abgenommenen hat, dazu verwendet, soziale Werke zu finanzieren — in Genf seit 1535 das Städtische Hospital. Es ist die Zeit, in der der englische König Eduard VI. (1547— 1553), ein Verfechter der Reformation, verfügt: Demjenigen, der sich zu arbeiten weigert, solle „die Brust mit glühendem Eisen gebrandmarkt werden” und er solle „zwei Jahre lang jedem untertan sein, der über einen solchen Faulenzer Auskunft erteilen kann” Er kann geschlagen und in Ketten gelegt werden und zu „jeder gewünschten Arbeit” gezwungen werden, ja sogar an Wange oder Stirn gezeichnet und für den Rest seiner Tage versklavt werden, wenn er zu flüchten versucht.
Calvins Herangehen erscheint hier humaner, doch nur deshalb, weil sich die soziale Frage in Genf weit weniger krass stellte. Das Fehlen eines städtischen Proletariats, wie es in Deutschland oder Frankreich bereits existierte, und das Fehlen einer zahlreichen Bauernschaft verhinderte, dass die Reformation in dieser Stadt mit so schwerwiegenden sozialen Problemen konfrontiert wurde wie anderswo.

Aus: SolidaritéS, Nr.152, 20.8.2009) (Übersetzung: Hans-Günter Mull).


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