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Was waren die Gründe für den Zusammenbruch der DDR? War sie
ökonomisch am Ende, oder war sie politisch und/oder moralisch
delegitimiert? Stimmt der Satz aus dem express, Nr.4, 1990: „Die
konkrete Utopie der meisten DDR-Bürger ist die
BRD"?
Bernd Gehrke: Politisch und moralisch war das SED-Regime bei
der Mehrheit von Anfang an delegitimiert, nicht wegen der Versprechungen
des Sozialismus, der Nazi-Enteignungen oder der Bildungsreform in den 40er
Jahren, sondern weil das Ulbricht-Regime ein bedingungsloser Gehilfe der
stalinistischen Besatzungsmacht war und eine antisozialistische Politik
verfolgte. Besonders die ersten Jahre waren von Terrorpolitik geprägt.
Sozialdemokraten, Sozialisten, oppositionelle Kommunisten und andere
Antifaschisten wurden verhaftet.1952 begann die Terrorpolitik des
„planmäßigen Aufbaus des Sozialismus”, die im
Arbeiteraufstand 1953 mündete. Nachdem alle Demokratisierungsversuche
in der DDR und im Ostblock immer wieder spätestens an den sowjetischen
Panzern scheiterten und politische Instabilität erzeugten,
arrangierten sich schließlich Herrschende und Beherrschte — bis
das System wirtschaftlich, kulturell und politisch am Ende war.
Untergegangen ist ja nicht nur die DDR, sondern das sowjetische Imperium.
Die DDR selbst drohte ein Drittweltland zu werden. Sie steckte in der
Schuldenfalle, Städte und Fabriken verfielen in dramatischer Weise,
der Sowjetunion ging es ebenso. Zudem gab das Zentrum des Imperiums keine
Existenzgarantie mehr für die Vasallenregime. Die
„Reformpolitik” in Moskau kehrte die gesamte politische und
ideologische Ordnung im Ostblock völlig um.
Sebastian Gerhardt: Der Satz aus dem express stimmt nicht, da
er eine Momentaufnahme für das Ganze nimmt: Erst in dem Maße, in
dem im Herbst 89 die Ohnmacht der DDR und die Macht des Westens
hervortrat, verschob sich die eigene Perspektive von der Suche nach einem
sozialistischen Ausweg zu einem „Rette sich, wer kann” Die Pro-
und Contra-Reaktionen auf den Aufruf Für unser Land markierten den
Umschwung Ende November/Anfang Dezember 1989. Der Aufruf wurde damals von
über einer Million DDR-Bürger unterzeichnet — aber eine
irgendwie mobilisierende Wirkung ging von ihm nicht aus, schon die
Erstunterzeichner waren sich über die praktischen Konsequenzen nicht
einig gewesen. Aber auch später ging die Option für den Westen
bei den meisten Leuten mit vielen Bedenken, Befürchtungen und einer
ungeheuren Resignation einher: Wenn es schon nicht anders geht —
wenigstens haben die im Westen eine effektive Wirtschaft, einen Rechtsstaat
etc.
Die DDR war
nicht deshalb am Ende, weil man Schulden von 20 Milliarden DM
aufgehäuft hatte. Sondern deshalb, weil man diese Schulden beim
weltpolitischen Gegner aufgenommen hatte, dem der Ostblock nur unter
Hintanstellung des individuellen Konsums seiner Bürger Paroli bieten
konnte. Die seinerzeitige DDR-Führung war sich denn auch sicher, dass
es sich bei der Anlehnung an die BRD um ein ökonomisch alternativloses
Programm gehandelt hat. Noch vor der Öffnung der Mauer hatte sie ihre
verzweifelte Situation offenbart. Die Auslandsverschuldung betrug 1989 etwa
13—14 Milliarden US-Dollar. Eine Aufnahme neuer Kredite in Höhe
von 10—15 Milliarden DM lehnte Bundeskanzler Kohl am 8.November im
Deutschen Bundestag ab, „umfassende Hilfe” wollte er nur geben,
wenn „eine grundlegende Reform der politischen und wirtschaftlichen
Verhältnisse in der DDR verbindlich festgelegt wird”
Renate Hürtgen: Eine Antwort auf diese beiden Fragen
käme einer historischen Analyse eines Großereignisses gleich.
Daher nur drei Stichworte: 1. Ja, eine Revolution, wenn ich darunter die
rasche — nicht evolutionäre — Beseitigung eines bestimmten
politischen und ökonomischen Herrschaftstyps verstehe. 2. Die DDR war
vor allem „am Ende”, weil die Sowjetunion ihren Machtbereich
aufgegeben hat; hätte sie 1953 nicht eingegriffen, wäre das
stalinistische DDR-Regime bereits zu dieser Zeit verschwunden. 3.
Jedenfalls war die konkrete Utopie der DDR-Bürger nicht die
Sowjetunion!
Thomas Klein: Die DDR ist 1989/90 nicht zusammengebrochen, das
politische System der SED-Politbürokratie wurde durch eine
demokratische Revolution gestürzt. Die DDR war 1989 ökonomisch
nicht am Ende, sondern im selbst ausgerufenen Systemwettbewerb zu
kapitalistischen Bedingungen auf der Verliererstraße. Die SED war
natürlich politisch-moralisch delegitimiert, aber nicht erst 1989. In
diesem Jahr kulminierten eine Reihe von (innen- und außen)politischen
Faktoren, durch die der Legitimationsverlust zur Revolution wurde.
Der Satz
aus dem express kann als Auswertung der Volkskammerwahlen 1990 durchgehen,
ist aber für den Herbst 1989 eher zweifelhaft.
Silvia Müller: Im Sommer 1989 steckte die DDR vor allem in
einer tiefen politisch-moralischen Krise. Die staatliche Verlogenheit stand
in krassem Gegensatz zur verheerenden Realität, die sich im Verfall
des Landes, der Städte, Betriebe und der Umgangsformen unzufriedener
Menschen zeigte. Desolate Zustände, Stagnation im Land und das
Gefühl von Vergeblichkeit, Ohnmacht und des ewigen Eingesperrtseins
hinter der Mauer führten sowohl zur Ausreisewelle im Sommer 1989 wie
zu den Massendemonstrationen und neuen politischen Gruppenbildungen.
Zugleich hatte die DDR auf internationalen Märkten bereits ihre
Kreditwürdigkeit verloren und war pleite.
Wer kann
schon für die „meisten DDR-Bürger” sprechen und noch
dazu über deren „konkrete Utopie"? Für die meisten DDR-
Oppositionellen galt jedenfalls über die Jahre „Bleib daheim und
wehr dich täglich”, denn in der kapitalistischen BRD und einem
individuellen Erfolgsanspruch sahen wir keine Alternative zur
Veränderung des eigenen Landes.
Ein Brief
vom 1.Oktober 1989 belegt diese Einstellung auch für andere DDR-
Bürger: „Wir engagieren uns im Neuen Forum, weil wir uns Sorgen
um die DDR machen. Wir wollen hier bleiben und arbeiten ... Für uns
ist die Wiedervereinigung kein Thema, da wir von der Zweistaatlichkeit
Deutschlands ausgehen und kein kapitalistisches Gesellschaftssystem
anstreben. Wir wollen Veränderungen in der DDR.” Auch der von
DDR-Schriftstellern initiierte Aufruf Für unser Land löste im
November 1989 bei über einer Million DDR-Bürgerinnen und -
Bürgern breite Zustimmung und ein Nachdenken über eine
sozialistische Alternative zur Bundesrepublik aus.
Gerd Szepansky: Die Gründe für den Zusammenbruch der
DDR dürften sowohl ökonomische als auch politisch-moralische
gewesen sein. Außerdem waren die Rahmenbedingungen wohl ganz
günstig (Ungarn, Gorbatschow etc.). Den Satz aus dem express kann ich
unterstreichen, und meine Enttäuschung darüber spüre ich
heute noch.
Klaus Wolfram: Für die mehr oder weniger Unpolitischen
trifft der express-Satz zu, für die andere Hälfte der
Bevölkerung nicht.
XWar der
Umbruch von 1989 eine Revolution?
Bernd Gehrcke: Falls man den „Umbruch 1989” als
Ganzes im Sinne des Untergangs des sowjetischen Imperiums sieht, dann
sollte man vom Charakter dieses Umbruchs sprechen. Klar ist aus meiner
Sicht, dass wir aus einem antagonistischen Ausbeutungssystem in ein anderes
gelandet sind. Ob das für die einzelnen Länder ein Fortschritt
oder Rückschritt war, lässt sich nicht global beantworten. Das
Entwicklungsniveau und die politischen Prozesse waren sehr unterschiedlich.
Der Sturz
des Honecker-Regimes hatte für mich die Form einer Revolution und den
Charakter einer demokratischen Volksbewegung, die Arbeiter und
Intelligenzia vereinte. Das Regime „brach” nicht von selbst
„zusammen”, „die Straße” führte diesen
Zusammenbruch herbei — ganz nach dem revolutionären
Verständnis Lenins, dass die unten nicht mehr beherrscht werden
wollten wie bisher, und die oben nicht mehr herrschen konnten wie bisher.
Diese Revolution machte die DDR ein Jahr lang zum freiesten Land der Welt.
Wir hatten nicht nur Rede-, Koalitions- und Versammlungsfreiheit, sondern
auch wirklich freie Medien und ein Wahlgesetz ohne 5%-Klausel;
Bürgerinitiativen konnten sich zur Wahl stellen; wir hatten keinen
§218 und keinen Geheimdienst. Mit dem „Beitritt” wurden
wir wieder auf das bundesrepublikanische Demokratiemaß
zurückgeschraubt. Es bestand die reale Alternative zwischen einer rot-
grünen Bürgerdemokratie und einer gleichberechtigten Vereinigung
beider deutscher Staaten einerseits, und der dann realisierten Unterwerfung
Ostdeutschlands mit dem Sieg des Neoliberalismus im Gefolge andererseits.
Die Erinnerung an diese Alternative soll völlig ausgelöscht
werden.
Der
Opposition fehlte die politische Kraft zur Umsetzung der Bewegung des
Herbstes in Macht, und die westdeutschen Parteien mischten sich massiv in
die politischen Auseinandersetzungen auf der Straße ein. Kohls CDU
verbreitete das Plakat „Wir sind ein Volk”, die SDP wurde zum
Vorreiter in Sachen Import westdeutscher Politiker und
Wohlstandsversprechen (Währungsunion!). Zugleich versuchte die SED-PDS
seit Anfang 1990 eine Offensive, womit sie allerdings das Gegenteil
bewirkte — eine Gegenrevolution von unten, getragen von den
ostdeutschen Arbeitern, die die deutsche Einheit nicht im politischen
Bündnis mit der westdeutschen Arbeiterklasse, sondern mit der
westdeutschen Bourgeoisie verwirklichten. Dieses politisch entscheidende
Bündnis zerbrach erst mit der Deindustrialisierung Ostdeutschlands
1993.
Sebastian Gerhardt: Nein, es war keine Revolution. Drei zentrale
Ergebnisse dieses Umbruchs, die bis heute die Weltpolitik bestimmen, machen
das deutlich:
a) 1989/90
entschied sich, dass es keinen emanzipatorischen Aufbruch in den
Ländern des Ostblocks geben würde. Nicht die Streikbewegungen
gestalteten das Ende der Gorbatschowschen Perestroika, sondern die
Politbürokratie machte sich auf den Weg der Privatisierung. Und der
nationalistische Aufbruch bildete den Rahmen, in der die Unterordnung unter
den Weltmarkt als Befreiung gefeiert werden konnte.
b) Mit dem
Ostblock brach für relevante Teile von Befreiungsbewegungen im Trikont
der weltpolitische Bündnispartner weg.
c) Schließlich hat der Rückzug der Sowjetunion von der
weltpolitischen Bühne den USA und ihren Verbündeten Räume
eröffnet, deren Umgestaltung die Weltpolitik bis heute prägt:
ohne die Kapitulation der UdSSR kein erster Irakkrieg 1991 und keine
Talibanisierung Afghanistans.
Silvia Müller: Die revolutionierende Wirkung der
Demonstrationen im Herbst 1989 war, dass die Alleinherrschaft der
Politbürokratie der SED beendet und staatsbürgerliche Rechte
errungen wurden. Das System, in dem freie und öffentliche Kritik an
der Staatspolitik über Jahre mit repressiven Mitteln unterdrückt
worden war, erwies sich angesichts der erklärten und weitgehend
praktizierten Gewaltlosigkeit bei den Protesten auf der Straße und
unter den Rufen „Wir sind das Volk” als immer weniger
handlungsfähig.
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