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Deutschland ist in Europa Schlusslicht in
Sachen Löhne. Die gewerkschaftliche Tarifpolitik hat einen
gerüttelten Anteil daran.
Im letzten
Jahr erschien eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung, die sich mit der
Lohnentwicklung in der EU befasste. Ein zentrales Ergebnis der Studie war,
dass Deutschland in der Lohnentwicklung eine Sonderrolle spielt.
Während die beschäftigten Lohnabhängigen in allen andern
Staaten der EU in den zurückliegenden acht Jahren steigende
Reallöhne verbuchen konnten, mussten die Lohnabhängigen in
Deutschland in all diesen Jahren Reallohnverluste hinnehmen. In den
osteuropäischen Beitrittsländern lagen die Zuwachsraten über
100%, Spitzenreiter war Rumänien mit 331,7%. Die Einkommen in
Frankreich stiegen um 10%, in den Niederlanden um 12%, in Schweden um 18%
und in Großbritannien sogar um 26%.
Ein
wichtiger Grund für diese Sonderrolle Deutschlands besteht darin, dass
die Tarifbindung rapide gesunken ist und in den tarifgebundenen Unternehmen
aufgrund von Öffnungsklauseln u.ä. weniger Lohnerhöhung
ankommt, als in Tarifverträgen vereinbart wird. Auch die Tatsache,
dass mittlerweile jeder dritte Beschäftigte sein Geld in einem Mini-,
Midi-, 1-Euro-Job oder Zeitarbeitsvertrag verdient, hat dazu beigetragen,
dass der Aufschwung an der Bevölkerung vorbeigegangen ist. 2008 hatte
es vor dem Hintergrund außerordentlicher Gewinne nominal höhere
Abschlüsse gegeben. Doch auch diese Bruttolohnsteigerung bewirkte im
Endeffekt keine Steigerung der Realeinkommen, da vor allem die Mehrkosten
für Energie den Zuwachs aufgefressen haben.
Jetzt sind
wir in der Krise und wenig spricht dafür, dass gerade jetzt diese
Entwicklung umgekehrt wird. Die auf Wirtschaftsprognosen spezialisierten
Agenturen gehen davon aus, dass im laufenden Jahr die Bruttolöhne und
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gehälter um 2,5% zurückgehen. Dabei sind sie in den großen
Branchentarifverträgen gestiegen. Die von der IG Metall ausgehandelte
Lohnerhöhung 2008/09 lag bei 2,5%. Um diese Marke bewegten sich auch
Abschlüsse von Ver.di. Das Tarifergebnis für die
Beschäftigten im öffentlichen Dienst (Bund und kommunale
Arbeitgeber) 2008/09 lag knapp darüber. Der Abschluss von Ver.di im
Bankgewerbe bewegte sich mit einer Lohnsteigerung von 2,5%,
einschließlich vier Nullmonaten und einer Laufzeit bis 2010, eher in
Richtung 2%. Die prognostizierte Senkung der Bruttolöhne ergibt sich
wohl vor allem aus den Folgen der massenhaften Kurzarbeit und aus dem
verringerten Brutto in Folge von Entlassungen.
Schaut man
auf die in diesem Jahr getätigten Abschlüsse, ergibt sich
folgendes Bild:
Bei der
Bahn AG lag der Abschluss mit 2,5% (ab 1.2.2009) und 2% (ab 1.10.2010)
vielleicht dank der Einmalzahlung von 500 Euro noch auf der Nulllinie. Bei
der Deutschen Telekom lag er mit 3% und 2,5% ein wenig im Plus. Im
Bauhauptgewerbe bewegte sich das Ergebnis mit jeweils 2,3% für 2009
und 2010 und einer geringen Einmalpauschale wohl auch im roten Bereich. Das
gerade aktuell vereinbarte Ergebnis im ersten Streik der
Gebäudereiniger bringt für die Ostkollegen ein reales
Einkommensplus, verfehlt im Westen jedoch die 2,5%-Marke. Die
Abschlüsse im Bereich des Einzelhandels liegen deutlich unterhalb von
2,5%. Nur beim Multi RWE und in der Energiewirtschaft gelangen Ver.di und
der IG BCE Abschlüsse deutlich über 2,5%. Erneut deutlich
unterhalb der vorausgesagten Inflationsrate bewegt sich das von der IG
Metall erzielte Ergebnis für die Beschäftigten der Textil- und
Bekleidungsindustrie. Der Haustarifvertrag bei Volkswagen mit einer
Laufzeit bis 2011 dürfte dank der Einmalzahlung von 710 Euro die 2,5%-
Marke überschreiten.
Im neuen Jahr stehen Tarifverhandlungen für insgesamt 9,4 Millionen
Menschen bevor. Die größten Bereiche sind die Metallindustrie mit
über 3 Millionen Beschäftigen und der Bereich Bund und Kommunen
des öffentlichen Dienstes mit 1,6 Millionen Beschäftigten.
Im Vorfeld
der beginnenden Tarifrunden gibt es erste Positionsbestimmungen. Die IG
Metall, die im letzten Jahr noch mit der Forderung nach 8% ins Rennen
gegangen ist, spricht sich jetzt gegen hohe Lohnforderungen aus.
Der
Vorstand empfiehlt eine sog. „Drei-Komponenten-Lösung": Die
erste Komponente ist eine „moderate prozentuale
Basiserhöhung” für alle. Dann erfolgt eine getrennte
Behandlung von prosperierenden und kriselnden Betrieben. In Unternehmen mit
guter Auftragslage soll es einen zusätzlichen Einmalbetrag geben.
Betriebe, die von der Krise stark betroffen sind, dürfen den
Einmalbetrag einbehalten und für Beschäftigungssicherung
ausgegeben, z.B. für die volle Ausschöpfung der Kurzarbeit oder
für einen Teillohnausgleich bei einer Absenkung der Arbeitszeit unter
29 Stunden — oder auch eine Erhöhung der Zahl der
Alterszeitverträge oder die unbefristete Übernahme der
Auszubildenden.
Auf
deutlichen Widerspruch stieß diese Ankündigung bei Ver.di: Frank
Bsirske erklärte, „Lohnverzicht zu einer Zeit, in der wir uns am
Rande einer Deflation bewegen”, wäre das Falscheste, was man
machen kann.
Mit dieser
Äußerung erntete er öffentliche Kritik vom neuen IG-BCE-
Vorsitzenden Michael Vassiliadis, der argumentierte, es sei aus gutem Grund
bisher Usus, dass keine Gewerkschaft sich zu Tariffragen äußere,
von denen sie nichts verstehe. Vassiliadis warnte gleichzeitig vor einer
konfrontativen Politik gegenüber der schwarz-gelben Regierung. Mit dem
neuen FDP-Wirtschaftsminister könne man gut auskommen.
In den
letzten Monaten wurde die Republik mit vielen Statistiken versorgt, an
denen die wachsende soziale Spaltung des Landes ablesbar ist. Deutschland
hat mittlerweile einen der größten Niedriglohnsektoren der OECD.
Und auch im Bereich der gewerkschaftlich direkt beeinflussbaren Branchen
heizt die von den deutschen Gewerkschaften mitgestaltete Tarifpolitik die
Standortkonkurrenz seit Jahren an. Die Angst der Beschäftigten, ihren
Job zu verlieren, ist gerade in der Krise groß und sie steht auch Pate
bei der Suche nach gemeinsamen Lösungen mit den Unternehmern, die zu
Lohnverzicht gegen Joberhalt führen.
Doch Angst
ist kein guter Ratgeber, denn sie lähmt, statt zu Mut zu machen. Das
wiederum könnte die Unternehmer ermutigen, sich auch vor bescheidenen
Lösungen zu drücken. Ein Ende der deutschen Sonderrolle in der
Lohnpolitik kommt auf diesem Wege auf jeden Fall nicht zustande.
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