SoZ - Sozialistische Zeitung |
In Frankreich wird voraussichtlich bald ein
parlamentarischer Untersuchungsausschuss zum Thema der Arbeitsbedingungen in
einem Privatunternehmen eingesetzt. Grund sind die dramatischen Zustände
bei der französischen Telekom, die im Sommer und Herbst dieses Jahres in
einer Selbstmordwelle gipfelten, sie erregten ein bisher nicht gekanntes
öffentliches Aufsehen.
Über drei Viertel der insgesamt rund 100000 Beschäftigten von
France Télécom haben bis Mitte November einen Fragebogen über
ihre Arbeitsbedingungen und psychischen Belastungen am Arbeitsplatz
ausgefüllt, der ihnen ausgeteilt worden war.
Die
französische Telekom ist kein öffentlicher Dienst und auch kein
Staatsbetrieb mehr. La Poste und France Télécom bildeten bis in die
frühen 90er Jahre hinein noch eine Einheit, unter dem Dach der gemeinsamen
Administration PTT (Poste, télégraphes, télécommunications).
Unter Michel Rocards sozialdemokratisch geführter Regierung wurde die PTT
Anfang der 90er Jahre zerlegt. Die Privatisierung der Télécom
beschloss eine andere Linksregierung unter Premierminister Lionel Jospin —
nur einen Monat nach seinem Amtsantritt und unter flagrantem Bruch seines
Wahlversprechens.
Es passierte
mitten in der Besprechung: „Ich habe die Schnauze voll! Die Schnauze voll
von euren Dummheiten!”, rief der Mitarbeiter seinen Vorgesetzten zu
— und rammte sich ein Messer in die Brust. Er überlebte, mit
erheblichen Verletzungen. Nach einer knappen Woche im Krankenhaus wurde er
entlassen.
Diese Szene stammt nicht aus einem Samuraifilm mit Harakiri-Effekten, sondern
aus der alltäglichen Realität. Yonnel Dervin heißt der 49-
jährige Techniker der französischen Télécom, der sich am
9.September im ostfranzösischen Troyes diese Stichverletzungen
zufügte. Er äußerte sich im Nachhinein gegenüber der
französischen Presse: Er habe seinen Akt zuvor geplant, erklärte er
dort, aber er bedauere ihn nicht, „auch wenn der Körper verletzt
ist” Er habe es nicht mehr ausgehalten, dass man ihm in Besprechungen
offen erklärt habe, er sei mit seinem beruflichen Können einfach
„zu nichts mehr nütze” Seine Abteilung sollte aufgelöst
werden, die abhängig Beschäftigten anderswo „rentabler”
eingesetzt. Die Angestellten hatten davon im Juli erfahren, nachdem der
Beschluss längst unverrückbar gefällt war und die
Belegschaftsvertretung (das Comité dentreprise).
Die
Verzweiflungstat von Yonnel Dervin ist kein Einzelfall, vielmehr sind die
Selbstmorde bei France Télécom — der bislang letzte fand in der
vorletzten Novemberwoche statt — seit diesem Herbst eine regelrechte
Staatsaffäre. Obwohl das Unternehmen seit 2004 privatisiert ist, sah sich
die Regierung gezwungen sich einzuschalten, weil das Phänomen ungekannte
Ausmaße angenommen hat. Am 14.September hatte eine leitende Angestellte von
France Télécom in Metz versucht, am Arbeitsplatz Selbstmord zu
verüben, sie nahm in der Mittagspause eine starke Überdosis
Schlaftabletten. Am darauffolgenden Tag empfing Arbeits- und Sozialminister
Xavier Darcos den Generaldirektor des Unternehmens in seinem Büro.
Didier Lombard
musste dem Minister versprechen, sofort Maßnahmen einzuleiten: bessere
psychologische Betreuung, ein Frühwarnmechanismus für
Betriebsärzte, und eine Hotline, auf der die Beschäftigten sich
„aussprechen” können. Die Unternehmensleitung erklärte
öffentlich, es müsse „vordringlich darum gehen, die Ansteckung
(contagion) einzudämmen”, als handele es sich um die Schweinegrippe
oder eine sonstige Seuche. Generaldirektor Lombard bezeichnete die
Selbstmordwelle bei der Télécom in einem anderen Satz aber auch als
„Mode"-Phänomen, Kritiker warfen ihm deshalb
„Zynismus” vor.
Die linke
Basisgewerkschaft SUD-PTT führte ein „Die-in” vor dem
Unternehmenssitz durch, unter dem Motto: „Stoppt das Massaker” Dort
wies die zweitstärkste Gewerkschaft bei France Télécom darauf
hin, dass derzeit in dem Unternehmen „stündlich ein Arbeitsplatz
gestrichen” wird. SUD-PTT hat gemeinsam mit der CGC (die Gewerkschaft der
höheren Angestellten) eine „Beobachtungsstelle für
Arbeitsbedingungen” gegründet.
25 Beschäftigte haben sich bei der französischen Télécom
in den letzten anderthalb Jahren am Arbeitsplatz „erfolgreich” das
Leben genommen. Dies sei ein historisch völlig unbekanntes Phänomen,
meint der Arbeitspsychologe Christophe Dejours, der mehrere Bücher
über „das Leiden in der Arbeitswelt” verfasst hat: Erst seit
Ende der 90er Jahre erlebe man überhaupt, dass Menschen sich unmittelbar am
Arbeitsplatz umbringen — und nicht irgendwohin dafür
zurückziehen. „Wenn sich jemand in einem Wald aufhängen
geht”, meint Dejours, „dann kann man über das
Ursachenbündel diskutieren. Aber wenn er es am Arbeitsplatz tut, dann
drängt sich der Zusammenhang mit dem Arbeitsleben unübersehbar
auf."
In vielen
Fällen hinterließen jene, die Suizid verübte, auch unzweideutigen
Nachrichten. Der Télécom-Mitarbeiter Michel Deparis, der sich im Juli
2009 in Marseille das Leben nahm, schrieb in seinem Abschiedsbrief, es sei
„unnötig, anderswo als in meinem Arbeitsleben bei France
Télécom nach Ursachen zu suchen” Er hatte ein glückliches
Familienleben geführt, und seine berufliche Qualifikation war allgemein
anerkannt. Aber er fühlte sich zunehmend in Konkurrenz zu anderen
Angestellten getrieben — etwa durch die individuelle Leistungsbeurteilung,
die zunehmend in Mode kommt. Von ihr hängen Lohnbestandteile wie etwa
Prämien ab, aber mitunter auch das Risiko, bei der nächsten
Entlassungswelle mit dabei zu sein. Und sie vergiften das Arbeitsleben, weil die
meisten Beschäftigten vor einer Leistungsbeurteilung sich selbst in ein
gutes, die Kollegen aber in ein negatives Licht zu rücken versuchen.
Die
französische Télécom zählte, bevor 1996 ihre Privatisierung
(gegen den Widerstand der oppositionellen Sozialistischen Partei) eingeleitet
und zu Beginn der Regierung Jospin beschlossen wurde, noch 160000
Beschäftigte. Heute sind es noch 102000, ein Drittel weniger, obwohl
zusätzlich zu den Festnetz-Anschlüssen inzwischen auch noch Handys und
Internetzugänge betreut werden müssen. Ohne Berücksichtigung der
Filialen lauten die Zahlen wie folgt: Im Stammhaus waren vor zwölf Jahren
noch 145000 beschäftigt, heute nur noch 80000. Zugleich wurden die
technischen Funktionen abgebaut und die Werbeabteilungen aufgewertet —
60000 abhängig Beschäftigte mussten, oft unfreiwillig, den Beruf
wechseln. Entsprechend wuchs der Druck auf allen Ebenen.
Als
„Bauernopfer” für die manifest gewordenen Probleme wurde am
5.Oktober die Nummer 2 in der Hierarchie des Unternehmens geschasst, Louis-
Pierre Wenes — er hat das Personalmanagementsystem mit individualisierter
Beurteilung und persönlich definierten „Zielvereinbarungen”
(als individuelle Umsetzung der Unternehmensziele) erfunden. Allerdings brauchte
er „nicht weit zu gehen”, wie die Onlinezeitung LePost.fr
sarkastisch formulierte: Zwar wurde ihm das operative Inlandsgeschäft
entzogen, doch im selben Atemzug wurde er zum Berater von Generaldirektor
Lombard ernannt. Allerdings wurde zugleich der Mobilitätszwang für
höhere Angestellte, der bislang einen Ortswechsel alle drei Jahre zwingend
vorsah, abgeschafft.
Die Telekom
steht mit der Selbstmordwelle nicht allein. Ein Bericht der Tageszeitung
LHumanité belegt, dass die Suizidrate auch unter Staatsbediensteten
im Umwelt- und Energieministerium stark angestiegen ist. Verantwortlich sei auch
hier wachsender Leistungsdruck, verbunden mit der zunehmend Vereinzelung der
Beschäftigten. Ein Gesetz vom August 2009 über die
„Mobilität im öffentlichen Dienst” entgarantiert die
Arbeitsverhältnisse nun auch der Staatsbediensteten. Hatten diese bislang
eine Jobgarantie, so entfällt diese: Wer dreimal eine Versetzung, die mit
Umzug verbunden ist, ablehnt, kann entlassen werden.
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