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Nach jahrelangem Stillstand im Konflikt um
die Rechte der Kurden war in diesem Jahr die Rede von einer
„Demokratischen Öffnung” (türkisch: demokratik
aç?l?m).
Premierminister Erdogan bezeichnete sogar einmal die Diskriminierung
ethnischer Minderheiten in der Türkei als „faschistoid”
Die liberaleren Medien transportieren große Hoffnungen und wagen sich
weit vor. So wurde die Ankunft einer unbewaffneten PKK-Friedensgruppe aus
dem Nordirak am 19. Oktober von der nationalistischen türkischen
Tageszeitung Hürriyet mit der Schlagzeile begrüßt:
„Hört auf diese Stimmen” Journalisten konnten zeitweilig
ungestraft Interviews mit Vertretern der PKK in den Guerilla-Camps im
Nordirak führen.
In der
Debatte über den Regierungsplan zur „Öffnung” am
13.November fragte der kurdische Politiker Ahmet Türk:
„Können Sie sich als gleichberechtigter Bürger fühlen,
wenn der Staat Ihnen Ihre Sprache verbietet und sogar deren Existenz
leugnet?” Vor zehn Jahren noch wäre eine solche Rede undenkbar
gewesen, jetzt erhielt Türk sogar Applaus von der Regierungsbank. Und
Regierungsvertreter werfen der nationalistischen Opposition vor, sie wolle
noch mehr Soldaten im Kampf gegen die kurdische Guerilla opfern.
Die
Opposition wirft Premierminister Erdogan „Vaterlandsverrat”
vor. Der Vorsitzende der ultranationalistischen, faschistischen MHP (Partei
der nationalistischen Bewegung), Devlet Bahçeli, entgegnete Erdogans
Vorschlägen: „Dieses Land hat vor 1000 Jahren seinen wahren
Besitzer gefunden. Sein Name ist: Die türkische
Nation."
Damit hat
Bahçeli die bisherige Staatsideologie formuliert: Um die Türkei als
spät entwickelte kapitalistische Nation zusammenzuschweißen,
wurden Ausgrenzung und Negierung der „inneren Feinde” ins
Extreme getrieben. Dieser innere Konflikt ist für die Rolle der
Türkei als regionale Macht im Mittleren Osten jedoch hinderlich
geworden, welche die Türkei versucht, mit dem Abzug der USA aus dem
Irak weiter auszubauen. Eine Einigung mit der kurdischen Regierung im
Nordirak (Südkurdistan) und eine Zerschlagung der PKK-Guerilla
wären für die türkische Regierung die bevorzugte Option.
Es hat sich
jedoch in den letzten Jahren gezeigt, dass die Guerilla militärisch
nicht zu zerstören ist. Auch viele bürgerliche Kommentatoren
argumentieren heute, für jeden getöteten Kämpfer
könnten mehrere neue gewonnen werden, deshalb müsse eine
politische Lösung gesucht werden. Die kurdische Freiheitsbewegung ist
seit der Gefangenahme ihres Führers Abdullah Öcalan 1999 nicht
geschwächt, sondern sie hat sich in ein breite zivile Bewegung
verwandelt und dadurch gestärkt. Das zeigt sich in den Wahlerfolgen
der kurdischen Partei DTP (Partei für eine demokratische Gesellschaft)
sowie in regelmäßigen Massenmobilisierungen —
beispielsweise kommen 1,5 Millionen Menschen zu Newroz (das kurdische
Neujahrsfest am 21.März) in der kurdischen Metropole Diyarbakir
zusammen. Die Bedeutung der zivilen Organisationen (Frauenbewegung, Jugend,
Kommunalverwaltungen) hat der Staat mit einer beispiellosen
Verhaftungswelle in diesem Jahr indirekt anerkannt, sie richtete sich genau
gegen diesen Teil der Bewegung. Seit April wurden mehr als 1000 kurdische
Aktivisten verhaftet, 400 von ihnen sind noch mit Anklagen wegen PKK-
Mitgliedschaft oder -Unterstützung in Haft.
Die gemäßigt islamistische Regierungspartei AKP (Partei
für Gerechtigkeit und Aufschwung) versucht, die kurdische Frage von
oben zu lösen, ohne und gegen die kurdische Bewegung. Das ist Ausdruck
einer autoritären Haltung, der kemalistische Politiker Nevzat Tandogan
formulierte sie 1944 in anderem Zusammenhang so: „Falls der
Kommunismus gebraucht wird, werden immer noch wir ihn einführen."
Die
Reformvorschläge vom 13.November waren dünn, eher ein wenig
Zuckerbrot, um mit der Peitsche zu neuen Schlägen gegen die kurdische
Bewegung auszuholen. Innenminister Atalay vermied wie stets, das Wort
„kurdisch” auch nur in den Mund zu nehmen. Er spricht lieber
von „anderen Sprachen und Dialekten” Der Berg kreiste und gebar
eine Maus:
— Private Fernseh- und Rundfunkstationen dürfen künftig 24
Stunden auf Kurdisch senden. Allerdings brauchen sie auch weiterhin eine
Erlaubnis von der äußerst restriktiven staatlichen
Aufsichtsbehörde.
— Universitäten dürfen über kurdische Sprache und
Kultur forschen und Kurdisch in Wahlfächern anbieten.
— Bewohner umbenannter Orte dürfen die Wiedereinführung
der kurdischen Gemeindenamen zumindest beantragen.
— Im
Wahlkampf sowie in den Moscheen darf Kurdisch gesprochen werden.
— Häftlinge dürfen mit ihren Angehörigen Kurdisch
reden.
Dies sind
Ansätze, die vor 25 Jahren (vor dem Beginn des bewaffneten Kampfes der
PKK) den Weg für eine andere, friedliche Entwicklung hätten
öffnen können. Heute sind sie völlig unzureichend, wie die
Internationale Initiative „Freiheit für Abdullah Öcalan
— Frieden in Kurdistan” feststellt:
"Aus
den bisherigen einseitigen Schritten der kurdischen Seite kann allerdings
nur dann ein wirklicher Friedensprozess werden, wenn der türkische
Staat die rechtliche Sicherheit vermittelt, dass der politische Einsatz
für die fundamentalen Rechte der Kurdinnen und Kurden in Zukunft nicht
strafrechtlich verfolgt, sondern zu Reformen führen wird. Erst dies
kann zu einer Transformation der bewaffneten kurdischen Opposition zu einer
ausschließlich politisch agierenden Kraft führen."
Die
kurdische Bewegung ist durch die Entwicklungen in diesem Jahr sehr
gestärkt worden, Hunderttausende kamen zusammen, um die
Friedensgruppen der PKK zu begrüßen und zu bejubeln. Gleichzeitig
geht der schmutzige Krieg in den kurdischen Gebieten weiter, der auch ein
Nervenkrieg ist. Die Erinnerung an die Kriegsgräuel der 90er Jahre ist
präsent, die Menschen haben große Angst vor einer weiteren
drastischen Verschlechterungen der Lage. Etwas Hoffnung wurde geweckt, aber
es überwiegt die Skepsis gegenüber den großen Worten
Erdogans, der von einer „Zeitenwende” spricht.
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