SoZ - Sozialistische Zeitung |
Einige Monate sind seit dem als
Präsidentschaftswahl verkleideten Staatsstreich im Iran vergangen. Es
schien, als habe sich der Sieger festigen und die Oppositionskräfte in
die Defensive drängen können.
Die
massiven regierungsfeindlichen Demonstrationen am letzten Freitag des
Ramadan und dann diejenigen anlässlich des Jahrestags der Besetzung
der US-Botschaft am 4.11.79 haben nicht nur gezeigt, dass die Opposition
noch am Leben ist, sondern auch, dass sie sich zunehmend radikalisiert. Was
auch immer in den nächsten Wochen und Monate geschehen mag — das
islamische Regime hat seine Festung verlassen und die Zugbrücke hinter
sich unwiederbringlich zerstört.
Das
iranische Volk wachte am 13.Juni auf und sah sich mit einem Regime
konfrontiert, dass fundamental verschieden war von dem am Abend zuvor. In
der Nacht, eine Stunde bevor die Wahllokale schlossen, ging die Meldung
über die offizielle Pars-Website, Ahmadinejad habe mit rund 63% der
Stimmen gesiegt, sie verschwand dann und tauchte zwei Stunden nach
Schließung der Wahllokale erneut auf. Der Betrug war Teil eines Plans,
der Wochen zuvor von den sepah pasdaran (Revolutionsgarden) ausgearbeitet
worden war. Mit einem Streich hatten sie weite Teile des klerikalen
Establishments entmachtet.
Diese
Wahlen waren das letzte Kapitel eines politischen Projekts der Pasdaran und
der Usulgaran (Prinzipalisten), das vor allem das Ziel verfolgte, das Land
ein für allemal von den vielen Fraktionen zu befreien, die die
herrschende Elite von Anfang an gelähmt haben. Nachdem sie zuvor die
Stadtparlamente und dann das nationale Parlament erobert hatten, war es
ihnen nun wichtig sicherzustellen, dass das Präsidentenamt in den
Händen der Usulgaran verbleibt. Schluss mit der Fähigkeit der
verschiedenen Fraktionen, den Wahlprozess für Manöver um Macht
und Einfluss zu nutzen, Schluss mit der zweiten Hälfte der
„Islamischen Republik”, der „Republik” Die
Revolutionsgarden und eine Handvoll Mullahs, die mehr oder weniger dem
Obersten Führer, Khamenei, verbunden sind, hatten den Boden für
ein ungehindertes „Kalifat” bereitet — oder?
Das Ausmaß des Betrugs war derart, dass das Volk explodierte. Die
Straßen Teherans wurden von Menschen überflutet, die über
die Unverfrorenheit der Ergebnisse überrascht waren. Jeder hatte ein
gewisses Maß an Betrug erwartet, aber nicht eine so offenkundige
Fälschung. Die Leute hatten die Höhe der Wahlbeteiligung und das
Vorwahlfieber registriert. In den letzten 30 Jahren hatte eine so hohe
Wahlbeteiligung stets einen höheren Anteil an Proteststimmen bedeutet.
Die Pasdaran waren wirklich geschockt, wahrscheinlich waren sie auch
überrascht. Sie hatten sich auf Proteste vorbereitet. Aber ein solche
Menschenmenge in den Straßen Teherans hätten sie sich nicht
träumen lassen. Deshalb hielten sie sich zurück, als am dritten
Tag nahezu 3 Millionen Menschen auf die Straßen gingen.
Erst als
die Proteste schrittweise ihren natürlichen Schwung verloren, griffen
sie ein und gingen scharf gegen die Demonstranten vor, bis nur noch
Demonstrationen von höchstens einigen hundert Menschen möglich
waren. In den ersten Tagen nach der Wahl war der gesamte Sicherheitsapparat
des Regimes mobilisiert. Sie hatten alle Register gezogen. Sie gingen
zunächst nicht auf Konfrontation, sondern spielten auf Zeit in der
Hoffnung, dass die Straßenproteste langsam von selbst ermüden
würden. So war es denn auch.
An dem Tag, als 3 Millionen Paar Füße über die
Straßen Teherans trampelten, riefen die reformistischen Führer
die Demonstranten auf, schweigend zu marschieren. Dabei waren in den Tagen
zuvor schon Parolen wie „Tod dem Diktator” und „Tod dem
Khamenei” zu hören gewesen — es gibt kein besseres
Beispiel für die Beschränktheit der reformistischen Bewegung. Als
Khamenei, der Oberste Führer, dem Volk sagte, es solle aufhören,
sich über ein paar Millionen Stimmen aufzuregen und nach Hause gehen,
hielten die Reformisten lieber den Mund.
Die
Entwicklung der Parolen drückte die reformistische Führung aber
zusehends an den Rand und drohte, sie zu überholen. Es fing an mit
„Was ist mit meiner Stimme geschehen?”, ging weiter mit
„Tod dem Diktator”, „Tod dem Ahmadinejad”,
„Tod dem Khamenei” bis hin zu „esteqlal, azadi, jomhuri
irani” ("Unabhängigkeit, Freiheit, Iranische Republik").
Das haben die Menschen in den Straßen gerufen, und als das nicht mehr
möglich war, nachts von den Dächern der Häuser. Der fast
heilige „Führer” wurde nicht nur Ziel von Witzen, die
Leute verlangten sogar seinen Tod. Das war seit 30 Jahren nicht
vorgekommen, und wäre für die Mehrheit der Iraner noch wenige
Monate zuvor unvorstellbar gewesen.
"Unabhängigkeit, Freiheit, Islamische Republik” lautete die
zentrale Parole der Revolution von 1979. Das war eine demokratische,
antiimperialistische Revolution, die der Illusion aufsaß, diese Ziele
seien durch ein islamisches Regime zu erreichen. Indem diese Parole
aufgegriffen und modifiziert wurde, stellten die Menschen eine klare
Verbindung zur Revolution von 1979 her, erklärten sie als unbeendet,
bekräftigten ihre demokratischen und antiimperialistischen Ziele und
verlangten nach neuem Werkzeug, um sie zu verwirklichen.
In dieser
Parole zeigen sich die Keime einer wahren Erhebung gegen die Islamische
Republik, die gleichermaßen demokratisch wie unabhängig von
ausländischem Einfluss ist. Sie arbeitete sich immer stärker in
den Vordergrund und wurde am 4.November sogar zur Parole „Na dolate
coup detat; na mennate Amerika” ("Weder Staatsstreich, noch
Stützen auf Amerika") zugespitzt. Keine Rede hier von einer
„bunten Revolution”!
Die dritte Errungenschaft war die Herstellung von Kontakten und
eines rudimentärer Skeletts unabhängiger Organisationen. Die
Teilnahme der Jugend, insbesondere der Studenten, an den Aktivitäten
in den Wahlhauptquartieren der reformistischen Kandidaten machte es
möglich, neue Bekanntschaften zu schließen, Freundschaften und
politische Beziehungen zu knüpfen, die im Zuge der
Straßendemonstrationen weiter gefestigt wurden. In einer Reihe von
Fällen wurde die Führung dieser Straßen- und
Nachbarschaftsaktionen von Linken übernommen.
Viertens: Sogar Teile der herrschenden Elite wurden gezwungen,
erstmals zuzugeben und sogar dagegen zu protestieren, dass es Prügel,
Folter und gar Vergewaltigung gab. Selbst der Sohn eines Mitglieds der
Usulgaran wurde gefoltert. Folter ist für das Regime nichts Neues und
wurde von Menschenrechtsorganisationen ausführlich dokumentiert. Die
reformistischen Führer, die heute dagegen protestieren, wissen das
sehr gut — einige haben früher selbst an Verhören
teilgenommen und der Regierung gedient, als Folter und Hinrichtung in
industriellem Ausmaß praktiziert wurden. Das Gleiche gilt auch
für Vergewaltigung, die in einem bestimmten Stadium systematisch gegen
weibliche politische Gefangene angewandt wurde. Trauernden Familien wurden
in den Jahren 1981—1983 nicht nur die Kugel überreicht, die ihre
Lieben getötet hatte (sie mussten selbst die Kosten dafür
tragen), sondern auch ein „Ehe"-Ring durch den Pasdar, der sie
vergewaltigt hatte — ein makabres Ritual.
Inzwischen
werden Männern wie Frauen vergewaltigt, um sie zu terrorisieren. Das
zuzugeben, bedeutet, dass eine weitere rote Linie überschritten wurde.
Die ethischen Ansprüche der ersten „Herrschaft Allahs auf
Erden” in der modernen Zeit liegen in Scherben.
Fünftens ist die Tatsache, dass sich die Protestbewegung im
Allgemeinen unter dem „grünen” Schirm abspielte, ein
Zeichen für die Reife des iranischen Volkes. Es gibt nicht eine
grüne Bewegung, sondern verschiedene. Am einen Ende finden wir die
Anhänger der besiegten Kandidaten, Mousavi und Karrubi, am anderen
radikale Strömungen, die das islamische Regime stürzen wollen.
Und dann gibt es die Linke. Dazwischen gibt es verschiedene Gruppierungen,
die überwiegend nicht klar definiert sind, sich noch in einem
fließenden Zustand befinden, noch keine klaren Konturen hervorgebracht
haben. Die Protestler hält zusammen, was sie nicht wollen. Was sie
wollen, schält sich erst heraus, in unterschiedlichem Tempo und
manchmal widersprüchlich. Deshalb vertreten manchmal dieselben
Individuen konträre Ansichten.
Schließlich hat die Fähigkeit, alle modernen
Kommunikationsmittel einzusetzen, die Bewegung in ihren Einzelheiten rund
um die Welt getragen. Blogs und Internetseiten haben die Welt im
Minutentakt auf dem neuesten Stand gehalten. Eine sich mit dem Internet
auskennende Jugend — keineswegs nur aus der großstädtischen
oberen Mittelschicht — hat alle Bemühungen, den
Informationsfluss zu blockieren, ins Leere laufen lassen. Zahllose Server
im Ausland wurden genutzt, um die Blockaden des Regimes zu umgehen. Die
iranische Protestbewegung wurde wahrhaftig international.
Diese Errungenschaften wurden mit Blut bezahlt. Mehr als hundert
Menschen wurden getötet, Tausende geschlagen, gefoltert und
vergewaltigt. Viele wurden gebrochen und gezwungen, im Fernsehen absurde
Geständnisse über Beziehungen zu ausländischen Botschaften
und Agenten abzulegen. Geständnisse wie das von Said Hajjarian, ein
früherer Verhörbeamter und ein Theoretiker der reformistischen
Bewegung, grenzten ans Komische, als er ausländische, an den
Universitäten benutzte, Lehrbücher für die Korruption der
Jugend verantwortlich machte.
Und jetzt
das erste Todesurteil. Der Preis ist hoch. Aber ohne die Brutalität
kleinreden zu wollen, ist er doch viel geringer als den, den wir 1979 beim
Angriff auf Kurdistan, bei der blutigen Niederschlagung der Linken und der
Mojahedin 1981—1983 und beim Massaker an Tausenden von politischen
Gefangenen zum Ende des Iran-Irak-Kriegs 1988 zahlen mussten. Das liegt
auch daran, dass die reformistischen Führer für die radikalen
Elemente einen gewissen Schutzschirm darstellten.
Die
Reformisten haben aber auch große Fehler begangen: Ihre Aufforderung
an die Millionen Demonstranten zu schweigen, wo sie durch ihre schiere Zahl
dem Regime einen ernsten Schlag hätten versetzen können, war ein
gewaltiger Fehler; die tagtägliche Wiederholung der Demonstrationen
trotz abnehmender Zahl und eines zunehmend selbstbewussten und brutalen
Sicherheitsapparats; das Bestehen auf Parolen, die nur die Wahlen zum
Inhalt hatten — all das schwächte die Fähigkeit der
Wahlproteste, sich mit anderen sozialen Bewegungen — z.B. der
Frauenbewegung oder den nationalen Bewegungen — zu verbinden. Es
hätte Sinn gemacht, Parolen in den Vordergrund zu stellen, die die
demokratischen Forderungen der Völker und Nationen des Iran
aufgreifen. Die Gelegenheit, verschiedenen soziale Bewegungen anzusprechen,
vor allem auch die Barackensiedlungen und die jugendlichen Proteste in den
ärmeren Stadtvierteln im Süden Teherans, war einzigartig.
Am
kritischsten war das Versäumnis, sich mit der schnell eskalierenden
Arbeiterbewegung zu vereinigen. Die Arbeiter befanden sich zu der Zeit
überall im Land im Streik, machten Sit-Ins, nahmen Geiseln,
führten Besetzungen durch, Straßenblockaden und Demonstrationen.
Denn die Wirtschaft des Landes ist im freien Fall, die Inflation nimmt
rasant zu. Hunderttausende Arbeiter werden entlassen oder sehen ihre Jobs
unmittelbar bedroht; sie werden durch Zeitarbeiter ersetzt.
Schließlich blieb der Protest vorwiegend auf die Hauptstadt Teheran
begrenzt. Es hat zwar ähnliche Proteste in Isfahan, Shiraz, Mashad, in
Kurdistan und anderen Gebieten gegeben, aber sie waren dort weniger
groß.
Was wir vor
uns haben, ist weniger eine Bewegung als vielmehr deren Keime. Was fehlt,
ist eine entschlossene Organisation. Und was auch fehlt, ist eine
vereinigte Linke mit einer klaren Vorstellung über ihre Ziele, einer
klaren Strategie und einem Verständnis der notwendigen taktischen
Schritte. So etwas wie diese Proteste ist ein Moment, der nur einmal in
einer Generation kommen mag.
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