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Seit der liberalen Schocktherapie Anfang der
90er Jahr gilt Polen als Musterschüler des Kapitalismus. Doch die
Grenze zwischen Boom und Bankrott verläuft, wie die baltischen Staaten
gezeigt haben, fließend.
Als im
September das polnische Amt für Statistik (GUS) die Wirtschaftszahlen
für das Jahr 2008 vorstellte, atmete die liberale Regierung von Donald
Tusk (PO) auf. Bestätigte doch ein Wachstum des Bruttoinlandsproduktes
von 5% die Mär von der Überlegenheit Polens gegenüber den
gescheiterten „baltischen Tiger-Staaten”
Doch die
soziale Realität hat in der Finanzkrise das positive thinking der
Neoliberalen längst eingeholt. Nach der Schließung der Werft in
Szczecin (Stettin) mussten auch die chemischen Betriebe in Police die
Produktion herunterfahren. Gleichzeitige wurden die Werften in Gdynia
geschlossen, die Werft in Gdansk nur rumpfhaft erhalten.
Dies
löste einen Dominoeffekt aus, der sich insbesondere bei H.Cegielski in
Poznan bemerkbar macht. Es spricht Bände, dass die ehemalige Lenin-
Werft, die Geburtstätte der Solidarnosc, nur aus politischen
Erwägungen erhalten wurde, um einen größeren Eklat zu
vermeiden; die Feierlichkeiten zu den ersten freien Wahlen vom 4. Juni 1989
in diesem Sommer hatten aus der Arbeiterstadt Gdansk auf die
königliche Burg Wawel in Krakau verlegt werden müssen.
Anfang
Oktober verloren mehr als 500 Beschäftigte des traditionsreichen
Cegielski-Werks, das u.a. Schiffsmotoren herstellte, ihre Arbeit. Wenn
Polen keine Schiffe baut, dann brauchen wir auch keine Motoren, heißt
es lapidar. Den Gewerkschaftern, die bis zum letzten Moment um den Erhalt
der Arbeitsplätze kämpften — die Baumaschinenfabrik, an
deren Firmengeschichte auch die Arbeitergeschichte abgelesen werden kann,
wurde 1846 gegründet — kämpften ist die Müdigkeit
anzusehen.
Jarek
Urbanski, Aktivist der kämpferischen Vereinigung
„Arbeiterinitiative” (IP — Inicjatywa Pracownicza), kann
seinen Unmut kaum verbergen. Lange Pausen zertrennen seine Sätze, wenn
er von der Solidarität der Belegschaft mit ihren entlassenen
Arbeitskollegen spricht.
"In
manchen Brigaden, in denen die Hälfte zur Entlassung vorgesehen war,
hat die andere Hälfte aus Protest auch gekündigt. Wir wollten die
Entlassungen juristisch anfechten, doch die Entlassenen sagten, wir sollten
keinen Widerspruch einlegen, weil dann lediglich die anderen an unsere
Stelle treten müssten. Im Betrieb herrscht praktisch ein
Streikzustand. Die Arbeiter versammeln sich zu Gruppen in den
Montagehallen. Sie diskutieren über die Situation. Die Meister und die
Betriebsleitung halten sich zurück und fordern sie nicht auf, an den
Arbeitsplatz zurückzukehren. Sie haben wohl Angst, dass sie noch
größere Proteste provozieren könnten, erläutert
Urbanski. Unter den 500 gefeuerten Arbeitern befindet sich die Hälfte
unserer Mitglieder”, erklärt er.
Diese
hatten großen Einfluss auf den einst größten polnischen
Wagon- und Lokomotivenhersteller. Ihr Erfahrungsschatz im Arbeitskampf
wurde auch in anderen Branchen geschätzt und entwickelte selbst in
anderen Regionen Polens enorme Kraft.
Der einstige Betrieb stellte vor der Wende noch 25000 Arbeiter ein.
Heute ist der größte Teil der durch die Schocktherapie von
Balcerowicz auf 2500 Arbeiter geschrumpften Belegschaft über 40 und 50
Jahre alt. Am Montag, den 5.Oktober, wurden noch einmal ein halbes Tausend
dieser erfahrenen Arbeiter auf die Straße gesetzt.
Das macht
einen qualitativen Unterschied aus, sagt Urbanski, der seit Anfang der 80er
politisch aktiv ist. Vergleicht man die Belegschaft mit der eines anderen,
in der Region Poznan in West-Polen angesiedelten, Betriebs, des deutschen
Autoherstellers VW, so werden einem die Unterschiede der modernen
Arbeiterklasse deutlich.
Während die Arbeiterinitiative IP in den Cegielski-Werken mit Hilfe
von Flugblättern und gedruckten Newslettern kommuniziert, verkehrt sie
mit den Angestellten des VW-Werks, die kaum über 30 Jahre alt sind,
maßgeblich über Internet. Es sind junge Menschen, die oft auch
eine bessere Bildung genossen haben, Studenten, die in dem Betrieb jobben,
oder ausgebildete Fachkräfte. Doch sie haben noch nie an Protesten,
Streiks oder Widerstand teilgenommen.
Die
Unterschiede in der Klassenzusammensetzung machen auch andere
Kampfstrategien erforderlich. Insbesondere angesichts der
Veränderungen im Produktionsregime nach 1989. „Wir haben in den
Jahren 2005/06 vergeblich versucht, einen legalen Streik
durchzuführen”, erzählt Urbanski. „Erst als wir an
die genuinen Traditionen der Arbeiterkämpfe des Cegielski-Betriebes
anknüpften, kam es 2007 zu einem faktischen Streik durch massenhafte
Arbeitsniederlegung."
Dafür
wurde der Betriebsratsvorsitzende der Inicjatywa Pracownicza, Marcel Szary,
zu einer Geldstrafe verurteilt. Szary gehört zu jenen engagierterten
Gewerkschaftern, die seit den 80er Jahren in dem Betrieb aktiv sind. Er
trat in den 80er Jahren der nach der Ausrufung des Kriegszustandes in die
Illegalität getriebenen Untergrund-Solidarnosc bei. Er kämpfte
für die Legalisierung der Solidarnosc und die Arbeiterrechte in der
Volksrepublik Polen.
Doch erst
in Zeiten der „kapitalistischen Demokratie” hat ihn ein Gericht
für seine politische Haltung verurteilt. Das Gericht sah es als
erwiesen an, dass er der Anführer und Organisator wilder Streiks, sog.
„Platten”, war, bei denen sich die Belegschaft an
unterschiedlichen Plätzen auf dem Betriebsgelände zu
Gesprächen versammelt.
Die
Tradition solcher Belegschaftsversammlungen reicht mindestens bis ins Jahr
1956 zurück, als im Zuge der Ausschreitungen in Poznan ca. 50 Personen
erschossen oder durch Misshandlungen umkamen. Nicht ein legaler Streik
also, sondern erst die Versammlung als „Platte” mobilisierte
die Belegschaft.
Anders in
den VW-Werken. Als das kommerzielle Internetportal komentuj.pl ein
Diskussionsforum zu den neuen VW-Modellen ins Netz stellte, wurde dieses
innerhalb kurzer Zeit von VW-Beschäftigten zur Kritik an den
Produktionsbedingungen benutzt. Auch Arbeiter anderer Betriebe beteiligten
sich mit Tausenden von Postings an den dort geführten Debatten. Sie
stritten leidenschaftlich, tauschten sich aus, politisierten sich
gegenseitig.
Die Leitung
des VW-Konzerns sah sich gezwungen, das Portal zu schließen. Eine
ähnliche Rolle spielte das Internet bereits Ende 2006 bei dem wilden
Streik bei der polnischen Post. Die Angestellten konnten über spontan
entstehende Diskussionsforen erfahren, wo aktuell gestreikt wird, konnten
sich austauschen und Aktionen vorbereiten. Urbanski sieht darin nicht eine
neue Form des Kampfes, sondern vielmehr neue Orte des Widerstandes, die von
der neuen Klassenzusammensetzung der von vielen längst ad acta
gelegten Arbeiterklasse zeugen.
Die
Kampfformen zeigen auch, dass Widerstand gegen das Kapital, wenn auch nicht
außerhalb des Betriebs, so doch außerhalb der Gewerkschaften, auf
gesellschaftlicher Ebene, möglich ist. Von den großen
Gewerkschaftszentralen fühlen sich die Arbeiter ohnehin zunehmend
nicht mehr vertreten. Von den einst 10 Millionen Mitgliedern und
Sympathisanten der Gewerkschaft Solidarnosc im Jahre 1980/81 kann diese
heute nur noch ca. 750.000 vorweisen, die postkommunistische OPZZ nur
700.000.
Diese Lücke füllen heute kleine, aber kämpferische
Gewerkschaften wie die Inicjatywa Pracownicza, oder mittelgroße wie
die Sierpien 80. Beide sehen ihre Rolle nicht, wie die unter
Mitgliederschwund leidenden deutschen Gewerkschaftszentralen, in der
Förderung nordamerikanischer Organizingkonzepte, um damit auf
Mitgliederfang gehen, sondern vielmehr in der Politisierung und
Radikalisierung der Belegschaften und ihrer Unterstützung bei der
Entschleierung des Antagonismus zwischen Kapital und Arbeit. Sie bauen
dabei mehr auf jene spontanen Protestmomente, bei denen die Arbeiter sich
in selbstverwalteter Form die Produktionsmittel wieder aneignen. Dies sind
die Orte des neuen Widerstands.
Trotz
seines Unbehagens will Urbanski deshalb den verlorenen Kampf um die
Arbeitsplätze bei Cegielski nicht gänzlich als Misserfolg werten.
„Die Solidarität der Belegschaft beweist, dass in den Menschen
etwas passiert ist. Ich glaube, dass dies in kommenden Arbeitskämpfen
Wirkung zeigt. Manchmal ist es so, dass ein gewonnener Kampf
schließlich eine Niederlage wurde und eine Niederlage sich am Ende
doch als Sieg entpuppt."
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