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SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Dezember 2009, Seite 19

"Wir arbeiten, so gut wir können, und ihr regiert, so gut ihr könnt"

Gespräch mit DDR-Oppositionellen, die nicht im Kapitalismus landen wollten

— Teil III

Die Redaktionen von express und SoZ haben einen gemeinsamen Fragekatalog erarbeitet, der von sieben ehemaligen DDR-Bürgerinnen und -Bürgern aus dem Umkreis der Vereinigten Linken, des Neuen Forums und der Initiative Unabhängiger Gewerkschafter beantwortet wurde. In SoZ 10/09 ging es um den Anspruch der DDR und wie die Menschen zu ihr standen, in SoZ 11/09 um die Gründe des Zusammenbruchs.
In dieser Ausgabe fragen wir nach der Situation in den Betrieben.

Kurz nach der Wende gab es einige bekannte Auseinandersetzungen (z.B. um Bischofferode), in denen Belegschaften sich gegen ihre Abwicklung zur Wehr setzten. Im Normalfall haben die Werktätigen jedoch darauf gesetzt, dass die Kapitalisten aus dem Westen die Betriebe modernisieren und ihnen eine Zukunft bieten. Kann man daraus schließen, dass das erklärte Volkseigentum den Produzenten wenig galt? Wie war das Verhältnis der Beschäftigten zu ihren Betrieben? Gab es 1989 innerhalb der Belegschaften noch oppositionelle Traditionen der Arbeiterbewegung, die die DDR in einem sozial-emanzipatorischen Sinne hätten verändern können, oder waren diese Traditionen schon zerstört?

Bernd Gehrke: Einer der entscheidenden Faktoren war die Vernichtung aller autonomen Traditionen der Arbeiterbewegung in den Belegschaften durch die SED. Ganz anders als 1953 stand die politisch atomisierte Arbeiterschaft 1989 deshalb vor einem völligen Neuanfang. Es fehlte jede Tradition und jede praktische Erfahrung einer kollektiven Selbstverwaltung als Voraussetzung für eine Übernahme der Betriebe durch die Belegschaften. Das hätte man ab 1989 neu lernen müssen.Das „Volkseigentum” war auch deshalb eine hohle Phrase, weil die SED eine Selbstorganisation der Beschäftigten bereits im Ansatz unterdrücke. Zudem gab es einen enormen Modernisierungsbedarf, der unter den gegebenen Umständen kaum anders als durch westliches Kapital hätte befriedigt werden können.

Sebastian Gerhardt: Die entscheidenden betrieblichen Konflikte entwickelten sich nach dem Beitritt dort, wo — wie in Bischofferode — die Belegschaften davon ausgingen, eine marktwirtschaftliche Chance zu haben. Das waren aber Ausnahmen. Insgesamt gab es an der geringeren Konkurrenzfähigkeit der DDR-Wirtschaft keinen Zweifel. Und die Kolleginnen und Kollegen konnten an ihrem Arbeitsplatz sehen, woran das lag. Wer aber will eine marode Bude in Selbstverwaltung übernehmen? Es hat dafür wohl nicht an Traditionen gefehlt, sondern an Investitionsmitteln.

Renate Hürtgen: Diese Frage bezieht sich auf unterschiedliche Zeiten, sie spricht das Verhalten der „Werktätigen” im Herbst 1989 an wie auch 1993, wo es massive Streiks und Betriebsbesetzungen gab, Bischofferode ist das beeindruckendste Beispiel. Das Verhalten in den Betrieben war sehr unterschiedlich: 1989 zielten die Aktionen betrieblicher Basisaktivisten darauf ab, die alten Herrschaftsstrukturen zu zerschlagen.
Es galt, die Dominanz der SED zu beseitigen, die militärischen Einrichtungen und die Staatssicherheit aus den Betrieben zu verweisen. Alte Führungskräfte wurden abgesetzt und in Ansätzen Selbstvertretungsorgane gebildet. Vom „Westen” noch keine Rede! Höchstens in Form einer Bedrohung, denn einige Staatsunternehmen begannen den Ausverkauf schon auf eigene Faust. Unter den Aktiven herrschte die Haltung vor: Jetzt schmeißen wir den Laden!
Spätestens seit dem Sommer 1990 waren die Situation und damit auch das Verhalten der Belegschaften ganz andere. Die Treuhand verscherbelte die Betriebe, Massenentlassungen bzw. Kurzarbeit wurden Alltag. Die Treuhand, deren Besitz nun das gesamte Staatsvermögen war, wurde zu einer realen Bedrohung.
Die große Hoffnung war, einen seriösen Investor zu finden, der Arbeitsplätze erhielt und das Werk gut weiterführte. Letztlich war dies nur die massenhafte Vorwegnahme einer Entwicklung, die nun auch im Westen Praxis ist. Das Verhalten der Belegschaften heute ähnelt dem der Ostbelegschaften nach 1990: Sie wollen ihre Arbeitsplätze, „ihren Standort” erhalten.

Silvia Müller: Vor Aufruhr in den Betrieben, gar einem Generalstreik, hatte die herrschende Politbürokratie 1989 wohl die größte Sorge, denn die Arbeiter in den VEBs hätten das ganze Land lahm legen und viel mehr Druck ausüben können als Straßendemonstrationen. Beim sogenannten Volkseigentum handelte es sich ja eigentlich um Staatseigentum, und da viele den Staat nicht oder nicht mehr als den ihren ansahen, behandelten sie auch nicht das Volkseigentum als Eigentum des Volkes.
Die wichtigste Forderung beim Aufbruch in den Betrieben hieß: „Wir wollen nicht weiter von oben dirigiert und organisiert werden.” Werkleiter, die sich besonders schnell auf die neuen Verhältnisse umgestellt hatten und eilig Verhandlungen mit potentiellen Westpartnern für Joint Ventures führten, wurden zum Rücktritt aufgefordert.

Klaus Wolfram: Es war leider die durchschnittliche Erfahrung der Arbeiter, dass „Unsere” die Betriebe nicht grundlegend zu modernisieren vermögen. Diese Erfahrung nahm ab Dezember 1989 einen politischen Ausdruck an, sei es als passive Zuschauerhaltung oder als aktives Eintreten für die Rekapitalisierung der Betriebe.

Welche Bedeutung hatten die Betriebe gesellschaftlich und für die Menschen in der DDR? Was kann man über die Bewusstseinslage der Belegschaften in der DDR, 1989 und dann danach sagen? Was hieß eigentlich Klasse in der DDR?

Sebastian Gerhardt: Was in der DDR offiziell Klasse hieß und zur Grundlage praktischer Politik gemacht wurde, darüber haben ihre Kabarettisten selbst auf offiziellen Bühnen manchen Witz gemacht. Tatsächlich war es nicht soviel anders als in anderen modernen Gesellschaften: Es gab soziale Gruppen, deren soziale Ungleichheit durch die Stellung im Arbeitsprozess definiert wurde und im Prozess der gesellschaftlichen Reproduktion systematisch erhalten blieb. Selbst die DDR-Soziologen haben in den 70er und 80er Jahren eine zunehmende Selbstreproduktion der Klassen und Schichten festgestellt. Die Mobilisierung von proletarischen Kadern zur Besetzung der Kommandohöhen der Wirtschaft war vorbei.
Das daraus resultierende Selbstverständnis der Arbeitenden hat einer von ihnen klassisch, in einer m.E. auch für die DDR gültigen Weise während der berühmten Diskussion mit Gierek und Jaroszewicz auf der Werft in Szczecin 1971 so ausgedrückt: „Wir werden arbeiten, so gut wir können, und Ihr regiert, so gut Ihr könnt."

Renate Hürtgen: Tatsächlich scheint mir die Frage nach der 1945 mit Errichtung des stalinistischen Staates „abgebrochenen” Arbeiterbewegungstradition zentral. Diese „verstaatlichte Arbeiterbewegung”, die damit per definitionem keine Bewegung mehr war, sollte folgenreich sein für den Zustand der Gesellschaft und den Zustand der Arbeiter in der DDR. Meiner Meinung nach hatte die fehlende Praxis einer Bewegung einen erheblichen Anteil daran, dass sich Atomisierung, Privatisierung und eine sprichwörtliche Nischenkultur unter Arbeitern und Angestellten in der DDR ausbreiteten.
In den Betrieben arbeitete eine Generation, die noch nie einen Streik mitgemacht hatte. Sie kannte nur einen (erfolgreichen) Weg zur Durchsetzung eines eigenen Interesses: die individuelle, nichtöffentlich mündlich oder schriftlich vorgetragene Bitte an die Obrigkeit.

Silvia Müller: In der DDR gab es keine Arbeitslosigkeit und nahezu Vollbeschäftigung. Der Arbeitsplatz war nicht nur der Ort, an dem man seinen Lebensunterhalt verdiente, er bot die Möglichkeit für Austausch von Informationen und Erfahrungen, für Kommunikation und für viele bedeutete er, trotz aller Einschränkungen, auch mehr oder weniger Integration in ein Kollektiv und dessen Anerkennung.
Hochqualifizierte Arbeiter und Angestellte wollten eigentlich ihr Wissen und Können für ihre Betriebe einbringen, scheiterten und resignierten aber zunehmend an zentralistischen bürokratischen Strukturen, am ewigen Material- und Ersatzteilmangel, an schrottreifen Maschinen und den allgemeinen desolaten Zuständen.
In solchem, oft zermürbenden Arbeitsalltag, im täglichen Kampf um die Planerfüllung unter katastrophalen Bedingungen erlebten sich die Arbeiter wohl nicht als Teil der so propagierten „herrschenden Klasse”, sondern öfter in einer Kluft zwischen Oben und Unten.
Daran dürfte sich bis heute nicht viel geändert haben, denn in der Bundesrepublik ist das Recht auf Arbeit nicht als Menschenrecht anerkannt. Und 95% des Volkseigentums der DDR gingen an westliche Besitzer über, was manch Betroffener als entschädigungslose Enteignung um den Preis der eigenen Arbeitslosigkeit interpretiert.
Gerd Szepansky: Vieles war auf Selbstbetrug aufgebaut. „Klassen” waren künstliche Gebilde, SED-Terminologie. In der Realität waren alle mehr oder wenig gleich — bis auf die höheren Parteikader oder andere Privilegierte.

Welche Rolle spielten die Betriebe in den Umbrüchen 1989? Gab es eine betriebliche Opposition? Wieso gab es 1989 so wenige Streiks, wie kam es im Herbst 1989 dann doch zur der Forderung nach einem Generalstreik, und warum kam dieser nicht zustande? Was ist aus der IUG geworden?

Bernd Gehrke: Eine betriebliche Opposition entstand erst im Herbst 1989 als Teil der Demokratiebewegung. Die Entwicklung in den Betrieben war bestimmt von den politischen Entwicklungen, die sich aber zunächst vor allem auf Straßen oder in Kirchen vollzogen. Danach erreichte die Revolution die Betriebe selbst und die Institutionen des Parteistaates wurden beseitigt: die hauptamtliche SED-Strukturen oder die Parteimilizen in den Betrieben.
Um die Jahreswende 1989/1990 gab es zunehmend Streiks, vor allem Warnstreiks. Sie hatten sozialen und politischen Charakter und bildeten das Drohpotenzial in den Auseinandersetzungen mit den Überresten des Parteistaates.
Die Forderung nach einem Generalstreik blieb aus verschiedenen Gründen minoritär, vor allem, weil das Gros der oppositionellen Organisationen dem betrieblichen und erst recht dem Arbeitermilieu sehr fremd gegenüber stand und die Bedeutung der Betriebe für die politischen Auseinandersetzungen nicht erkannte.
Die „Initiative für Unabhängige Gewerkschaften”, die sich für eine neue Gewerkschaft von unten jenseits der FDGB-Strukturen einsetzte, war eine Minderheit in den Betrieben. Das Gros der Belegschaften blieb im FDGB, um die finanziellen Ansprüche nicht zu verlieren, wählte demokratisch neue Betriebliche Gewerkschaftsleitungen und bildete Betriebsräte.
Mit dem Einmarsch der Westgewerkschaften trat das Gros der Beschäftigten in diese über. Die übernahmen nun das Zepter. In mehreren Schritten und im Bündnis mit anderen Überresten oppositioneller Betriebsaktivisten aus der Vereinigten Linker und dem Neuem Forum gingen Ende 1990 Teile der IUG in das spätere Bündnis Kritischer Gewerkschafter Ost/West über — das gab es bis 1998.

Gerd Szepansky: In meinem Umfeld (Karl-Marx-Stadt, heute Chemnitz) spielten die Betriebe eine wichtige Rolle. Dort wurden Unterschriften für die Zulassung des Neuen Forums gesammelt. Viele hauptamtliche Partei- und Gewerkschaftsfunktionäre wurden abgesetzt und es gab großes Interesse an betrieblicher Mitbestimmung. Der Aufruf zum Generalstreik war die Einzelaktion eines Mitgliedes unseres Sprecherrates. Die anderen Mitglieder — auch ich — fanden diese nicht abgesprochene Initiative überzogen und sprachen uns dagegen aus. Heute sehe ich das allerdings etwas anders, aber hinterher ist man manchmal klüger.

Bernd Gehrke
Jg.1950, Politökonom, aufgewachsen in Ostberlin, Linksoppositioneller seit den 70er Jahren. 1989 arbeitete er als Ökonom im Möbelkombinat Berlin, war Mitbegründer der Vereinigten Linken sowie der Grünen Liga. Heute ist er als Zeithistoriker und in der politischen Bildung tätig.

Sebastian Gerhardt
Jg.1968, Wehrdienst bis Januar 1990, dann Krankenträger im Kreiskankenhaus Neustrelitz. Studium der Philosophie und Mathematik. Herbst ‘89: VL. Verdient heute sein Geld mit Ausstellungsführungen in der „Topographie des Terrors” und im „Deutsch-Russischen Museum Berlin-Karlshorst"; Mitglied des Vorstands vom „Haus der Demokratie”

Renate Hürtgen
Jg.1947, Ostberlin, Kulturwissenschaftlerin, heute als Zeithistorikerin tätig, Themen: Arbeiter und Angestellte in der DDR, Gewerkschaften, betriebliche Wende. Seit 1987 in der Opposition, gründete 1989 die Initiative für eine unabhängige Gewerkschaftsbewegung, seitdem in der betrieblichen und sozialen Bewegung aktiv.

Thomas Klein
Jg.1948, Berlin/DDR, Mathematiker. Linke Opposition seit Ende der 60er Jahre, tätig in den 70er Jahren an der Humboldt-Uni Berlin und im Zentralinstitut für Wirtschaftswissenschaften der Akademie der Wissenschaften der DDR. In den 80er Jahren (während des Berufsverbots nach politischer Haft) als Preisbearbeiter im Möbelkombinat Berlin beschäftigt. 1989 Mitbegründer der Vereinigten Linken, heute tätig als Zeithistoriker.

Silvia Müller
Geb. Teutloff, Jg.1953, Ostberlin. Vater Polizist, Mutter Sachbearbeiterin. Studium der Kulturwissenschaft an der HU Berlin, Redaktionsarbeit im Verlag Junge Welt, dann verschiedene andere Tätigkeiten; 1981 erste Kontakte zur polnischen Gewerkschaft Solidarnosc; ab Sommer 1981 aktiv in der Friedensbewegung; 1984 Disziplinarmaßnahmen, die auf Berufsverbot hinausliefen; 1986 Mitbegründerin der Menschenrechtsgruppe Gegenstimmen; Kontakte zu oppositionellen rumäniendeutschen Schriftstellern, bis März 1990 VL-Vertreterin am Zentralen Runden Tisch; seit 1994 verschiedene Honorartätigkeiten, u.a. für die Stiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur.

Gerd Szepansky
Jg.1950, Dreher, aufgewachsen in Karl-Marx-Stadt. 1989 als Dreher in einem Rationalisierungsmittelbau tätig, Mitglied des Bezirkssprecherrats des „Neuen Forum” Derzeit Ver.di-Gewrkschaftssekretär in der Freistellungsphase der Altersteilzeit.

Klaus Wolfram
Jg.1950. Studium der Philosophie und Ökonomie in Ost-Berlin; Gründung einer oppositionellen Gruppe in den 70er Jahren; Arbeit am Institut für Internationale Politik und Wirtschaft bis zur Auflösung einer oppositionellen Gruppe durch das MfS. Danach Fabrikarbeit. Zusammenarbeit mit verschiedenen oppositionellen Gruppierungen; Lektor; 1989 im Neuen Forum aktiv, u.a. am Runden Tisch; Mitbegründer des BasisDruck- Verlags; 1990—1992 Herausgeber der Wochenzeitung Die Andere; November 1990 Mitbegründer der Robert-Havemann-Gesellschaft; 1994 Redakteur der Zeitschrift Sklaven.


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