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Kurz nach der Wende gab es einige bekannte Auseinandersetzungen
(z.B. um Bischofferode), in denen Belegschaften sich gegen ihre Abwicklung
zur Wehr setzten. Im Normalfall haben die Werktätigen jedoch darauf
gesetzt, dass die Kapitalisten aus dem Westen die Betriebe modernisieren
und ihnen eine Zukunft bieten. Kann man daraus schließen, dass das
erklärte Volkseigentum den Produzenten wenig galt? Wie war das
Verhältnis der Beschäftigten zu ihren Betrieben? Gab es 1989
innerhalb der Belegschaften noch oppositionelle Traditionen der
Arbeiterbewegung, die die DDR in einem sozial-emanzipatorischen Sinne
hätten verändern können, oder waren diese Traditionen schon
zerstört?
Bernd Gehrke: Einer der entscheidenden Faktoren war die
Vernichtung aller autonomen Traditionen der Arbeiterbewegung in den
Belegschaften durch die SED. Ganz anders als 1953 stand die politisch
atomisierte Arbeiterschaft 1989 deshalb vor einem völligen Neuanfang.
Es fehlte jede Tradition und jede praktische Erfahrung einer kollektiven
Selbstverwaltung als Voraussetzung für eine Übernahme der
Betriebe durch die Belegschaften. Das hätte man ab 1989 neu lernen
müssen.Das „Volkseigentum” war auch deshalb eine hohle
Phrase, weil die SED eine Selbstorganisation der Beschäftigten bereits
im Ansatz unterdrücke. Zudem gab es einen enormen
Modernisierungsbedarf, der unter den gegebenen Umständen kaum anders
als durch westliches Kapital hätte befriedigt werden können.
Sebastian Gerhardt: Die entscheidenden betrieblichen Konflikte
entwickelten sich nach dem Beitritt dort, wo — wie in Bischofferode
— die Belegschaften davon ausgingen, eine marktwirtschaftliche Chance
zu haben. Das waren aber Ausnahmen. Insgesamt gab es an der geringeren
Konkurrenzfähigkeit der DDR-Wirtschaft keinen Zweifel. Und die
Kolleginnen und Kollegen konnten an ihrem Arbeitsplatz sehen, woran das
lag. Wer aber will eine marode Bude in Selbstverwaltung übernehmen? Es
hat dafür wohl nicht an Traditionen gefehlt, sondern an
Investitionsmitteln.
Renate Hürtgen: Diese Frage bezieht sich auf
unterschiedliche Zeiten, sie spricht das Verhalten der
„Werktätigen” im Herbst 1989 an wie auch 1993, wo es
massive Streiks und Betriebsbesetzungen gab, Bischofferode ist das
beeindruckendste Beispiel. Das Verhalten in den Betrieben war sehr
unterschiedlich: 1989 zielten die Aktionen betrieblicher Basisaktivisten
darauf ab, die alten Herrschaftsstrukturen zu zerschlagen.
Es galt,
die Dominanz der SED zu beseitigen, die militärischen Einrichtungen
und die Staatssicherheit aus den Betrieben zu verweisen. Alte
Führungskräfte wurden abgesetzt und in Ansätzen
Selbstvertretungsorgane gebildet. Vom „Westen” noch keine Rede!
Höchstens in Form einer Bedrohung, denn einige Staatsunternehmen
begannen den Ausverkauf schon auf eigene Faust. Unter den Aktiven herrschte
die Haltung vor: Jetzt schmeißen wir den Laden!
Spätestens seit dem Sommer 1990 waren die Situation und damit auch
das Verhalten der Belegschaften ganz andere. Die Treuhand verscherbelte die
Betriebe, Massenentlassungen bzw. Kurzarbeit wurden Alltag. Die Treuhand,
deren Besitz nun das gesamte Staatsvermögen war, wurde zu einer realen
Bedrohung.
Die
große Hoffnung war, einen seriösen Investor zu finden, der
Arbeitsplätze erhielt und das Werk gut weiterführte. Letztlich
war dies nur die massenhafte Vorwegnahme einer Entwicklung, die nun auch im
Westen Praxis ist. Das Verhalten der Belegschaften heute ähnelt dem
der Ostbelegschaften nach 1990: Sie wollen ihre Arbeitsplätze,
„ihren Standort” erhalten.
Silvia Müller: Vor Aufruhr in den Betrieben, gar einem
Generalstreik, hatte die herrschende Politbürokratie 1989 wohl die
größte Sorge, denn die Arbeiter in den VEBs hätten das ganze
Land lahm legen und viel mehr Druck ausüben können als
Straßendemonstrationen. Beim sogenannten Volkseigentum handelte es
sich ja eigentlich um Staatseigentum, und da viele den Staat nicht oder
nicht mehr als den ihren ansahen, behandelten sie auch nicht das
Volkseigentum als Eigentum des Volkes.
Die
wichtigste Forderung beim Aufbruch in den Betrieben hieß: „Wir
wollen nicht weiter von oben dirigiert und organisiert werden.”
Werkleiter, die sich besonders schnell auf die neuen Verhältnisse
umgestellt hatten und eilig Verhandlungen mit potentiellen Westpartnern
für Joint Ventures führten, wurden zum Rücktritt
aufgefordert.
Klaus Wolfram: Es war leider die durchschnittliche Erfahrung der
Arbeiter, dass „Unsere” die Betriebe nicht grundlegend zu
modernisieren vermögen. Diese Erfahrung nahm ab Dezember 1989 einen
politischen Ausdruck an, sei es als passive Zuschauerhaltung oder als
aktives Eintreten für die Rekapitalisierung der Betriebe.
Welche Bedeutung hatten die Betriebe gesellschaftlich und für
die Menschen in der DDR? Was kann man über die Bewusstseinslage der
Belegschaften in der DDR, 1989 und dann danach sagen? Was hieß
eigentlich Klasse in der DDR?
Sebastian Gerhardt: Was in der DDR offiziell Klasse hieß
und zur Grundlage praktischer Politik gemacht wurde, darüber haben
ihre Kabarettisten selbst auf offiziellen Bühnen manchen Witz gemacht.
Tatsächlich war es nicht soviel anders als in anderen modernen
Gesellschaften: Es gab soziale Gruppen, deren soziale Ungleichheit durch
die Stellung im Arbeitsprozess definiert wurde und im Prozess der
gesellschaftlichen Reproduktion systematisch erhalten blieb. Selbst die
DDR-Soziologen haben in den 70er und 80er Jahren eine zunehmende
Selbstreproduktion der Klassen und Schichten festgestellt. Die
Mobilisierung von proletarischen Kadern zur Besetzung der
Kommandohöhen der Wirtschaft war vorbei.
Das daraus
resultierende Selbstverständnis der Arbeitenden hat einer von ihnen
klassisch, in einer m.E. auch für die DDR gültigen Weise
während der berühmten Diskussion mit Gierek und Jaroszewicz auf
der Werft in Szczecin 1971 so ausgedrückt: „Wir werden arbeiten,
so gut wir können, und Ihr regiert, so gut Ihr könnt."
Renate Hürtgen: Tatsächlich scheint mir die Frage nach
der 1945 mit Errichtung des stalinistischen Staates
„abgebrochenen” Arbeiterbewegungstradition zentral. Diese
„verstaatlichte Arbeiterbewegung”, die damit per definitionem
keine Bewegung mehr war, sollte folgenreich sein für den Zustand der
Gesellschaft und den Zustand der Arbeiter in der DDR. Meiner Meinung nach
hatte die fehlende Praxis einer Bewegung einen erheblichen Anteil daran,
dass sich Atomisierung, Privatisierung und eine sprichwörtliche
Nischenkultur unter Arbeitern und Angestellten in der DDR ausbreiteten.
In den
Betrieben arbeitete eine Generation, die noch nie einen Streik mitgemacht
hatte. Sie kannte nur einen (erfolgreichen) Weg zur Durchsetzung eines
eigenen Interesses: die individuelle, nichtöffentlich mündlich
oder schriftlich vorgetragene Bitte an die Obrigkeit.
Silvia Müller: In der DDR gab es keine Arbeitslosigkeit und
nahezu Vollbeschäftigung. Der Arbeitsplatz war nicht nur der Ort, an
dem man seinen Lebensunterhalt verdiente, er bot die Möglichkeit
für Austausch von Informationen und Erfahrungen, für
Kommunikation und für viele bedeutete er, trotz aller
Einschränkungen, auch mehr oder weniger Integration in ein Kollektiv
und dessen Anerkennung.
Hochqualifizierte Arbeiter und Angestellte wollten eigentlich ihr Wissen
und Können für ihre Betriebe einbringen, scheiterten und
resignierten aber zunehmend an zentralistischen bürokratischen
Strukturen, am ewigen Material- und Ersatzteilmangel, an schrottreifen
Maschinen und den allgemeinen desolaten Zuständen.
In solchem,
oft zermürbenden Arbeitsalltag, im täglichen Kampf um die
Planerfüllung unter katastrophalen Bedingungen erlebten sich die
Arbeiter wohl nicht als Teil der so propagierten „herrschenden
Klasse”, sondern öfter in einer Kluft zwischen Oben und Unten.
Daran
dürfte sich bis heute nicht viel geändert haben, denn in der
Bundesrepublik ist das Recht auf Arbeit nicht als Menschenrecht anerkannt.
Und 95% des Volkseigentums der DDR gingen an westliche Besitzer über,
was manch Betroffener als entschädigungslose Enteignung um den Preis
der eigenen Arbeitslosigkeit interpretiert.
Gerd
Szepansky: Vieles war auf Selbstbetrug aufgebaut. „Klassen”
waren künstliche Gebilde, SED-Terminologie. In der Realität waren
alle mehr oder wenig gleich — bis auf die höheren Parteikader
oder andere Privilegierte.
Welche Rolle spielten die Betriebe in den Umbrüchen 1989? Gab
es eine betriebliche Opposition? Wieso gab es 1989 so wenige Streiks, wie
kam es im Herbst 1989 dann doch zur der Forderung nach einem Generalstreik,
und warum kam dieser nicht zustande? Was ist aus der IUG geworden?
Bernd Gehrke: Eine betriebliche Opposition entstand erst im
Herbst 1989 als Teil der Demokratiebewegung. Die Entwicklung in den
Betrieben war bestimmt von den politischen Entwicklungen, die sich aber
zunächst vor allem auf Straßen oder in Kirchen vollzogen. Danach
erreichte die Revolution die Betriebe selbst und die Institutionen des
Parteistaates wurden beseitigt: die hauptamtliche SED-Strukturen oder die
Parteimilizen in den Betrieben.
Um die
Jahreswende 1989/1990 gab es zunehmend Streiks, vor allem Warnstreiks. Sie
hatten sozialen und politischen Charakter und bildeten das Drohpotenzial in
den Auseinandersetzungen mit den Überresten des Parteistaates.
Die
Forderung nach einem Generalstreik blieb aus verschiedenen Gründen
minoritär, vor allem, weil das Gros der oppositionellen Organisationen
dem betrieblichen und erst recht dem Arbeitermilieu sehr fremd
gegenüber stand und die Bedeutung der Betriebe für die
politischen Auseinandersetzungen nicht erkannte.
Die
„Initiative für Unabhängige Gewerkschaften”, die sich
für eine neue Gewerkschaft von unten jenseits der FDGB-Strukturen
einsetzte, war eine Minderheit in den Betrieben. Das Gros der Belegschaften
blieb im FDGB, um die finanziellen Ansprüche nicht zu verlieren,
wählte demokratisch neue Betriebliche Gewerkschaftsleitungen und
bildete Betriebsräte.
Mit dem
Einmarsch der Westgewerkschaften trat das Gros der Beschäftigten in
diese über. Die übernahmen nun das Zepter. In mehreren Schritten
und im Bündnis mit anderen Überresten oppositioneller
Betriebsaktivisten aus der Vereinigten Linker und dem Neuem Forum gingen
Ende 1990 Teile der IUG in das spätere Bündnis Kritischer
Gewerkschafter Ost/West über — das gab es bis 1998.
Gerd Szepansky: In meinem Umfeld (Karl-Marx-Stadt, heute
Chemnitz) spielten die Betriebe eine wichtige Rolle. Dort wurden
Unterschriften für die Zulassung des Neuen Forums gesammelt. Viele
hauptamtliche Partei- und Gewerkschaftsfunktionäre wurden abgesetzt
und es gab großes Interesse an betrieblicher Mitbestimmung. Der Aufruf
zum Generalstreik war die Einzelaktion eines Mitgliedes unseres
Sprecherrates. Die anderen Mitglieder — auch ich — fanden diese
nicht abgesprochene Initiative überzogen und sprachen uns dagegen aus.
Heute sehe ich das allerdings etwas anders, aber hinterher ist man manchmal
klüger.
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