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Zeit der „Orientierung"
1978 war das Jahr, in dem ein Papst den anderen ablöste. Im Oktober
wurde Karol Wojtyla zum Papst gewählt und blieb es auch über die
gesamten drei Jahrzehnte während der osmanischen Geschichte der
Uhlandstraße.
Ende Januar 1978
zogen wir in diese Straße, zwei Monate vor der Stilllegung der Zeche Mont-
Cenis. [...] Wir waren eine der ersten türkischen Familien, nach uns kamen
noch viele. Vor uns waren eine italienische, sieben oder acht griechische und
ansonsten deutsch-polnische Familien da. Diese zogen nach und nach weg. [...] In
die leer gewordenen Wohnungen zogen Marokkaner und Tunesier ein.
Auf dem Foto
sehen sich die Häuser der Uhlandstraße zum Verwechseln ähnlich.
Doch Sehen ist eben nicht alles, was dem Menschen zu seiner Orientierung und
Entscheidung verhilft. Unterschiedliche Gerüche der diversen Küchen
und unterschiedliche Hygienevorstellungen provozierten gelegentlich den
Geruchssinn der verschiedenen Parteien. Auch das Hörvermögen war
offensichtlich unterschiedlich gefördert und gefordert worden. Vor allem
durch die Schichtarbeit waren berufstätige Nachbarn auf ihren
ungestörten Schlaf angewiesen. Doch einige Familien kannten
diesbezüglich keine Tages- und Nachtzeiten, auch nicht für ihre
Kinder.
Gelegentlich streckte ein Nachbar, der von der Nachtschicht gekommen war und
tagsüber schlafen wollte, den Kopf aus dem Fenster, fluchte
fuchsteufelswild auf die Kinder, deren Väter und Mütter sie nicht
beaufsichtigen, geschweige denn erziehen konnten. Das traf die Ehre der sich
angesprochen fühlenden Familie, die sich nicht nur mit Worten zur Wehr
setzen wollte, und im Nu stand die ganze Straße draußen: die einen als
Akteure, die anderen als neugierige Zuschauer. In der Regel endeten solche
Gefechte mit dem Herannahen einer Polizeistreife. Die zerstrittenen Parteien
sprachen wieder miteinander, sobald sie gemeinsam die Zuschauerrolle spielten,
während sich die nächsten Nachbarn wegen irgendeiner Nichtigkeit auf
offener Straße beschimpften, beleidigten, bespuckten und schlugen.
Deshalb gab es
unausgesprochene Kriterien für bevorzugte und nicht bevorzugte Häuser,
als alle Nationalitäten hier angekommen waren. Man wollte Verwandte und
Landsleute zu Nachbarn haben. Das ließ sich aber oft gar nicht umsetzen,
weil nicht immer im gleichen Haus zur gewünschten Zeit eine Wohnung frei
wurde. Manchmal machte einem auch die VEBA einen Strich durch die Rechnung.
Nicht selten konnte der Eindruck entstehen, dass es den besseren und den weniger
guten Ausländer gab. Die Häuser der Italiener und Griechen sahen, wenn
auch minimal, etwas besser in Schuss aus als die der anderen. Den Letzten
beißen die Hunde. Die Türken konnten fast aufatmen, als sie nicht mehr
die zuletzt Gekommenen waren. Die armen Araber!
Die meisten Häuser waren im miserablen, gesundheitsschädlichen
Zustand: Es gab keine Badezimmer. Nicht einmal eine Badewanne im Waschkeller wie
in den Häusern der Wilhelm-Busch-Straße. So etwas wie einen
Waschkeller konnte man sich nicht mal in der Fantasie ausmalen. Die meisten
Keller der Uhlandstraße waren nicht einfach feucht, sondern standen je nach
Niederschlagslage unter Wasser, waren schimmelig und wurden von Ratten bewohnt.
Das Kohlenholen war daher die größte Strafe für den, der an der
Reihe war.
Die Toiletten
befanden sich im Flur und wurden von zwei Parteien benutzt. Die Fenster waren
undicht und so alt, dass man sich nicht traute, die Rahmen zu putzen, weil das
morsche Holz zerbröselte. Die Dächer waren baufällig. Am besten
konnte man das zur Winterzeit vom Dachboden aus beobachten. Die zu trocknende
Wäsche wurde wegen der angebrochenen Eiszeit steinhart, sodass man jemanden
mit einer bloßen Jeans hätte mühelos erschlagen können.
Manchmal lag ein Zentimeter Schnee auf der Wäsche. Sogar der weiche Schnee
fand seinen Weg durch die einladenden Löcher in den Dächern. Zur
Sommerzeit konnte man hingegen staunen, welche Blütenpracht sich hier oben
entfaltete. Nicht nur ganze Birkenbäume — das weiß man ja schon,
dass sie überall wachsen können —, sondern auch blühende
Pflanzen. Die Uhlandstraße war eben ein Trendsetter in Sachen
ökologisch wertvolle Dachbegrünung.
In einem der ersten Zechenhäuser am Anfang der Straße wohnte der
Hodscha mit seiner Familie. Er war weit davon entfernt, ein echter
Moscheevorsteher oder Vorbeter zu sein. Sein Arbeitsfeld konzentrierte sich auf
die Vertreibung böser Geister, die unschuldige Menschen anheimgesucht
hatten. Und derer gab es viele. An Kunden mangelte es ihm nicht. [...] Es gelang
ihm mit Hilfe von Gebeten, Zaubersprüchen und sonstigem Hokuspokus, den
Menschen zu helfen. Dafür wurde er reichlich belohnt. Psychische und
psychosomatische Leiden waren sein Spezialgebiet. Aber auch das Wiederfinden
verloren gegangener oder gestohlener Wertsachen bereitete ihm keinerlei
Probleme. Dazu benötigte er ein blauäugiges Kind. Da diese Augenfarbe
unter den Türken eine Rarität war, musste die kleine Tochter der
griechischen Nachbarn dran glauben. Sie musste in eine mit Wasser gefüllte
Schüssel schauen und die Person oder den Ort, den sie sah, beschreiben. Auf
diese Art tauchten goldene Armreifen, der Hochzeitsschmuck und dergleichen mehr
wieder auf, und viele Menschen wurden glücklich gemacht.
Schräg
gegenüber von Hodschas Haus lebte eine griechische Familie mit einer sehr
alten Großmutter. Diese Frau faszinierte uns alle mit ihren
Türkischkenntnissen. Des Rätsels Lösung lag in ihrer Kindheit:
Ihre Familie gehörte der noch in der heutigen Türkei lebenden
griechischen Bevölkerungsgruppe an. Weil ihre Eltern nicht mehr lebten,
hatte sich eine türkische Familie ihrer angenommen und sie groß
gezogen. Als sie ins heiratsfähige Alter gekommen war, hatte sie die
Familie zu Angehörigen nach Griechenland geschickt.
Im Haus Nr.23 lebten bis zu sieben Parteien. Fünf Wohnungen wechselten
regelmäßig den Mieter, zwei blieben bis zum Schluss: das war meine
Familie und die griechische Familie Mavridis. Kinder wie Eltern knüpften im
Laufe der gemeinsamen Zeit so ein enges Verhältnis, dass Tante Pelagia und
meine Mutter wie zwei Schwestern auftraten und Onkel Savas und mein Vater wie
zwei Brüder. Über die Jahre sahen sich die Geschwisterpaare auch
äußerlich immer ähnlicher. Vor allem die Männer hatten so
eine vergleichbare Mimik und Gestik, dass man sie hätte verwechseln
können. Tante Pelagia kochte als berufstätige Frau und Mutter von drei
Kindern vor allem an Wochenenden und zu religösen Feiertagen die
herrlichsten Gerichte. Die Leistungen der griechischen Restaurants sind ein
Abklatsch dagegen. Entweder lud sie uns zum Essen ein, oder sie brachte uns
immer eine große Schüssel nach oben.
Weder sie noch
meine Mutter beherrschten die deutsche Sprache, eine andere stand ihnen nicht
zur Verfügung. So saßen sie stundenlang nebeneinander auf einer Couch,
ohne eine bestimmte Sprache zu sprechen. Dennoch hatte man den Eindruck, dass
sie sich gegenseitig kaum zu Wort kommen ließen, sich mit Händen und
Füßen, halb Griechisch, halb Türkisch, halb Deutsch und halb
Lazisch artikulierten. Die Lazen sind eine Volksgruppe griechisch-
türkischen Ursprungs rund um die Provinz Trabzon am Schwarzen Meer. Vor den
Türken lebten hier Griechen, wegen der Türken gingen viele nach
Griechenland. Hier heißt die Volksgruppe Pontier oder Pondi (vom Pontischen
Gebirge). Zufällig waren wir Nachfahren der Lazen und die Mavridis die der
Pontier, der gleichen Volksgruppe also, und als Enkel dieser Minderheitengruppe
trafen wir uns mitten im Herzen des Ruhrgebiets. Unsere beiden Familien standen
sich zunehmend näher als den eigenen Landsleuten.
Der 11.September hatte zu der Zeit noch nicht die Welt erschüttert.
Aber der 12.September 1980 hatte die Türkei verändert. Es war der Tag
der Machtergreifung durch das Militär. Von da an kamen auch andere
Türken nach Deutschland, Schriftsteller, Künstler, Studenten, Lehrer
und Gewerkschafter, kluge Leute eben. Durch sie wurde das politische Leben der
Türken in Deutschland stark geprägt. Die Gründung der Arbeiter-
und Kulturvereine wurde entweder von ihnen initiiert oder stark gelenkt. Dies
hatte wiederum Einfluss auf die Kommunalpolitik. Es war die Zeit der
Friedensbewegung. Deutsche und Ausländer marschierten auf
Ostermärschen oder anderen Demos Seite an Seite. Auf jeder dieser
Veranstaltungen wurde mindestens einmal der Dichter Naz?m Hikmet rezitiert:
„Leben! Einzeln und frei wie ein Baum...” oder „Das kleine
tote Mädchen” (aus Hiroshima).
Eben zu dieser
Zeit kamen auch in unser Haus diverse politisch Verfolgte. Das sind die
fünf übrigen Mietparteien, die regelmäßig kamen und wieder
verschwanden. Einer von ihnen war mein jüngster Onkel, der unmittelbar nach
seiner Ankunft den nächsten türkischen Arbeiterverein ausfindig machte
und die komplette Familie dort einführte. Er blieb nicht lange,
hinterließ der Familie aber die Tradition, jedes Jahr möglichst
geschlossen an der Maikundgebung teilzunehmen. Ich erinnere mich noch an zwei
Studenten aus Istanbul, die es geschafft hatten, die Türkei rechtzeitig zu
verlassen. Sie führten mit uns Heranwachsenden politische und
philosophische Gespräche. [...]
Im Mai 1981
rannten die Kinder der Nachbarn die Straße rauf und runter und schrien wie
Zeitungsjungen: „Man hat auf den Papst geschossen! Ein Türke
wars, ein Türke hat auf den Papst geschossen!!!"
Ich ging damals
in die sechste Klasse. Noch bevor ich den Schulhof betrat, wurde ich von einem
ansonsten sehr netten Mitschüler angehalten: „Na, seid ihr jetzt
froh? Ihr seid Mörder.” — Wenn man Traurigkeit über dieses
Attentat bei verschiedenen Menschen vergleichen könnte, wäre meine
bestimmt unvergleichbar größer als seine, weil der Attentäter
eben ein Türke war. Ich schämte mich. [...]
Interkulturelle Potenziale mit Risiken und Nebenwirkungen
Meine Mutter verfügte über besondere Heilkräfte. Sie stand
mit dem Hodscha keineswegs in einem Konkurrenzverhältnis. Ganz im
Gegenteil: Während jener sich auf psychische oder psychosomatische
Erkrankungen spezialisierte, befasste sie sich weitgehend mit somatischen
Symptomen. Knochenverrenkungen und -brüche waren ihr Gebiet. Mit
Olivenöl ertastete sie die schmerzende Stelle, renkte sie wieder ein und
verband sie mit wärmenden Mitteln. Sie verstand sich auch auf dem Gebiet
der Nabelbrüche hervorragend. Dabei musste sie ihre Patienten nicht einmal
selbst sehen. Deren Vorname genügte vollkommen.
So kam es, dass
wir einen Anruf von einer griechischen Frau aus Herten bekamen, deren Tochter
über starke Bauchschmerzen klagte. Tante Pelagia, die mit zahlreichen
anderen griechischen Frauen bei Blaupunkt arbeitete, hatte unter ihren
Landsfrauen die Werbetrommel für meine Mutter geschlagen und ihre eigenen
Erfahrungen zum Besten gegeben. Irgendjemand hatte diese Geschichte über
Hernes Grenzen hinaus getragen, wahrscheinlich in der griechisch-othodoxen
Kirche in Dortmund, in der sich die griechische Gemeinde aus dem gesamten
Ruhrgebiet versammelte. Die Frau am anderen Ende des Telefons musste wohl genaue
Instruktionen über das Prozedere erhalten haben, denn sie sagte nur:
„Mama sagen, Katarina krank. Mama kucken, ja?” Unsere Mama guckte:
Dazu nahm sie einen flachen leeren Teller und eine Nähnadel zur Hand,
drückte mit dem Zeigefinger die Nadel auf den Teller, hob den Finger und je
nach dem, ob die Nadel an dem Finger haften blieb und in welche Richtung sie
beim Abfallen hinfiel, gab es unterschiedliche Diagnosen und entsprechend
verschiedene Therapierituale. Sie konnte am Fall der Nadel auch sehen, ob es
sich eventuell um andere Beschwerden handelte, für die sie sich nicht
zuständig fühlte und wo sie dem Patienten empfahl, einen Arzt
aufzusuchen. Als Lohn für ihre Arbeit erhielt sie meist Naturalien: Wolle,
Handtücher für die Aussteuer ihrer Töchter, Unterwäsche oder
Lebensmittel.
Das Café an der Händelstraße/Ecke Mont-Cenis-Straße trug
den Namen meines Vaters Bei Osman, zumindest tagsüber. Hier verkehrten von
morgens bis abends die unterschiedlichsten Kunden verschiedener Herkunft und
verschiedener Gehaltsstufen, vom polnischen Obdachlosen bis zum deutschen
Rechtsanwalt, und philosophierten über Gott und die Welt und betrieben
Thresenrevolution. Mein Vater und meine Mutter stritten sich oft wie Don Camillo
und Peppone.
Viele Kunden
waren außerstande zu bezahlen, zumindest nicht sofort oder nicht mit Geld.
Es wurde gelegentlich mit Naturalien bezahlt: alte Möbelstücke vom
Sperrmüll, Wolle zum Stricken, Regenschirme und ähnliches mehr. Ein
Kunde arbeitete in einer Bäckerei und brachte einmal in der Woche einen
großen blauen Müllsack voll frischer Brötchen.
Die Freundinnen
meiner Mutter kamen an jenen Vormittagen auch ins Café — ja,
türkische Frauen mit Kopftüchern in einem Café. Hier in Sodingen
galten eben eigene Regeln, Normen und Gesetze. Sie bekamen je einen Dutzend
Brötchen aus dem Sack, tranken ihren Tee, plauschten über das nie
endende Thema: Wer hat wo, welche Wehwehchen und wer kann sie noch toppen?,
bedauerten sich gegenseitig und gingen wieder ihrer Wege. Die gemeinsamen
Vormittage im Café nutzten die Frauen auch, um sich gegenseitig ihre
aktuellsten Handarbeiten vorzuführen und Muster auszutauschen. Auch die
Handarbeiten anderer Kulturen fanden hier ihren Weg zum Austausch. Es gelang den
Expertinnen im Handumdrehen, die dargebotenen Muster nachzuhäkeln und sie
mit eigenen Elementen zu vervollkommnen. So entstand aus der Verbindung zweier
Kunstwerke ein drittes, noch nie da gewesenes.
Am Abend wurde
das Café umbenannt: Café famous gehörte von 18 Uhr bis in die
frühen Morgenstunden meinem Bruder. Die türkischen Klänge
revolutionärer Musiker wurden abgelöst durch Bob Marley und Co. Die
Parallelgesellschaft fing wahrscheinlich hier schon an. Es war eine Anlaufstelle
für junge Leute, die mit der letzten Bahn aus Bochum zurück nach Herne
kamen und noch einen Absacker trinken oder noch etwas Warmes essen wollten
— die Köftes meiner Mutter waren sehr beliebt. Nirgendwo anders gab
es so etwas, nicht mal in großen Städten. Die Polizei sah das zwar
nicht gerne, duldete es aber, dass Osman seinen Laden rund um die Uhr
geöffnet hatte. Zumindest mussten die Obdachlosen nicht draußen
schlafen.
Anfang der
Sommerferien reisten viele in ihre Herkunftsländer. Die
Verabschiedungsrituale, denen sich alle stellten, wurden der türkischen
Kultur entnommen. Man schüttelte sich die Hände, umarmte sich, bat
darum, alle Sünden zu vergeben, falls man welche begangen hätte, und
die guten Taten, die man von dem Reisenden erhalten hatte, zu segnen.
Anschließend wurde hinter das losfahrende, voll bepackte Auto ein Eimer
Wasser ausgeschüttet. Der Reisende sollte wie das Wasser zu seinem Ziel
unbeschadet wieder zurückfließen. Oder so ähnlich.
Am Ende der
Sommerzeit kamen alle wieder zurück und brachten sich gegenseitig Geschenke
aus der Heimat mit: reines Olivenöl und Feigenmarmelade aus Griechenland,
Haselnüsse und mit Knoblauch eingelegtes Gemüse aus der Türkei,
Datteln und Henna aus Marokko, und so weiter.
Für das
kommende Frühjahr brachten die Frauen auch Sämlinge mit. Wie kleine
Schuljungen besonders wertvolle Karten tauschen, so setzten sich die
Nachbarinnen zusammen und tauschten ihre Sämlinge. Manchmal hätte man
meinen können, im Café Osman findet eine Weltausstellung über die
Vielfalt der Bohnenpflanze statt.
In dieser Café-Ära der Familie Osman lernte meine jüngste
Schwester den griechischen Freund unseres Bruders, der ebenfalls ein Kind der
Uhlandstraße war, näher kennen. Sie verliebten sich ineinander und
wollten heiraten. Weil unsere Mutter sie noch zu jung fand und ihr die Heirat
nicht erlaubte, brannte sie mit ihm durch. Also wurde geheiratet. Und wie! Wo
hatte man das schon gesehen, eine griechisch-türkische Hochzeit? Es war
keine gewöhnliche Hochzeitsfeier. Es war ein Straßenfest. Die
Hochzeitsrituale beider Kulturen wurden wie im Wettstreit miteinander ausgelebt.
[...]
Zwei Jahre
später wurde ein Sohn geboren. Nach griechischer Tradition soll der
Erstgeborene den Vornamen des Großvaters väterlicherseits erhalten. Er
heißt Christos. Die türkische Seite war der Meinung, wenn es denn der
Name des Großvaters sein müsse, dann ginge doch auch Osman. Zwei
sprechende Namen zwischen Orient und Okzident konkurrierten neun Monate lang
miteinander. Je näher der Geburtstermin rückte, umso heftiger wurde
der Streit. Schließlich entschieden sich die Eltern für einen dritten,
unparteiischen Namen und die Gemüter beruhigten sich.
Der Zerfall
Inzwischen hat die erste Generation längst das Rentenalter erreicht und
steht vor der Entscheidung, ihr letztes Zuhause zu finden. Den meisten
fällt es schwer, für immer zurückzukehren in das Land, das ihnen
längst fremd geworden ist. Diese Gruppe bleibt hier und verschiebt die
Entscheidung Jahr für Jahr. Dazu zählen meine Eltern. Einige andere
haben eine Kompromisslösung gefunden: Ein halbes Jahr leben sie in dem
mühselig erarbeiteten Haus im Herkunftsland und ein halbes Jahr bei ihren
Kindern in Deutschland, wie Tante Pelagia und Onkel Savas. Sie versäumen es
niemals, meine Eltern zu besuchen, wenn sie wieder in Deutschland sind.
Im Januar 2005
ging unter den ehemaligen Anwohnern und Nachbarn, die inzwischen über alle
Stadtteile Hernes verstreut sind, wie ein Lauffeuer die Nachricht um: „Sie
reißen unsere Häuser ab, sie reißen unsere Häuser ab!”
Auch die alten Nachbarn, die inzwischen nicht mehr in Deutschland leben, wurden
telefonisch benachrichtigt.
Ein
türkischer Rentner sagte: „All die Zeit, als die Häuser so leer
da standen, die Straße so leer gefegt war, ohne den Lärm der
schreienden Kinder, da wurde mir ganz schön schwer ums Herz. Jetzt ist es
überstanden. Endgültig vorbei."
Eine Frau weinte
sogar: „Es ist so, als hätte ein enger Angehöriger lange Zeit im
Koma gelegen und sei nun gestorben."
1978 konnte man
an der Kreuzung Mont-Cenis-Straße/Kantstraße/Uhlandstraße alles
kriegen, was man brauchte: Es gab einen Aldimarkt, ein Schuhgeschäft, einen
Laden für Damenmoden, einen für Zoobedarf, eine Bäckerei, eine
griechische Schneiderei, eine Pommesbude und vieles mehr. Bis 2005 sind diese
Geschäfte verschwunden. Jetzt gibt es hier drei türkische Teestuben,
ein Spielcasino, ein Wettbüro, einen türkischen Friseurladen und einen
türkischen Obst- und Gemüsehändler.
Das Café
Osman existiert nicht mehr. Das trifft meinen Vater wohl am meisten. Er hat das
Café verkauft, weil er zu alt geworden war. Doch nach dem Verkauf ist er
erst recht gealtert. Aus seinem Zentrum für interkulturelle Begegnungen ist
eine typisch türkische Teestube geworden. Aber immerhin tröstet er
sich damit, dass er seinen Traum verwirklichen konnte.
Meine Eltern
wohnen jetzt am Westring. Endlich eine Wohnung mit Badezimmer und WC innerhalb
der eigenen vier Wände. Auch andere Nachbarn wohnen am Westring. Dennoch
sind sie alle traurig und vereinsamen zunehmend. Denn der Westring ist
groß. Und der Westring ist laut. Die Zeiten sind vorbei, in denen man sich
von Fenster zu Fenster unterhalten konnte oder mal eben mit den Badelatschen zur
Nachbarin laufen und ihr die frisch zubereiteten Baklava bringen konnte.
Zu Beginn war
jeder jedem fremd. Man sehnte den Vertrauten herbei. Ähnliche oder gar
gemeinsame Erfahrungen führten zur absoluten Vertrautheit, die keiner
Sprache bedurfte. Allmählich wurde das Vertraute fremd, sowie das Fremde
vertraut.
Lieber Herr Uhland,
es stimmt: Die Osmanen kamen, und das nicht mal allein: vor ihnen die jungen
Römer und Griechen, nach ihnen die Araber. Mehr noch: Sie bleiben. Machen
Sie sich aber keine Sorgen. Es gibt keine Sieger und Besiegten. Es gibt
lediglich Begegnungen und Berührungen, die Spuren hinterlassen.
Meine Kinder
sind väterlicherseits die Urenkel eines polnischen Bergmanns. Mein Sohn
trägt Ihren Vornamen in modernisierter Form (Luis), aber neben einem
türkischen Namen arabischen Ursprungs (Cem: Der Schöne). Man
könnte auch sagen: Der schöne Ludwig.
Damit
dürfen Sie in Frieden ruhen, weil Sie weiterleben.
Übrigens,
ich war schon sehr beunruhigt, als ich zu meiner Schulzeit Ihre Ballade erstmals
zu lesen bekam. Ich hatte keinen Frieden, bis ich schließlich an der Uni
lernte, dass man derlei Texte in ihrem historischen Zusammenhang sehen muss.
Und ich bin doch
eine brave deutsche Bürgerin!
.
Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten
und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo
Sozialistische Hefte für Theorie und Praxis Sonderausgabe der SoZ 42 Seiten, 5 Euro, |
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