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SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Dezember 2009, Seite 25

Wir trauern um Willi Scherer

13.Dezember 1921—2.November 2009

Wir trauern mit der Familie und vielen Menschen in der Arbeiterbewegung, in sozialistischen Organisationen und in der Gewerkschaft um einen Weggefährten in langen Jahren sozialistischer Arbeit, unermüdlicher Aufklärung und tätiger Veränderung der Verhältnisse. Wir verdanken Willi Scherer eine stetige Diskussion um alle wichtigen Probleme der Arbeiterbewegung, die Mitarbeit bis ins hohe Alter an unserer Zeitung und an vielen Projekten über seine Heimatstadt Gelsenkirchen hinaus.
Die Redaktion

Von Willi haben wir viel gelernt

Er hatte einen klaren und scharfen Blick für die „Verhältnisse”, vor allem für die Bedingungen, unter denen gearbeitet wird. Die Arbeiter standen ihm nahe, er war schließlich einer von ihnen. Ihre Sorgen waren auch seine, bis in den Lebensalltag hinein. Das wussten die Kolleginnen und Kollegen von Küppersbusch. Sie vertrauten ihm und vertrauten sich ihm auch an, wenn sie auf Hilfe angewiesen waren. Im Betriebsratsbüro ging es nicht nur um die Dinge, für die nun einmal ein Betriebsrat gewählt wurde. Hier ging es auch um das „Mensch sein” Darüber hat mir Willi viel erzählt, immer wieder.Ein Mensch sein können, auch unter harten Arbeitsbedingungen, bei schlechter Bezahlung und ständiger existenzieller Bedrohung, das konnte nicht auf ein besseres Morgen verschoben werden. Willi hat seine Kritik am Kapitalismus und seine sozialistische Hoffnung gelebt. Was einmal sein sollte, das musste für ihn ganz unten überzeugen, also diese soziale Realität zum Ausgang haben. Daher interessierten ihn brennend alles, was sich dort ereignet. Und so wusste er über die vielen Kontakte und Beziehungen, die er weit über das Ruhrgebiet hinaus hatte, viel über die Arbeit in den Betrieben — in einem ganz weiten Sinne des Wortes. Seine ungezählten Artikel und Reden dokumentieren daher ein bedeutendes Kapitel der Sozialgeschichte und der Verschränkung der Linken in dieser Geschichte.
Wir können von Willi noch immer viel lernen, wenn wir seinen „Standpunkt” wahren. Dafür liefert nicht zuletzt die Krise, die wir gegenwärtig erleben, gute Gründe. Willi Scherer in Erinnerung behalten, das heißt den Ort nicht verwaist zu lassen, den er mit seinem Leben eingenommen hat.
Edgar Weick

Was bleibt und was verloren ist?
Ein Ausflug zu den verlorenen Orten in Gelsenkirchen, die mit dem Leben des kürzlich verstorbenen Willi Scherer verbunden sind.
Willi Scherer, geboren in Dortmund, im Krieg zur Marine, dann in Wilhelmshaven „gelandet/gestrandet” Als gelernter Handformer und Gießereiarbeiter, von Arbeit und Kriegserlebnis geprägter junger Kommunist, wurde er in Wilhelmshaven mit einem Platz auf der schwarzen Liste von Gießerei und Metallbetrieben versehen, ging dann ins Ruhrgebiet zurück. „Auf Zeche” wurden alle genommen. In den Städten der vielen Zechen kamen in den 50er Jahren Tausende unter, lernten Gedinge und Kohlenstaub, Solidarität und Treiberei am Kohlenstoß.
In Gelsenkirchen: keine Zeche mehr nirgends — aber wenige Fördertürme und Gebäudereste, die kulturelle Veranstaltungen in einen Ort zwingen, der doch so weit entfernt von der verfüllten „siebten Sohle” ist.
In der „Stadt der tausend Feuer” gab es die Heißbetriebe in Stahlwerken und Gießereien, die Willi später in seiner beruflichen Entwicklung prägten. Keines dieser Feuer brennt mehr, aber die Hitze hat sich in viele Debatten der beteiligten Metaller eingebrannt: hitzig ging es noch lange Zeit unter Beteiligung von Willi in den Ortsgruppen der IG Metall zu.
Gießereiarbeiter in den 60er Jahren: Formen für Herd- und Ofenteile, Eisenguss am Ofen und in den Formen, Schutzanzüge waren später. Solidarität organisieren, Betriebsratsarbeit, kleine Lohnerhöhungen, Arbeitszeitverkürzung, Streiks und Demos auf der Straße: die Straßen gibt es noch, die Orte sind fast verwaist.
Betriebsratsbüro bei Küppersbusch — damals ein gut laufender Betrieb mit zweieinhalbtausend Beschäftigten. Willi Scherer war dort Betriebsratsvorsitzender und Streikführer Anfang der 70er Jahre. Wo sind die Fabrikhallen, in denen Öfen, Herde, Küchen von Anfang bis Ende produziert und eine kampfkräftige Belegschaft sich die Butter nicht vom Brot nehmen ließ? Vieles ist stillgelegt, viele Arbeitsplätze verschwunden. Von AEG übernommen, in Konkurs gegangen, mit Restbelegschaft in andere Konzerne integriert. Es gibt noch den Namen „Küppersbusch” auf Großküchen, aber keine Produktion in Gelsenkirchen mehr.
Und es gibt noch die IG-Metall-Rentner, die Willi Scherer zu ihrem Vorsitzenden, später Ehrenvorsitzenden hatten. Wo sonst gibt es Ortsgruppen der IG Metall wie in Gelsenkirchen, deren Rentnerversammlungen zwischen 80 und 120 Besucher haben — weil dort viele Jahre eine der größten Fabrikstädte selbstbewusste Metaller hervorbrachte.
Die Einkaufsstraßen von Gelsenkirchen: Niedergang im Geschäftsleben. Rentner auf der Straße treffen Willi Scherer und sagen: „Ja damals, als du noch aktiv warst...!"
Nun sind nicht nur viele Orte verschwunden, auch Willi Scherer trifft keiner mehr. Er starb am 2.November im Alter von 87 Jahren — aber vieles von ihm bleibt noch lange Zeit.
Rolf Euler

Eine kleine Erinnerung
Gelsenkirchen in den 80er Jahren. Wir arbeiteten im damaligen Zentrum für die gerechte Verteilung von Arbeit — es war die Zeit des Kampfes um die Arbeitszeitverkürzung — zusammen mit den Kollegen vom Stahlwerk „Schalker Verein” um Willi Duda und einer ganzen Reihe von erwerbslosen Kolleginnen aus dem Arbeitslosenzentrum. Träger für diese ganze Geschichte war das ev. Industriepfarramt in Gelsenkirchen. Willi gehörte als kritischer anerkannter Gewerkschafter vor Ort zum Trägerkreis dieses Zentrums. Ich erinnere mich an eine Reihe von Diskussionen, in der es um die Selbstständigkeit der erwerbslosen Kolleginnen in dem oben genannten Zentrum ging. Dem offiziellen Träger aus der Kirche mit seinem Sozialpfarrer gingen die Aktivitäten viel zu weit, waren zu radikal und lösten sich vor allem aus dessen Kontrolle. Willi unterstützte uns in dieser Zeit sehr viel. Wir gehörten nämlich zu den angestellten Beschäftigten, die diese Aktivitäten förderten und auch ein wenig animierten. Ich erinnere mich auch an so manche Unterhaltung über Frankreich, seine Erfahrungen und seine Urlaube in der Bretagne.
Willi Hajek

Nicht korrumpierbar, nicht resigniert
So um 1973 muss es gewesen sein: Eine revolutionär gesonnene Gruppe von Studierenden traf sich zu einem Wochenendseminar. Mich hatte sie gebeten, einen erfahrenen linken Betriebsrat dazu als Gast zu holen — zum Zwecke des Austauschs von Meinungen, wie denn dem Kapitalismus in der Bundesrepublik ein rasches Ende zu bereiten sei. Es kam Willi Scherer, und der linksakademische Nachwuchs bekam zum ersten Mal einen Einblick in das, was Arbeiterpolitik lebenspraktisch bedeuten kann: beharrlicher und furchtloser Kampf für alltägliche materielle Bedürfnisse im Betrieb und im Wohnviertel oder in der Stadt; stetige Mitarbeit in der Gewerkschaft — ohne sich vor dem Vorstand der Organisation und der ihm verbundenen Parteibürokratie zu verbeugen; interessierte Aufmerksamkeit für alle Möglichkeiten außerparlamentarischer Bewegung und schließlich Lernbegierde, um der kapitalistischen Herrschaft analytisch auf die Schliche zu kommen.
In dem erwähnten Seminar damals hatte die Begegnung mit Willi Scherer produktive Verblüffung zur Folge. Da war jemand, der zur Pflege revolutionärer Euphorie nichts beitrug, dies auch überhaupt nicht im Sinne hatte. Der den Kapitalismus zu genau kannte, als dass er Illusionen über dessen baldigen Sturz verbreitet hätte. Und der dennoch keinen Zweifel daran ließ: die kapitalistische Gesellschaftsverfassung wird nicht das letzte Wort der Geschichte sein, hier und heute können alle etwas dafür tun, dass sich die Kräfteverhältnisse zugunsten derjenigen verändern, die sich der Ausbeutung, der Herrschaft und der Unterdrückung nicht unterwerfen wollen.
Ich selbst hatte Willi Scherer längst als einen Genossen kennen gelernt, auf den man sich verlassen konnte: als einen Gegner der Remilitarisierung, der nicht einknickte, nachdem sozialdemokratische Gewerkschaftsfürsten ihr Herz für die Bundeswehr entdeckt hatten; als ehemaliges Mitglied der KPD, das sich durch den Bruch mit der Partei nicht zur Kommunistenfresserei verleiten ließ; als versierten Betriebsrat, der sich durch den Zugang zu Chefetagen nicht zur Sozialpartnerschaft bekehren ließ.
Als wir im Sozialistischen Büro zusammenarbeiteten, hat mir die Genauigkeit imponiert, mit der Willi Scherer soziale Verhältnisse im Betrieb und vor Ort zu beobachten und zu beschreiben verstand — und dabei ist er geblieben; über viele Jahre hin hat er durch seine Aufsätze in linken Zeitungen für Realitätsblick gesorgt. Nicht zuletzt: wer etwas über die Sozialgeschichte des Ruhrgebiets in den vergangenen Jahrzehnten als Geschichte von Politik erfahren will, wird in den Texten von Willi Scherer fündig werden.
Auch wenn es altmodisch klingt — ich finde, wir haben allen Grund, Willi Scherer dankbar zu sein. Ein Arbeiterfunktionär, der nicht korrumpierbar war und nicht in Resignation verfallen ist, der ein sicheres Gefühl für Theorie der Praxis und Praxis der Theorie hat — Respekt, Genosse Willi!
Arno Klönne


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