SoZ - Sozialistische Zeitung |
Er hatte einen klaren und scharfen Blick für die
„Verhältnisse”, vor allem für die Bedingungen, unter
denen gearbeitet wird. Die Arbeiter standen ihm nahe, er war
schließlich einer von ihnen. Ihre Sorgen waren auch seine, bis in den
Lebensalltag hinein. Das wussten die Kolleginnen und Kollegen von
Küppersbusch. Sie vertrauten ihm und vertrauten sich ihm auch an, wenn
sie auf Hilfe angewiesen waren. Im Betriebsratsbüro ging es nicht nur
um die Dinge, für die nun einmal ein Betriebsrat gewählt wurde.
Hier ging es auch um das „Mensch sein” Darüber hat mir
Willi viel erzählt, immer wieder.Ein Mensch sein können, auch
unter harten Arbeitsbedingungen, bei schlechter Bezahlung und
ständiger existenzieller Bedrohung, das konnte nicht auf ein besseres
Morgen verschoben werden. Willi hat seine Kritik am Kapitalismus und seine
sozialistische Hoffnung gelebt. Was einmal sein sollte, das musste für
ihn ganz unten überzeugen, also diese soziale Realität zum
Ausgang haben. Daher interessierten ihn brennend alles, was sich dort
ereignet. Und so wusste er über die vielen Kontakte und Beziehungen,
die er weit über das Ruhrgebiet hinaus hatte, viel über die
Arbeit in den Betrieben — in einem ganz weiten Sinne des Wortes.
Seine ungezählten Artikel und Reden dokumentieren daher ein
bedeutendes Kapitel der Sozialgeschichte und der Verschränkung der
Linken in dieser Geschichte.
Wir
können von Willi noch immer viel lernen, wenn wir seinen
„Standpunkt” wahren. Dafür liefert nicht zuletzt die
Krise, die wir gegenwärtig erleben, gute Gründe. Willi Scherer in
Erinnerung behalten, das heißt den Ort nicht verwaist zu lassen, den
er mit seinem Leben eingenommen hat.
Edgar Weick
Was bleibt und was verloren ist?
Ein Ausflug zu den verlorenen Orten in Gelsenkirchen, die mit dem Leben
des kürzlich verstorbenen Willi Scherer verbunden sind.
Willi
Scherer, geboren in Dortmund, im Krieg zur Marine, dann in Wilhelmshaven
„gelandet/gestrandet” Als gelernter Handformer und
Gießereiarbeiter, von Arbeit und Kriegserlebnis geprägter junger
Kommunist, wurde er in Wilhelmshaven mit einem Platz auf der schwarzen
Liste von Gießerei und Metallbetrieben versehen, ging dann ins
Ruhrgebiet zurück. „Auf Zeche” wurden alle genommen. In
den Städten der vielen Zechen kamen in den 50er Jahren Tausende unter,
lernten Gedinge und Kohlenstaub, Solidarität und Treiberei am
Kohlenstoß.
In
Gelsenkirchen: keine Zeche mehr nirgends — aber wenige
Fördertürme und Gebäudereste, die kulturelle Veranstaltungen
in einen Ort zwingen, der doch so weit entfernt von der verfüllten
„siebten Sohle” ist.
In der
„Stadt der tausend Feuer” gab es die Heißbetriebe in
Stahlwerken und Gießereien, die Willi später in seiner
beruflichen Entwicklung prägten. Keines dieser Feuer brennt mehr, aber
die Hitze hat sich in viele Debatten der beteiligten Metaller eingebrannt:
hitzig ging es noch lange Zeit unter Beteiligung von Willi in den
Ortsgruppen der IG Metall zu.
Gießereiarbeiter in den 60er Jahren: Formen für Herd- und
Ofenteile, Eisenguss am Ofen und in den Formen, Schutzanzüge waren
später. Solidarität organisieren, Betriebsratsarbeit, kleine
Lohnerhöhungen, Arbeitszeitverkürzung, Streiks und Demos auf der
Straße: die Straßen gibt es noch, die Orte sind fast verwaist.
Betriebsratsbüro bei Küppersbusch — damals ein gut
laufender Betrieb mit zweieinhalbtausend Beschäftigten. Willi Scherer
war dort Betriebsratsvorsitzender und Streikführer Anfang der 70er
Jahre. Wo sind die Fabrikhallen, in denen Öfen, Herde, Küchen von
Anfang bis Ende produziert und eine kampfkräftige Belegschaft sich die
Butter nicht vom Brot nehmen ließ? Vieles ist stillgelegt, viele
Arbeitsplätze verschwunden. Von AEG übernommen, in Konkurs
gegangen, mit Restbelegschaft in andere Konzerne integriert. Es gibt noch
den Namen „Küppersbusch” auf Großküchen, aber
keine Produktion in Gelsenkirchen mehr.
Und es gibt
noch die IG-Metall-Rentner, die Willi Scherer zu ihrem Vorsitzenden,
später Ehrenvorsitzenden hatten. Wo sonst gibt es Ortsgruppen der IG
Metall wie in Gelsenkirchen, deren Rentnerversammlungen zwischen 80 und 120
Besucher haben — weil dort viele Jahre eine der größten
Fabrikstädte selbstbewusste Metaller hervorbrachte.
Die
Einkaufsstraßen von Gelsenkirchen: Niedergang im Geschäftsleben.
Rentner auf der Straße treffen Willi Scherer und sagen: „Ja
damals, als du noch aktiv warst...!"
Nun sind
nicht nur viele Orte verschwunden, auch Willi Scherer trifft keiner mehr.
Er starb am 2.November im Alter von 87 Jahren — aber vieles von ihm
bleibt noch lange Zeit.
Rolf Euler
Eine kleine Erinnerung
Gelsenkirchen in den 80er Jahren. Wir arbeiteten im damaligen Zentrum
für die gerechte Verteilung von Arbeit — es war die Zeit des
Kampfes um die Arbeitszeitverkürzung — zusammen mit den Kollegen
vom Stahlwerk „Schalker Verein” um Willi Duda und einer ganzen
Reihe von erwerbslosen Kolleginnen aus dem Arbeitslosenzentrum. Träger
für diese ganze Geschichte war das ev. Industriepfarramt in
Gelsenkirchen. Willi gehörte als kritischer anerkannter Gewerkschafter
vor Ort zum Trägerkreis dieses Zentrums. Ich erinnere mich an eine
Reihe von Diskussionen, in der es um die Selbstständigkeit der
erwerbslosen Kolleginnen in dem oben genannten Zentrum ging. Dem
offiziellen Träger aus der Kirche mit seinem Sozialpfarrer gingen die
Aktivitäten viel zu weit, waren zu radikal und lösten sich vor
allem aus dessen Kontrolle. Willi unterstützte uns in dieser Zeit sehr
viel. Wir gehörten nämlich zu den angestellten
Beschäftigten, die diese Aktivitäten förderten und auch ein
wenig animierten. Ich erinnere mich auch an so manche Unterhaltung
über Frankreich, seine Erfahrungen und seine Urlaube in der Bretagne.
Willi Hajek
Nicht korrumpierbar, nicht resigniert
So um 1973 muss es gewesen sein: Eine revolutionär gesonnene
Gruppe von Studierenden traf sich zu einem Wochenendseminar. Mich hatte sie
gebeten, einen erfahrenen linken Betriebsrat dazu als Gast zu holen —
zum Zwecke des Austauschs von Meinungen, wie denn dem Kapitalismus in der
Bundesrepublik ein rasches Ende zu bereiten sei. Es kam Willi Scherer, und
der linksakademische Nachwuchs bekam zum ersten Mal einen Einblick in das,
was Arbeiterpolitik lebenspraktisch bedeuten kann: beharrlicher und
furchtloser Kampf für alltägliche materielle Bedürfnisse im
Betrieb und im Wohnviertel oder in der Stadt; stetige Mitarbeit in der
Gewerkschaft — ohne sich vor dem Vorstand der Organisation und der
ihm verbundenen Parteibürokratie zu verbeugen; interessierte
Aufmerksamkeit für alle Möglichkeiten außerparlamentarischer
Bewegung und schließlich Lernbegierde, um der kapitalistischen
Herrschaft analytisch auf die Schliche zu kommen.
In dem
erwähnten Seminar damals hatte die Begegnung mit Willi Scherer
produktive Verblüffung zur Folge. Da war jemand, der zur Pflege
revolutionärer Euphorie nichts beitrug, dies auch überhaupt nicht
im Sinne hatte. Der den Kapitalismus zu genau kannte, als dass er
Illusionen über dessen baldigen Sturz verbreitet hätte. Und der
dennoch keinen Zweifel daran ließ: die kapitalistische
Gesellschaftsverfassung wird nicht das letzte Wort der Geschichte sein,
hier und heute können alle etwas dafür tun, dass sich die
Kräfteverhältnisse zugunsten derjenigen verändern, die sich
der Ausbeutung, der Herrschaft und der Unterdrückung nicht unterwerfen
wollen.
Ich selbst
hatte Willi Scherer längst als einen Genossen kennen gelernt, auf den
man sich verlassen konnte: als einen Gegner der Remilitarisierung, der
nicht einknickte, nachdem sozialdemokratische Gewerkschaftsfürsten ihr
Herz für die Bundeswehr entdeckt hatten; als ehemaliges Mitglied der
KPD, das sich durch den Bruch mit der Partei nicht zur Kommunistenfresserei
verleiten ließ; als versierten Betriebsrat, der sich durch den Zugang
zu Chefetagen nicht zur Sozialpartnerschaft bekehren ließ.
Als wir im
Sozialistischen Büro zusammenarbeiteten, hat mir die Genauigkeit
imponiert, mit der Willi Scherer soziale Verhältnisse im Betrieb und
vor Ort zu beobachten und zu beschreiben verstand — und dabei ist er
geblieben; über viele Jahre hin hat er durch seine Aufsätze in
linken Zeitungen für Realitätsblick gesorgt. Nicht zuletzt: wer
etwas über die Sozialgeschichte des Ruhrgebiets in den vergangenen
Jahrzehnten als Geschichte von Politik erfahren will, wird in den Texten
von Willi Scherer fündig werden.
Auch wenn
es altmodisch klingt — ich finde, wir haben allen Grund, Willi
Scherer dankbar zu sein. Ein Arbeiterfunktionär, der nicht
korrumpierbar war und nicht in Resignation verfallen ist, der ein sicheres
Gefühl für Theorie der Praxis und Praxis der Theorie hat —
Respekt, Genosse Willi!
Arno Klönne
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