SoZ - Sozialistische Zeitung |
Der Winter steht vor der Tür, lange
dunkle Abende und vielleicht eine Insel mit lohnarbeitsfreier Zeit am
Jahresende. Zeit, sich auch mal wieder etwas mehr zuzumuten an schwerer
Kost und langer Lektüre. Mein Tipp: Leben und Schicksal
(Originaltitel: Shisn i sudba) von Wassili Grossman.
Das Buch
ist ein Roman und stellt das Lebenswerk des Autors dar, an dem er zwanzig
Jahre gearbeitet hat. Es ist sein Vermächtnis. Der Autor war
fasziniert von Tolstois Krieg und Frieden und hoffte, eine
zeitgemäße Version dieses Epos zu formulieren. Das Buch umfasst
die Zeitspanne von 1941 bis 1960, wobei die Kriegsjahre den Schwerpunkt
bilden. Die schriftstellerische Leistung Grossmans, in mancher Hinsicht mit
der Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss vergleichbar, besteht
darin, dem widersprüchlichen Doppelcharakter der damaligen Sowjetunion
literarische Form zu geben. Grossman gelingt es, das große historische
Verdienst der Soldaten der Roten Armee für die Niederschlagung des
Hitlerfaschismus zu würdigen, ohne die gesellschaftlichen
Verhältnisse zu beschönigen, die dermaßen durch den
stalinistischen Terror gezeichnet waren, dass es schwerfiel, darin noch ein
emanzipatives Projekt zu erkennen.
Wassili
Grossman wurde in der ukrainischen Stadt Bertischew geboren und wuchs in
einer Familie säkularer Juden auf. Die deutschen Invasoren verhafteten
1941 zehntausend jüdische Bürger dieser Stadt und brachten sie
um, darunter auch Grossmans Mutter, von deren Tod er jedoch erst 1944
erfuhr. Zur Dokumentation dieser Verbrechen hat Grossman später
zusammen mit Ilja Ehrenburg u.a. das „Schwarzbuch der Russischen
Juden” herausgegeben. Nach der Einnahme Bertischews meldete sich
Grossman zum Einsatz in der Roten Armee und bestand darauf, an die Front
geschickt zu werden. Dort arbeitete er bis Kriegsende als Korrespondent der
Tageszeitung Krasnaja Swesda ("Roter Stern") und war durch seine
authentischen und wahrheitsgemäßen Berichte bei den Rotarmisten
sehr beliebt. Zentrale Teile von Leben und Schicksal handeln an der Front
und in der Etappe der Roten Armee, einige auch in der Zivilgesellschaft.
Verfolgt
wird u.a. die Person des Atomphysikers Strum, dessen Hoffnungen und
Ängste, geworfen zwischen Anpassung und Verweigerung,
veranschaulichen, wie das stalinistische Regime Individuen deformierte und
ein selbstbewusstes, freies Leben verhinderte.
An der
Front begleitet der Korrespondent die Soldaten, die unter vielen Opfern
gegen die deutsche Überlegenheit ankämpfen, beschreibt ihr Leben
in den Schützengräben, folgt den Flüchtlingstracks,
beschreibt die Zerstörung der russischen Städte und das
Überleben in den Ruinen.
Einer
seiner Romanhelden ist der überzeugte Bolschewik und Parteikommissar
Krymow, der am Schluss nach einer Denunziation mit absurder Anklage Folter
und Gulag erlebt, sich jedoch nicht dazu durchringen kann, den
Machtanspruch der Partei infrage zu stellen.
Einige
Kapitel spielen auch auf der deutschen Seite der Front, ein Abschnitt sogar
bei Hitler in der Berliner Reichskanzlei. Es zeichnet den Autor aus, dass
es ihm gelingt, die Bestialität der faschistischen Politik
anzuprangern, ohne die Träger dieser Politik zu Monstern zu machen.
Die in die Wehrmacht eingezogenen Arbeiter unterscheiden sich als soziale
Personen und in ihren Lebensäußerungen kaum von den
Klassengenossen auf der anderen Seite der Front. Der Roman findet auch den
Weg in die sibirischen Gulags, deren Existenz damals noch tabuisiert wurde.
Ein sehr
bewegendes Kapitel zeichnet die Vernichtung ganzer jüdischer Familien
nach, deren letzte Lebensstunden vom Verlassen der Züge bis zum Tod in
der Gaskammer vom Autor nachempfunden wird. Grossman war davon
überzeugt — so scheibt Jochen Hellmann in einem Nachwort
—, dass die gefallenen Soldaten für einen moralischen Zweck
starben. „Sie opferten sich, damit andere leben konnten. Sie starben
für das sowjetische Volk und eine bessere Welt."
Und doch
hatte der stalinistische Alptraum zur Folge, dass der Autor die Hoffnung
verliert, der Funke der Oktoberrevolution könne wieder aufglimmen. Es
war das perfide und abstoßende Wechselbad aus Furcht und Faszination
der Sowjetbürger selbst, das die untertänige Beziehung zu
„Väterchen Stalin” prägte und Grossman den Mut nahm:
"Er
brauchte nicht zu befehlen: Gebt dem oder jenem eine Auszeichnung, eine
Wohnung, baut ein Forschungsinstitut für ihn! Er war erhaben, um
über solche Dinge zu reden. Das taten seine Helfer, sie lasen ihm die
Wünsche von den Augen ab, errieten den Tonfall seiner Stimme. Es
reichte, wenn er einen Menschen gutmütig anlächelte, um dessen
Schicksal total zu verändern: Darbte der Mensch gerade noch in der
Finsternis, im Nichts, so wurde er nun mit Ruhm, Ehre und Macht
überschüttet. Und Dutzende von mächtigen Personen neigten
dem Glückspilz ihr Haupt, denn Stalin hatte ihn angelächelt, mit
ihm gescherzt, ihn angerufen."
Nach der
Erfahrung, dass Millionen sich für den Massenmord der Nazis
instrumentalisieren ließen, und dem Erlebnis, wie es einem
stalinistischen Regime gelingt, ein Leben in Unfreiheit und Lüge zu
erzwingen, blieb Wassili Grossman nur noch die Hoffnung, der Mensch
könne es schaffen, die menschliche Güte gegen das Verlangen
übermächtiger Staatsgewalten zu verteidigen.
Das
Schicksal hat sicher auch zu diesem pessimistischen Fazit beigetragen. Denn
Wassili Grossman hatte das Manuskript nach der Rede Chruschtschows auf dem
20.Parteitag der KPdSU 1956 vergeblich zur Veröffentlichung
eingereicht. Die Zensoren waren entsetzt, und der Parteitheoretiker Michail
Suslow erklärte ihm, dieses Werk könne erst in zwei Jahrhunderten
erscheinen. Um dies auch praktisch sicherzustellen, wurden alle
auffindbaren Manuskripte konfisziert, sogar das Durchschlagpapier und die
Farbbänder wurden mitgenommen. Trotzdem fand ein unentdecktes
Manuskript, abfotografiert und auf Mikrofilm kopiert, über den Dichter
und Übersetzer Semjon Israilewitsch einen Weg in die Schweiz, wo es
1980 erscheinen konnte.
Doch anders
als bei den Schriften Alexander Solschenizyns traf Grossmans
Vermächtnis auf wenig Interesse. Grossman selbst erlebte das
Erscheinen des Buches nicht mehr. Er starb 1964 einsam und verbittert
qualvoll an Krebs. Auf dem Sterbebett zog er das Resümee: „Sie
haben mich im Torweg erwürgt."
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