Sozialistische Zeitung |
Auf dem EU-Gipfel in Helsinki haben die Regierungschefs offiziell beschlossen, was längst Konsens
unter den Vertragsstaaten war: Die Türkei erhält den Status einer EU-Beitrittskandidatin. Offizielle Beitrittsverhandlungen stehen
damit noch nicht auf dem Programm. Dennoch ist es ein offenes Geheimnis, dass insbesondere die Bundesrepublik die Aufnahme des
südöstlichen NATO-Partners in den Staatenbund aktiv anstrebt, wären da nicht noch gewisse Hindernisse zu
bewältigen: Krieg, Verfolgung, Vertreibung, Armut, Elend, Unterdrückung, Folter und politischer Mord.
Ganz im Duktus der seit Amtsantritt vorherrschenden
Menschenrechtsrhetorik wird die Bundesregierung nicht müde zu betonen, letztlich diene alle Politik gegenüber dem Land am
Bosporus dessen demokratischer Konsolidierung, die Unterstützung der Beitrittskandidatur ebenso wie die Lieferung von
Kriegsgerät, zaghafter Protest gegen Menschenrechtsverletzungen und Krieg ebenso wie Passivität und Schweigen.
"Dies ist faktisch die einzige Möglichkeit, auf die Politik der
Türkei Einfluss zu nehmen", erklärt Ludger Volmer, Staatssekretär im Auswärtigen Amt, das deutsche und
europäische Engagement. Und ganz nebenbei verändert sich die Weltkarte, wird die Europäische Union bis Yüksekova
reichen, und ein Teil Kurdistans wird ebenso dazugehören, wie die zur Unkenntlichkeit zerschlagenen Kleinstaaten des Balkan.
Auch die USA schlagen neue Töne an, wenn es um die Türkei
geht. In seiner Rede vor dem türkischen Parlament forderte Präsident Clinton im Vorfeld des
OSZE-Gipfels die Türkei auf, auch den kurdischen Bürgern der
Republik volle Gleichberechtigung zu geben. "Die Zukunft, die wir zusammen errichten möchten, beginnt mit den Fortschritten der
Türkei, ihre Demokratie zu vertiefen", erklärte Clinton. "Souveränität darf nicht auf Angst basieren,"
mahnte er, Kemal Atatürk zitierend, die Abgeordneten und warb für das Recht auf freie Meinungsäußerung sowie
kulturelle Freiheiten. Er warb auch für die Mitgliedschaft in der EU. "Europa ist ebenso eine Idee wie ein Ort - die Idee, dass
Menschen vereint leben können, ohne einförmig zu sein. Es hat keine fixen Grenzen. Es reicht soweit wie die Grenzen der
Freiheit."
Erstmals besteht ein tatsächliches Interesse, die Türkei
mittelfristig zum regulären Mitglied der Großmacht EU zu machen und damit die direkte europäische ökonomische und
militärstrategische Einflussnahme im Nahen und Mittleren Osten zu etablieren und abzusichern - auch in Konkurrenz zum NATO-
Bündnispartner USA.
Die Interessen der EU an diesem Schritt sind vielfältig. Neben der
Ausweitung der geostrategischen Einflusssphäre dürfte vor allem der Zugriff auf die Erdölvorkommen am Kaspischen Meer
eine maßgebliche Rolle spielen. Dort liegen Erdölreserven, die mitunter als die zweitgrößten der Welt gehandelt
werden. Die einzige nutzbare Pipeline führte zunächst über Russland, von Baku nach Noworossisk an die
Schwarzmeerküste.
Diese Route bietet jedoch heute, bedingt durch die politischen
Entwicklungen im Kaukasus, den dortigen russischen Kontrollverlust und die Kriege in Tschetschenien und Dagestan, bis auf weiteres keine
Perspektive für die an der Ausbeutung der Vorkommen interessierten internationalen Konzerne. Im April dieses Jahres wurde eine
weitere Pipeline ins georgische Supsa eröffnet, die erstmals nicht über russisches Territorium führt.
Die Unsicherheit darüber, ob Russland nach Beendigung des Krieges
im Nordkaukasus versuchen wird, weiter in den Südkaukasus vorzudringen, scheint Europa wie den USA jedoch zu groß. Daher ist
seit langem auch die Routenführung von Baku in den türkischen Mittelmeerhafen Ceyhan im Gespräch. Diese Route scheiterte
bisher an den beteiligten Ölkonzernen, für die die Route Baku-Ceyhan mit Abstand die teuerste Trassenführung darstellt, und
an der schlichten Tatsache, dass dieser Weg mitten durch Kurdistan und damit ebenfalls durch Kriegsgebiet führt.
Während Russland versucht, die Vorherrschaft über den
Kaukasus und damit über die Nordroute zurück zu erbomben, wurde auf dem OSZE-Gipfel in Istanbul nun die Unterzeichnung eines
Vertrags für eine neue Pipeline Baku-Ceyhan vereinbart. Die beteiligten Staaten haben die Konzerne so weit von den Kosten entlastet,
dass diesen der Bau wieder lukrativ erscheint. Die Türkei bspw. verzichtet zehn Jahre lang auf ihre Einnahmen aus dem Geschäft.
Doch nicht alleine der 4 Milliarden Dollar umfassende Pipelinebau
rechtfertigt heute das europäisch-nordamerikanische Interesse an einer befriedeten kurdischen Region in der Türkei. Entlang der
Trasse sollen Handelsstraßen, Eisenbahnlinien und ein Luftkorridor entstehen, der die unabhängigen Staaten des Kaukasus aus der
territorialen Isolierung befreien soll. Dabei geht es vor allem darum, Transport- und Verkehrswege zu erschließen, die weder über
Russland, noch über den Iran führen. Auch die im Zuge einer angestrebten Entspannung zwischen Israel und Syrien vorgesehene
Wiedereröffnung des Landwegs von Tel Aviv nach Ankara führt über Kurdistan.
Mit der Entscheidung, die Türkei mittelfristig als Vollmitglied
aufzunehmen und damit die geostrategische Position des Landes zu einer Schlüsselposition der EU zu machen, hat sich die EU direkt nach
Beendigung des Balkankriegs dem ehrgeizigen Vorhaben Türkei-Integration zugewandt. Die reguläre Einbindung der Türkei
als Mitglied der EU erfordert jedoch die Befriedung Kurdistans sowie Veränderungen in der politischen Verfasstheit der Türkei
und deren ökonomische und soziale Stabilisierung.
Andernfalls wäre weder die ökonomische Nutzung Kurdistans
denkbar, noch die im Sinne der "Festung-Europa" notwendige Kontrolle über mögliche Migrationsbewegungen
innerhalb der Union möglich.
Dabei macht sich die objektive Konkurrenzsituation zu den USA
hinsichtlich der künftigen Hegemonialstellung im Nahen und Mittleren Osten subjektiv derzeit noch kaum bemerkbar. Für beide ist
die Demokratisierung der Türkei zum Schlüssel der Befriedung Kurdistans geworden, die beide wollen. Gelegentlich scheint es
sogar, als konkurrierten die USA und die EU derzeit darin, wer die Regie über einen Demokratisierungsprozess führen wird und
wer sich damit den Einfluss auf die Zukunft sichert.
Für die EU hat sich Deutschland in die Schlüsselposition des
Neugestaltungs- und Erweiterungsprozesses katapultiert. Mit dem ehemaligen Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, Günter
Verheugen (SPD), der nun als EU-Kommissar für die Erweiterung der Union zuständig ist, und dem mit Außenminister
Fischer eng vertrauten Europaparlamentarier Daniel Cohn-Bendit, der in Straßburg im Juli den Vorsitz über die europäisch-
türkische Parlamentarierkommission übernahm, besetzt die Bundesregierung zwei zentrale Positionen.
Sowohl für die USA als auch für die Europäische Union
kann es sich in Zukunft als entscheidend erweisen, wer diesem Prozess seinen Stempel aufzudrücken vermag, sprich wer in der Zukunft
seine Vorherrschaft in der Region auszubauen versteht oder zu verlieren riskiert. Daher setzen beide vordergründig einheitlich auf den
Demokratisierungsprozess in der Türkei als Schlüssel für die Hegemonie in der Region. Trotz konkurrierender Interessen
resultiert daraus ein synergetisches Handeln, das es der Türkei derzeit erschwert, EU und USA wie in der Vergangenheit gegeneinander
auszuspielen.
Das Rennen um die Demokratisierung hat begonnen - für die EU unter
deutscher Regie. Interessant ist in diesem Zusammenhang ein Blick auf die Wege und Ziele, die die EU für die von ihr favorisierte Form
der Demokratisierung anstrebt.
"Wir wollen die Türkei demokratisch, friedlich, multikulturell
und vereint", fasste der griechische Außenminister Papandreou die Rahmenbedingungen der europäischen Integrationspolitik
Anfang November zusammen. Diese ergeben sich als Bedingungen aus dem Amsterdamer EU-Vertrag sowie aus den vom Europäischen
Rat 1993 in Kopenhagen formulierten Beitrittskriterien. Danach ist Voraussetzung für einen Antrag auf EU-Mitgliedschaft, dass ein Staat
folgende Grundsätze achtet: Freiheit, Demokratie, Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie Rechtsstaatlichkeit. Auch eine
Lösung des bewaffneten Konflikts in Kurdistan ist formal über diese Kriterien mit erfasst.
In einem Briefwechsel mit dem deutschen Bundeskanzler Schröder
im Vorfeld des Europäischen Rates Anfang Juni erkannte der türkische Ministerpräsident Bülent Ecevit die o.g.
Verpflichtungen und Kriterien als verbindlich für die Türkei an und bekräftigte die Entschlossenheit, entsprechende
Reformen durchzuführen. Es gibt auch Zusagen über Gespräche zur Erarbeitung eines "Fahrplans" für die
Durchführung von Reformen.
Die europäischen Regierungen drängen nicht nur mit
Hochdruck auf eine Lösung des Zypernkonflikts. In Straßburg arbeiten europäische Rechtsexperten auch schon an einem
Entwurf für eine neue Verfassung der Türkei, die den Kopenhagener Kriterien genügt und das Land auf diesem Gebiet formal
integrationsfähig machen soll.
In seiner Rede auf der Vorbereitungskonferenz zum Stabilitätspakt
für Südosteuropa wies Bundesaußenminister Fischer explizit auf die historischen Vorbilder hin, die der Bundesregierung
für die Demokratisierung der Region vorschweben: "Es hat sich wiederholt gezeigt, welch mächtige, friedensstiftende Kraft
in der europäischen Idee steckt - bei der Aussöhnung der ,Erbfeinde Deutschland und Frankreich, bei der
Überwindung des Erbes der Diktatur in Spanien, Portugal und Griechenland, zuletzt bei der gesellschaftlichen Transformation und der
Überwindung von Minderheiten- und Grenzproblemen in Mittel- und Osteuropa."
Gerade in Griechenland nach dem Ende der Obristendiktatur und im
postfranquistischen Spanien wurde die Demokratisierung der Gesellschaften allerdings unter Beibehaltung der herrschenden Eliten betrieben.
Die juristische Aufarbeitung der von den jeweiligen Diktaturen begangenen Verbrechen kam nur schleppend voran oder fand überhaupt
nicht statt. Die Staatsapparate und Verwaltungen, Polizei und Militär blieben bis auf wenige personelle Veränderungen im Kern
unangetastet.
Der im Frühsommer 1999 auf dem G8-Gipfel in Köln
verabschiedete Stabilitätspakt basiert auf der Grundidee, dass eine politische Stabilisierung Südosteuropas im
sicherheitspolitischen Interesse der EU liegt. Als Anreiz bietet die EU die stufenweise Integration über Stabilitäts- und
Assoziierungsverträge an. Und wenn die Türkei auch nicht explizit unter den für diesen Pakt vorgesehenen Ländern
aufgeführt ist, sondern bereits auf einer höheren Stufe des Aufnahmeprozesses gehandelt wird, so gehorchen die
Integrationsstrategien doch denselben Gesetzmäßigkeiten.
Nach menschlichem Ermessen und nach sorgfältiger Betrachtung von
Friedensprozessen in anderen Abschnitten der Geschichte dürfte der gemeinsame Wille der USA und der EU mittelfristig
tatsächlich hinreichen, eine demokratische Veränderung der Türkei und Frieden in Kurdistan herbeizuführen. Dieser
Wille ist jedoch weder ein Selbstzweck noch an den tatsächlichen Bedürfnissen der kurdischen Bevölkerung oder der
demokratischen Kräfte der Türkei orientiert. Er orientiert sich an den geostrategischen Interessen der USA und der EU. Dazu
gehört nicht nur, die Türkei weiterhin uneingeschränkt mit jenen Waffen auszustatten, die sie im Rahmen des
Bündnisses befähigen, die ihr zugedachte Rolle auch in Zukunft zu erfüllen.
Auch die Auslieferung des Vorsitzenden der Arbeiterpartei Kurdistans
(PKK), Abdullah Öcalan, an die Türkei gehörte zu den Schritten einer europäisch-nordamerikanisch-türkischen
Lösung der kurdischen Frage.
Als Öcalan im vergangenen Jahr in Rom eintraf, war die
Verständigung der EU auf eine gemeinsame Außenpolitik gegenüber der Türkei noch nicht abgeschlossen. Diese
Verständigung zog sich über mehrere Monate hin und endete in der sorgfältig abgewogenen Auslieferung des PKK-
Vorsitzenden.
Doch schon in den - teilweise widersprüchlichen - Erklärungen
verschiedener Regierungen aus jener Zeit zeichneten sich zentrale Aspekte ab, die sich in der heutigen Demokratisierungspolitik wiederfinden
lassen: eine Lösung der kurdischen Frage soll ohne die gestalterische Beteiligung der kurdischen Seite, insbesondere ohne Beteiligung
der PKK stattfinden. Man wolle die PKK nicht als "Vertreterin eines politischen Anliegens aufwerten", hieß es noch im Juni
in deutlichen Worten aus dem Auswärtigen Amt, und unterscheide "zwischen den berechtigten politischen Anliegen der kurdischen
Bevölkerung und dem Terrorismus bzw. Separatismus". Stattdessen setzt die EU auf den sozialen Wiederaufbau des
zerstörten Landes, hier auch unter Einbindung der legalen kurdischen Parteien.
Die von EU-Seite angestrebte Demokratisierung wird in vielen Bereichen
Verbesserungen für die kurdischen und türkischen demokratischen Kräfte mit sich bringen. Es macht real einen großen
Unterschied, ob man in Zukunft nicht mehr auf offener Straße willkürlich ermordet oder verhaftet werden kann, ob Menschen nicht
länger systematisch abgeholt und in Polizeihaft gefoltert, umgebracht oder "verschwunden" gelassen werden und ob es gelingt,
dem Morden in Kurdistan ein Ende zu bereiten.
All dies kann aber nicht das Ziel, sondern nur die Ausgangsbasis
wirklicher Demokratisierung sein. Letztere wird auch in Zukunft noch weiter politisch erstritten werden müssen - notfalls auch gegen die
Interessen der Europäischen Union.
Knut Rauchfuss
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