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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.1 vom 08.01.2000, Seite 12

Russlands Krieg in Tschetschenien

Die aktuelle Phase des russisch-tschetschenischen Krieges, der seine Wurzeln in der Annexion Tschetscheniens durch das Zarenreich in den 80er Jahren des 18.Jahrhunderts hat, kann als ein Kampf zwischen zwei Banditenstaaten aufgefasst werden.
Die kriminelle Natur des Jelzin-Regimes hat kürzlich selbst bei seinen westlichen Gönnern Unbehagen hervorgerufen, die von den Enthüllungen über Diebstähle in großem Stil an staatlichen Fonds und über die Geldwäsche bei westlichen Banken alarmiert wurden. In Wirklichkeit verfolgt dieses Regime schon seit Jahren eine Politik der massiven wirtschaftlichen Zerstörung der eigenen Bevölkerung. Dem amerikanischen Demografen M.Feshbach zufolge ist das für Russland in den kommenden fünfzig Jahren wahrscheinlichste Szenario ein Rückgang der Bevölkerung um 45%. Im Vergleich dazu wird für die USA im gleichen Zeitraum ein Bevölkerungswachstum von 45% vorhergesagt.
Auf tschetschenischer Seite sieht es nicht besser aus. Aslan Maschchadow - gewählter Präsident Tschetscheniens im Rahmen der faktisch wiedergewonnenen Unabhängigkeit von Russland als Resultat des Krieges von 1994 bis 1996 - konnte das Abgleiten seines Landes ins Banditentum und in die Herrschaft der war lords nicht aufhalten. Plünderungen, Einbrüche und Entführungen sind für die jungen Männer dieses Landes zur Lebensgewohnheit geworden. Russlands Weigerung, sein Versprechen, beim Wiederaufbau der zerstörten Ökonomie zu helfen, einzulösen, hat diesen Prozess noch beschleunigt. Doch selbst in sowjetischer Zeit gehörte Tschetschenien zu den ärmsten Regionen.
Im August 1999, als der Warlord Schamil Bassajew ins benachbarte Dagestan ging, um dort ostentativ eine islamische Republik zu errichten, hatte das politische Regime Tschetscheniens die Unterstützung der Bevölkerung bereits vollständig verloren. Trotz der Förderung der islamischen Scharia durch Maschchadow hat der angesehene Mufti von Tschetschenien, Ahmad Hadschi Quadrow, Maschchadow und Bassajew als Ungläubige bezeichnet, die sich nicht um das Wohl ihrer Bevölkerung sorgten, und Bassajews Abenteuer in Dagestan verurteilt. Maschchadow hat daraufhin die Absetzung Quadrows befohlen. Auch die Bevölkerung Dagestans betrachtet die Streitkräfte Bassajews als Banditen und nicht als islamische Befreier.
Die russische Regierung nahm das Eindringen in Dagestan und die Serie terroristischer Attentate im europäischen Russland als Vorwand, um die 1996 unterzeichneten Verträge zu zerreißen und die russische Herrschaft wieder einzuführen. Dadurch zwang sie mehr als 200.000 Tschetschenen zur Flucht nach Russland, ohne sich um die Beschaffung ausreichender Unterkünfte und Nahrungsmittel für diese Flüchtlinge zu kümmern.
Nach Angaben der tschetschenischen Regierung haben die russischen Streitkräfte mindestens 4500 Personen getötet - zum größten Teil Zivilisten. Und sie haben das Wenige, das in Tschetschenien noch an wirtschaftlicher Infrastruktur in den Städten bestand, zerstört. Anders als 1994 bis 1996 vermeidet die russische Armee diesmal den Einsatz von Infanterie und beschränkt sich darauf, die bewohnten Gebiete unbarmherzig zu bombardieren.
Diese terroristische Politik, die im Namen des Kampfes gegen den Terrorismus gerechtfertigt wird, passt haargenau zum Charakter des Jelzin-Putin-Regimes. Die kapitalistischen Großmächte ("die internationale Gemeinschaft") haben heuchlerisch den Tod unschuldiger Opfer bejammert, obwohl sie während des jüngsten Krieges auf dem Balkan ihrerseits die Zivilbevölkerung zur Zielscheibe machten und ihre Opfer dabei als "Kollateralschäden" bezeichneten.
Die russische Regierung weiß sehr wohl, dass der Westens ihr keine moralischen Lehren erteilen kann. Aber sie lässt sich gerne von dessen politischer Praxis inspirieren. Ähnlich wie seinerzeit die NATO während des Balkankriegs weist sie alle Angebote der Regierung Maschchadow für eine Verhandlungslösung zurück, die auch die Entwaffnung der illegalen militärischen Formationen in Tschetschenien einschloss.
Diese neue Phase des Krieges hat im Vergleich zu 1994-96 - als der Krieg unpopulär und die Gegnerschaft dagegen vor allem passiv war - nur eine schwache Opposition in Russland hervorgerufen. Die Bevölkerung ist in einer tiefen und endlosen Depression gefangen. Das ist ein geeigneter Nährboden für die Entwicklung eines "antikaukasischen" Rassismus, der für Jelzins bzw. Putins Krieg Partei ergreift. Der Bürgermeister von Moskau, Lushkow, nimmt die terroristischen Attentate (deren Urheber unbekannt sind) zum Vorwand, um eine rassistische Politik der kollektiven Bestrafung dunkelhäutiger Bewohner Moskaus einzuführen - mit zunehmenden Polizeirazzien, gwaltsamen Übergriffen und Deportationen.
Die russische politische und wirtschaftliche Elite, die unter Anleitung des Internationalen Währungsfonds mit der Zerstörung des menschlichen und ökonomischen Potenzials Russlands beschäftigt ist, hat für die Parlamentswahlen und die kommenden Präsidentschaftswahlen die Losung "Das Vaterland ist in Gefahr!" ausgegeben. Sie umwirbt gleichermaßen die durch den wirtschaftlichen und militärischen Niedergang Russlands verbitterten Führer der Armee, die immer freimütiger ihrer Unzufriedenheit Ausdruck verleihen. Die Medien, die im Besitz dieser Eliten sind, respektieren im Allgemeinen die offizielle Linie. Die "kommunistische Linke" Russlands, die sich seit eh und je um ein "patriotisches" Banner schart, unterstützt den Krieg.
Die Russen können mit Recht glauben, dass der Einfluss ihres Staates, wenn er aus dem Kaukasus verdrängt wird, sofort durch die NATO ersetzt würde. Die gezielte US-Politik der strategischen Schwächung Russlands ist kein Fantasieprodukt der russischen Militärs. Darüber hinaus geht es um die Kontrolle des aus dem Kaspischen Meer kommenden Öls. Die Politik Jelzins, die im Namen der Verhinderung der Verdrängung Russlands aus dem Kaukasus geführt wurde, hat ihr jedoch Vorschub geleistet.
Die gegenwärtige passive Unterstützung der russischen Bevölkerung für den Krieg könnte sich in dem Maße umkehren, wenn die Wahrheit über die russischen Opfer dieser Schlächterei zutage tritt. Zehntausende Tschetschenen und 6500 russische Rekruten bezahlten den Krieg von 1994-96 mit ihrem Leben.
Nach diesem Krieg hatte Jelzin dekretiert, dass von nun an nur noch Freiwillige in den Kampf geschickt würden. Aber Mitte Oktober 1999 wurde dieses Dekret unter großer Geheimhaltung aufgehoben, weil die Kassen leer sind und kein Geld mehr da ist, um die Freiwilligen zu bezahlen, die sich im Übrigen auch weniger leicht als Kanonenfutter einsetzen lassen als unerfahrene Heranwachsende. Das Komitee der Soldatenmütter schätzt, dass bereits mehr als 600 russische Soldaten getötet und noch weit mehr verletzt oder verstümmelt worden sind.
Diese Zahlen werden rasch nach oben schnellen, denn Russland will seine Herrschaft im gesamten tschetschenischen Gebiet errichten. Die terroristische Strategie Russlands und seine Gleichgültigkeit in Bezug auf das Schicksal der Flüchtlinge hat alle Illusionen über eine Wiederkehr der russischen Herrschaft bei der tschetschenischen Bevölkerung zerstört. Die Tschetschenen streben nach Unabhängigkeit, und Russlands Politik macht aus Maschchadow und den Warlords die einzigen Verteidiger der Nation.
Solange es die erneute Annexion Tschetscheniens anstrebt, wird Russland mit einem langen und erbittert geführten Guerillakrieg konfrontiert sein, den es nicht gewinnen kann, ohne das tschetschenische Volk zu vernichten.

David Mandel

Aus: Inprecor (Paris), Nr.442, Dezember 1999.

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