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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.2 vom 20.01.2000, Seite 2

Stolz auf das Grundgesetz?

Auf dem Neujahrsempfang der Industrie- und Handelskammer in Frankfurt/M. hielt Jutta Limbach, Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts, eine Rede über das Grundgesetz. Sie nannte es ein "zukunftsträchtiges Thema, das optimistisch stimmt", das sich "in den fünfzig Jahren seiner Geltung bewährt hat". "Für eine Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger gehört das Grundgesetz zu den Errungenschaften, auf die sie als Deutsche besonders stolz sind. Das gilt allerdings erst seit den 90er Jahren", fügte sie hinzu.
Käthe Reichel, die hervorragende Schauspielerin am brechtschen Berliner Ensemble und am Deutschen Theater, gehört zu denen, die nicht stolz sind auf das Grundgesetz. Als die Luxemburg/Liebknecht- Demonstration in Berlin verboten wurde, bedauerte sie, dass man sich nicht auf eine Verfassung zur Abwehr des Verbots berufen könne. Und zwar "weil es in diesem Land ein Grundgesetz gibt", das in dem - im Eilverfahren zusammengeschusterten - Einigungsvertrag "unterzeichnet (wurde) von einem inzwischen berüchtigten Geschäftsmann Krause im Osten und einem verlodderten, ja kriminellen Parteigeldschmierverein im Westen, Schäuble und Kohl". "Wie korrupt ist diese Parteiendemokratie", fragt Käthe Reichel, die die Verfassung verhindert hat, als das deutsche Volk (einziger Souverän in einer Demokratie) 1990 lauthals dafür kämpfte?
Nun soll hier nicht versucht werden, den Glauben der Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts und Sozialdemokratin Jutta Limbach in das Grundgesetz wegen der "korrupten Parteiendemokratie" ins Wanken zu bringen. Aber die "Ausgewogenheit", mit der sie ihre Sicht über das Verhältnis von Wirtschaftsordnung und Grundgesetz den Vertretern der Industrie- und Handelskammer nahebringen wollte, verdient es, näher beleuchtet zu werden. Sie verteidigt einerseits, dass die "Schöpfer unserer Verfassung" in der Frage der Wirtschaftsordnung "Abstinenz" übten - im Gegensatz zur Verfassung der DDR, die "ausdrücklich das sozialistische Eigentum an den Produktionsmitteln" und die "sozialistische Planwirtschaft" verankerte. Das Grundgesetz sei jedoch "wirtschaftspolitisch neutral". Denn "die Worte Markt oder soziale Marktwirtschaft sucht man im Grundgesetz vergebens".
Dennoch könne sich der Gesetzgeber nicht für jedwede Wirtschaftsordnung entscheiden. "Vielmehr muss er ein Ordnungskonzept zwischen einem zügellosen Laissez-faire-Kapitalismus und einer Zentralverwaltungswirtschaft wählen." Nun befinden wir uns aber in einer Krise, in der unter den Experten und Politikern keine Einmütigkeit darüber herrscht, welche Wirtschaftspolitik die richtig ist.
Nicht einmal in der Diagnosen der Ursachen der Krise sei man sich einig. Ignacio Ramonet, Chefredakteur von "Le Monde Diplomatique", sehe eine neue Art Totalitarismus in Gestalt der "globalisierten Regime" heraufkommen. Alle sozialen Rechte der Bürger würden dem Prinzip des freien Wettbewerbs untergeordnet, alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens der Willkür der Finanzmärkte ausgeliefert. Die Staaten verfügten nicht mehr über das Instrumentarium, die Märkte in die Schranken zu weisen. Andere sehen die Ursachen der Krise in der Tendenz, "immer neue Ansprüche an den Staat zu stellen und zugleich alte Besitzstände zu zementieren".
Die Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts, die sich der "Ausgewogenheit" verpflichtet fühlt, verrät uns nicht, auf welcher Seite sie steht. Dafür bietet Ignacio Ramonet uns vorzügliche Schützenhilfe nicht nur für das Verständis der Ursachen, sondern auch für den Ausweg aus der Krise, wenn er schreibt: "Heute ist es an der Zeit, eine andere Zukunft aufzubauen … Es ist an der Zeit zu erkennen, dass eine andere, solidarische Wirtschaftsordnung möglich ist, die auf dem Prinzip der nachhaltigen Entwicklung beruht und den Menschen in den Mittelpunkt rückt. Als erster Schritt wäre die Finanzmacht zu entwaffnen."
Jakob Moneta


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