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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.2 vom 20.01.2000, Seite 16

Das Jüdische Museum Berlin

Die Umrisse und Grenzen des Gebäudes sind auf den ersten Blick nicht zu erfassen. Von der Straße trifft man auf die Schmalseite eines mit Zinkblech verkleideten Komplexes, der langgezogen und vielfach abgewinkelt ist und nach hinten flieht. Schmale Rechtecke aus Glas in verschiedenen Formen und Längen durchschneiden willkürlich die Fassade und verleihen ihr eher das Aussehen einer Grafik als das einer Häuserfront.
Durch seine Unregelmäßigkeit und Lichtreflexe tritt der Bau in regen Dialog mit seiner Umgebung, dem ehemaligen Grenzgebiet südliche Friedrichstadt, das geprägt ist von einem zusammenhanglosen Nebeneinander von Baustilen unterschiedlicher Epochen und leeren Flächen. Gründerzeitliche Mietshäuser stehen neben Wohn- und Geschäftshäusern der IBA, das wiederhergestellte Barockgebäude mit dem alten Berliner Stadtmuseum neben sozialem Wohnungsbau aus den 60er und 70er Jahren. Der Architekt Daniel Libeskind versucht keine Synthese, die auch nicht möglich wäre, sondern "führt in die vorhandene Dissonanz eine kräftige, eigenständige neue Stimme ein und überführt damit auf erstaunliche Weise die gesamte Situation in eine neue, heterogene Ordnung". So beschreibt es ein Museumsführer.


Die Unkundige läuft zunächst einmal um das Gebäude herum, auf der Suche nach dem Eingang. Den gibt es nicht. Stattdessen gelangt sie über schmale, aus dem Boden herausragende Steinplatten zu einem Stelenwald aus Beton, der schräg in den Boden eingelassen ist, so dass er aus ihm herauzuwachsen scheint. Jede der 7 x 7 Stelen trägt auf dem Kopf eine Ölweide - hoffnungsvoller Kontrast zum steinernen Labyrinth, das E.T.A.-Hoffmann- Garten genannt. wird. Man betritt es über eine umlaufende Rampe; in der Enge zwischen den geneigten Betonpfeilern und dem schiefen Boden entsteht eine unsichere Situation, wankender Grund, ungewisse Umgebung.
E.T.A. Hoffmann ist einer der Bezugspunkte für die Architektur von Libeskind. Andere, die namentlich zitiert werden, sind Walter Benjamin, Paul Celan und Ernst Mendelsohn, der Erbauer des südlich hinter den Neubauten sich erhebenden Sitzes der IG Metall. Alle haben im Viertel zwischen dem Gendarmenmarkt und dem Mehringplatz gelebt oder ihre Spuren hinterlassen. Die Konturen des gezackten Gebäudes, erklärt der Museumsführer, ergeben sich u.a. daraus, dass Libeskind zur geschichtlichen Ortung seines Baus den Berliner Stadtplan genommen und zwischen dem Standort des Museums und den Adressen großer Gestalten der berlinisch-jüdischen Geschichte Verbindungslinien gezogen hat. In ähnlicher Weise will Libeskind die Glasschnitte an der Außenfassade verstanden wissen: "Diese ‚Schnitte‘ sind die tatsächlichen topografischen Linien, welche die Wohnorte von Deutschen und Juden in unmittelbarer Umgebung des Ortes miteinander verbinden und nach außen strahlen."
Ein anderer solcher Bezugspunkt ist Paul Celan. Nach ihm ist einer der beiden Höfe benannt, die der barocke Altbau des Berliner Stadtmuseums mit dem Neubau des Jüdischen Museums bildet. Das Muster des Bodenreliefs aus Naturstein, mit dem er ausgelegt ist, wurde nach einer Grafik der Witwe des Dichters, Gisèle Celan- Lestrange, gestaltet.
Auch sonst greift der Bau aktiv in die Gestaltung der Umgebung ein und steht damit trotz seiner geschlossenen, distanzierten Fassade in lebhaftem Dialog mit ihr. Neben dem E.T.A.-Hoffmann-Garten und als Kontrapunkt zu ihm erhebt sich der Holocaust-Turm, ein dem Museum vorgelagerter hammerkopfförmiger Betonbau, der nur durch zwei schmale senkrechte Einschnitte an der Spitze Tageslicht und Luft einlässt. Gegenüber liegen ein Rosenhain und ein Robinienwäldchen. Nach hinten zur Parallelstraße hin flankiert das Museum einen öffentlichen Grünzug mit Kinderspielplätzen, der nach Walter Benjamin benannt ist - der u.a. Kinderbuchautor war.
Es ist eine Architektur, die man sich erlaufen, deren Zusammenhänge und Strukturen man suchen muss. Unerwartet führt der Eingang ins neue Musum durch das alte - ein schöner restaurierter, schnörkelloser Barockbau, einst Kollegienhaus (Verwaltungsgebäude), später Sitz des Kammergerichts, an dem E.T.A. Hofmann als Richter tätig war. Äußerlich stehen die Gebäude in scharfem Kontrast zueinander. Offiziell handelt es sich beim Jüdischen Museum um einen Erweiterungsbau des Berlin-Museums, doch schon die Größenverhältnisse zwischen beiden und vollends, wenn man das neue Gebäude durch das alte betritt, wird klar: Der neue Bau ist keine "Erweiterung"; er hat dem alten seinen Stempel aufgedrückt. Das alte Berlin Museum wird von nun an aus der Perspektive des Jüdischen Museums interpretiert.
Diese Dominanz hat sich erst im Verlauf der zehnjährigen Entstehungsgeschichte des Neubaus entwickelt. Die südliche Friedrichstadt mit ihrer Grenzlage war in den 80er Jahren ein Hauptgebiet der Internationalen Bauausstellung gewesen. Der letzte internationale Wettbewerb, den die IBA ausschrieb, galt der Erweiterung des Berlin- Museums. Im Neubau sollte auch die Darstellung der jüdischen Geschichte Berlins als integrierender Bestandteil der Stadtgeschichte Platz finden. Diese Konzeption lehnte sich an den Zustand vor 1938 an: In den 20er Jahren hatte die von Max Liebermann gegründete Stiftung Jüdisches Museum einen Platz im Berliner Stadtmuseum zur Darstellung der Geschichte der Berliner Juden durchgesetzt. Die Abteilung wurde jedoch nach der Reichspogromnacht geschlossen.
Die integrierende Konzeption wurde im Verlauf der 90er Jahre aufgegeben und das Jüdische Museum als eigenständige Einrichtung etabliert. Gegenüber der Verschränkung der jüdischen mit der Berliner Stadtgeschichte rückte nun die nationale, europäische und globale Dimension der jüdischen Geschichte in den Vordergrund; der Erweiterungsbau wurde zum Jüdischen Museum.

Jüdische und europäische Geschichte
Die erste Ordnung, die einen beim Betreten des Museums empfängt, ist die weitläufige, harmonischen Raumgestaltung des Barockbaus. Hier wartet man auf die Führungen; der Besucherandrang ist groß, obwohl noch kein einziges Ausstellungsstück zu besichtigen ist - offiziell wird das Museum erst im Herbst eröffnet; das Interesse gilt dem Bau selbst.
Den Eingang zum neuen Museum markiert ein gewaltiges Tor aus Beton, das fremdartig in das alte Mauerwerk hineinragt. Dieser Eingang ist eine Provokation; wo der Barockbau den freien, stolzen Blick nach oben zulässt, zwingt der Weg ins neue Museum den Besucher zunächst einmal, den Blick zu senken. Die Wucht des Tores zeigt auf gebieterische Weise nach unten auf eine dunkle, abgewinkelte Treppe, die ins Ungewisse führt. Es zwingt den Besucher in die Knie.
Im Untergeschoss zwei enge, kahle Stollen mit gleißenden Lichtschienen an der Decke; der Boden leicht ansteigend und dadurch mühsam begehbar. An ihrer Kreuzung hat der Besucher die Wahl: der eine Weg führt zum Garten des Exils und der Emigration (in der Außenansicht E.T.A.-Hoffmann-Garten genannt) - hier steht die einzige Tür, die ins Freie führt. Der andere führt zum Holocaust-Turm, jenen abgesonderten frei stehenden Betonturm, der nur im oberen Teil seines spitzen Winkels zwei offene Lichtschächte führt. In diesen rundum geschlossenen nackten, leeren, dunklen und ungeheizten Raum werden die Besucher allein geschickt. Sie sehen sich darin als eine Masse gesichtsloser, gleichförmiger grauer Gestalten mit dem Gesicht zur Wand, die nichts tun kann, als nach oben zum Licht zu blicken in Erwartung der Erlösung. In dieser Haltung kommt man sich leicht vor wie Figuren von einer jener expressionistischen Schwarzweißzeichnungen, die Menschen im Angesicht der Vernichtung darstellen.
Während der Scheideweg im Untergeschoss nur die Möglichkeiten Vernichtung oder Emigration anbietet, liegt ein dritter Stollen quer dazu. Erst an seinem Ende stellt sich heraus, dass er in eine steile Treppe nach oben mündet, einen hellen Schacht, der alle vier Stockwerke miteinander verbindet; sein Ende bildet eine weiße Wand. Es ist der Weg zum Tageslicht. Auch hier wird der Blick wieder nach oben gezwungen, die Kühnheit der Konstruktion ist atemberaubend; Hoffnung verbindet sich mit Umgewissheit, wohin der Weg führen wird - dass sich seitlich von ihm die Zugänge zu den Etagen der Ausstellung öffnen, erkennt man erst, wenn man die Treppe erklimmt.
Bis in die Details ist der Bau symbolüberfrachtet: Im Grundriss wie in der Anordnung der "Fenster" kann man, wenn man will, einen auseinandergerissenen Davidstern erkennen, die Zickzackfigur des Grundrisses steht aber auch für den wechselhaften Verlauf der deutschen Geschichte; der Eintritt zum Museum vollzieht den Gang der jüdischen Geschichte im 20.Jahrhundert (nicht nur in diesem) nach; für die 7x7 Pfeiler des Garten des Exils und der Emigration gibt Libeskind die Deutung vor: "48 dieser Pfeiler sind mit Erde aus Berlin gefüllt [um die Ölweiden zu nähren] und stehen für 1948 - die Gründung des Staates Israel. Der zentrale Pfeiler enthält Erde aus Jerusalem und steht für Berlin selbst." Man könnte bei der Zahl aber auch an alttestamentliche, im engeren Sinne jüdisch-religiöse Bezüge denken. Man kann sich von all diesen Verweisen aber auch freimachen und in den Elementen Offenheit, Kontraste und Zerrissenheit, die in der inneren Struktur des Baus wie in seiner Fassade zum Ausdruck kommen, eine Synthese des 20.Jahrhunderts sehen.
Denn trotz der konkreten Anspielungen auf die jüdische Geschichte weist der Bau deutlich über sie hinaus. Hier war nicht nur ein Architekt am Werk. Daniel Libeskind, 1946 in Polen geboren und seit 1965 US-Bürger, studierte erst Musik, bevor er sich der Architektur zuwandte. Der Horizont, den er hier verarbeitet, reicht von Wassily Kandinsky über Arnold Schönberg bis zu Walter Benjamin und Mies van der Rohe. Sie alle sind hochrangige jüdische Vertreter der europäischen Kultur- und Geistesgeschichte, die weit mehr als nur jüdische Geschichte geschrieben haben. Viele von ihnen werden zitiert.

Jüdische und deutsche Geschichte
Neben dem Verhältnis zur Berliner Umgebung und Stadtgeschichte, neben der Geschichte der europäischen Juden thematisiert das Museum ausdrücklich auch die Verbindung von deutscher und jüdischer Geschichte. Ihre enge Verstrickung wird durch ein besonderes Architekturprinzip zum Ausdruck gebracht: Die Zickzackfigur des sichtbaren Gebäudes wird von vorn bis hinten in einer geraden Linie von Hohlräumen (voids) durchschossen, die wie leere Pfeiler senkrecht in das Gebäude eingelassen sind. Sie vergegenwärtigen die Leere, die die Vernichtung jüdischen Lebens in Deutschland und Europa hinterlassen hat. Die Zerstörung hinterlässt ein Nichts, das nicht zu füllen, aber auch nicht beiseitezuschieben ist, ein schmerzhaft fortbestehendes Loch. Man kann diese Räume nicht betreten, nur schmale Sichtfenster gewähren Einblick; in den oberen Etagen ist dieses Band der Zerstörung durch schwarz gehaltene Flächen an Fußboden, Decken und Wänden markiert. Hier wird das Nichtdarstellbare dargestellt, die ständigen Unterbrechungen der jüdischen Geschichte, die Negation; als letzter Ausdruck der voids steht außerhalb des Gebäudes - nunmehr in positiv - der Holocaustturm.

So bietet das Jüdische Museum Berlin eine geschlossene, bis in die Details durchkomponierte Interpretation des 20.Jahrhunderts aus jüdisch-deutscher Sicht. Es ist eine formale, strukturalistische Interpretation, die abstrakte Zusammenhänge, keine Akteure beschreibt. Der Bau tendiert immer wieder dazu, sich selbst als Bild und als Kunstwerk zu setzen. Das bedient vielleicht die spielerische Lust, die Grenzen der Architektur zu durchbrechen, indem ihre Gestaltungsmittel aufs äußerste ausgereizt werden. Es birgt aber auch die Gefahr, den Zweck als Museumsbau zu verfehlen: spontan fragt sich die Betrachterin, ob ein Ausstellungsstück die Wirkung des Gebäudes nicht eher stören würde. Es ist auch eine sehr intellektuelle Architektur: Die Bedeutung ihrer Einzelteile erschließt sich vielfach nicht von selbst, der Architekt macht zahlreiche präzise interpretative Vorgaben, was für eine breite Aneignung eher hinderlich ist.
Man muss das Interpretationsmuster nicht teilen, aber es bleibt, dass dies der einzige Bau in Deutschland ist, dem nach dem Fall der Mauer eine unverlogene Bilanz des 20.Jahrhunderts gelungen ist. Der Streit um das Mahnmal für die Opfer des Holocaust, der seit Jahren durch die Berliner Stadtpolitik wabert, nimmt sich daneben wie peinliches, kleinkariertes Gezänk aus: Hier steht das Mahnmal - klarer, kühner und eindeutiger als alles, was jemals in der Nähe der Reichstags aufgestellt werden wird.
Man kann allerdings einwenden, dass die Interpretation deshalb gelungen ist, weil der Weg nach oben nur als Hoffnung angedeutet wird und keine geschichtliche Sinngebung erfährt. Der ganze Bau ist in sich stimmig, weil er letztlich Grundmuster von Religiosität weckt und zum Ausdruck bringt. Demut, Erlösungserwartung und Erhabenheit liegen dicht beieinander und die Stätten des Kreuzwegs werden dem Betrachter spürbar nahe gebracht - nicht anders als in Kathedralen auch. Auf dieser Ebene gelingt es ihm aber, seine scheinbar zusammenhanglose Umgebung miteinzubeziehen und zu ordnen.
Angela Klein
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