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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.3 vom 03.02.2000, Seite 12

Allianz gegen den Neoliberalismus

Die zapatistische EZLN wendet sich der "Zivilgesellschaft" zu

Der folgende Beitrag ist Teil II unserer Serie über die mexikanische Linke und behandelt die Zapatistische Nationale Befreiungsarmee (EZLN) sowie die anderen bewaffneten Organisationen. Im Mittelpunkt von Teil I in SoZ 2/00 stand die von Cuauhtémoc Cárdenas geführte Partei der demokratischen Revolution (PRD).
Am 1.Januar 1994 änderte sich die politische Landschaft Mexikos grundlegend, als die EZLN (Zapatistische Nationale Befreiungsarmee) ihren Aufstand begann. Seit diesem Datum sind die Zapatisten zum grundlegenden Faktor in der mexikanischen Politik geworden. Sie stellten die Frage der indigenen Völker (und des Rassismus im Allgemeinen) in den Mittelpunkt und trugen zur Wiederbelebung der gesamten mexikanischen Linken bei.
Außerdem macht die EZLN eine Entwicklung durch, und trotz ihres "radikaldemokratischen" Rahmens gibt es starke Anzeichen dafür, dass sie sich nach links bewegt, zu einer systematischeren "klassenkämpferischen" Position in einem gesamtmexikanischen Maßstab. Auf jeden Fall ist ihre Entwicklung nicht abgeschlossen, und es wäre unsinnig zu versuchen, diese einzigartige Organisation in ein vorgefasstes Schema zu pressen. Im Folgenden sollen nur einige grundlegende Faktoren skizziert werden, die für eine Einschätzung der EZLN und ihres bedeutendsten politischen Vertreters, des Subcomandante Marcos, berücksichtigt werden müssen.
Die ersten Führer der EZLN, darunter Marcos, kommen aus der Tradition der maoistischen Guerilla, die nach der Niederlage der städtischen und ländlichen Guerillakämpfe der 70er Jahre versuchten, in den indigenen Gemeinschaften eine Basis aufzubauen. Unter (der erfolgreichsten, wenn nicht der einzigen erfolgreichen) Anwendung der Fokus-Theorie Che Guevaras gingen 1983 sechs von ihnen in den Urwald von Chiapas.
Sie benötigten mehr als ein Jahr, um überhaupt Anhänger zu finden, doch 1988 hatten sie in vielen Dörfern der indigenen Bevölkerung in Chiapas die Unterstützung der Ältesten gewonnen, die beschlossen einen Teil ihrer Söhne und Töchter in das Urwaldhochland zu schicken, um einen Aufstand vorzubereiten. Ihren ersten öffentlichen Auftritt hatte die EZLN 1992, als tausende indigener Bauern nichtuniformiert am Jahrestag der Landung von Christoph Kolumbus nach San Cristóbal de las Casas marschierten und die Statue eines berüchtigten spanischen Konquistadoren herunterrissen.
Die Führung der EZLN ist das Klandestine Indigene Revolutionäre Komitee, eine indigene Organisation, die für die sozialen Rechte der indigenen Bevölkerung, ihre Autonomie und Selbstbestimmung, kämpft. (Aber selbstverständlich betrachten sie die indigene Bevölkerung nicht als Nation und fordern nicht die Unabhängigkeit.) Sie verstehen jedoch, dass ihre Forderungen nur durch wesentliche Veränderungen der gesamten mexikanischen Gesellschaft erfüllt werden können, und sie bezeichnen dies im Allgemeinen als Demokratisierung. Nirgendwo in der Propaganda und den Schriften der EZLN findet sich eine Bezugnahme auf den Sozialismus als Ziel.
Die politische Entwicklung der EZLN ist von zwei Dingen bestimmt worden. Erstens hat die PRI-Regierung nach den San-Andreas-Abkommen von 1996, die die Notwendigkeit einer Verhandlungslösung aufzeigten, Verhandlungen verweigert und die Repression verstärkt. Die EZLN-Führung hat darauf ihre Bemühungen intensiviert, Allianzen zu bilden und politische Unterstützung in ganz Mexiko zu erhalten. Zweitens versteht Marcos sehr gut, dass Demokratisierung in Mexiko bedeutet, die PRI loszuwerden, sowie ein sozioökonomisches Modell zu verwirklichen, das eine Alternative zum Neoliberalismus darstellt.
Die EZLN hielt Ende 1995 ein nationales Referendum über die Errichtung einer nationalen politischen Organisation ab und gründete 1997 die FZLN (Zapatistische Nationale Befreiungsfront). Doch diese war keine nationale parteiähnliche politische Organisation, sondern eine Formation, die ihre Rolle auf die einer Unterstützungsorganisation für die EZLN beschränkte.
Zum Beispiel gibt es (oder gab es bis vor einem Jahr) über 50 FZLN- Gruppen in Mexiko-Stadt, die jedoch nie irgendeine Position in Bezug auf die von der PRD geführte Stadtverwaltung eingenommen haben. Der Widerspruch bei der Errichtung der FZLN durch die EZLN lag im Folgenden: um eine wirklich effektive Unterstützungsorganisation parallel zum Kampf in Chiapas aufzubauen, musste man eine Organisation aufbauen, die für Leute attraktiv ist, die in der ganzen Bandbreite der mexikanischen Politik aktiv sein wollen. Andernfalls würden sie der PRD oder der extremen Linken beitreten. Doch die FZLN erlaubt nicht, in ihrem Rahmen im breiten Spektrum der landesweiten Politik aktiv zu sein, weshalb die besten Kräfte der Linken ihr nicht beigetreten sind. Eine Organisation von Cheerleadern ist keine besonders attraktive Option.
In Mexiko-Stadt hat die FZLN viele aus der Mittelschicht angezogen, die nach eine politische Heimat suchten, während dies in einigen südlichen Bundesstaaten nicht ganz zutrifft. Andere, die bereits am Klassenkampf oder an sozialistischer Politik beteiligt sind, können die Zapatisten unterstützen, ohne der vagen und halb inaktiven FZLN beizutreten. Dies war der Preis, den Marcos für die politische und organisatorische Beschränkung der FZLN gezahlt hat. Die FZLN konnte keine lebendige neue politische Kraft werden, sicher keine neue linke Opposition zur PRD.

Linkswende der Zapatisten?
Ein Schlüsselereignis in der Entwicklung der EZLN waren jedoch die Ereignisse von Dezember 1997 bis Juni 1998. Im Dezember ‘97 fand das Massaker von Acteal statt, das eine sechs Monate dauernde militärische Offensive der Regierung gegen die von den Zapatisten geführten zivilen Gemeinden einleitete, die von den Kämpfern der EZLN, die sich tief im Urwald befanden, kaum verteidigt werden konnten. Sechs Monate lang schwieg die Führung der EZLN, was zu verschiedensten Spekulationen über das Geschehene führte: Es ist möglich, dass die EZLN-Führung über die notwendige Antwort diskutierte, ob sie ihre Basisgemeinden militärisch verteidigen könnten oder nur eine politische Antwort möglich wäre.
Im Juni 1998 griff Marcos ein mit einem 28-seitigen Dokument mit dem Titel "Masken und Schweigen" - einem Frontalangriff auf die PRI und den Neoliberalismus. Binnen zwei Wochen wurde die Fünfte Erklärung der Zapatisten veröffentlicht, die die "Zivilgesellschaft" aufrief, die indigenen Gemeinden zu verteidigen und eine friedliche Lösung zu unterstützen.
Seitdem hat die zapatistische Führung jeden einzelnen bedeutenden Kampf politisch unterstützt - vor allem den Kampf der Elektrizitätsarbeiter gegen die Privatisierung und den Streik der Studierenden der Universität von Mexiko-Stadt (UNAM) gegen die Studiengebühren (siehe SoZ 25/99). Außerdem haben sie Delegationen aus Chiapas zu verschiedenen Massendemonstrationen entsandt. Darüber hinaus organisierten sie mehrere nationale Versammlungen mit der "Zivilgesellschaft" und radikalen Gewerkschaftsströmungen in Chiapas, an denen tausende Menschen teilnahmen.
Faktisch versucht Marcos eine nationale Allianz gegen den Neoliberalismus aufzubauen sowie direkte Verbindungen zwischen den EZLN-Basisgemeinden und im Kampf befindlichen Teilen der Bevölkerung zu knüpfen. Während ihrer Kampagne für ein Referendum für Frieden und die Rechte der indígenas wurden im ganzen Land lokale "Brigaden" aufgestellt, an denen sich mehr als 20.000 Menschen beteiligten, die meisten keine Mitglieder der FZLN. Diese Strategie bedeutet die Anerkennung der Schwäche der FZLN und den Versuch, sich direkt mit den Kämpfen und den Organisationen der Kämpfe zu verbinden.
In der Vergangenheit schienen die Zapatisten oft eine ignorante Haltung gegenüber den Kämpfen der Arbeiterinnen und Arbeiter zu haben, z.B. als sie zum Kampf der Busfahrer in Mexiko-Stadt 1995/96 schwiegen. Dies hat sich deutlich geändert. Nicht unbemerkt blieb, dass die EZLN-Delegation, die 1999 zur Maidemonstration nach Mexiko-Stadt kam, mit dem Gewerkschaftsbund Primero de Mayo marschierte, der von radikalen linken (und leider z.T. ultralinken) Kräften kontrolliert wird.
In jedem Fall scheint diese politische Wende der EZLN auf der richtigen Vorstellung zu gründen, dass das Schicksal der Zapatisten und der indigenen Bevölkerung mit dem Schicksal der Kämpfe anderer Bevölkerungsteile untrennbar verknüpft ist. Marcos hat seit dem Beginn des UNAM-Streiks im April 1999 die Streikführung, die weitgehend in den Händen linker und ultralinker Kräfte ist, vollständig unterstützt.
Diese Entwicklungen sind ermutigend. Dennoch muss daran erinnert werden, dass die EZLN keine sozialistische Organisation ist und auch keinerlei Ehrgeiz hat, eine neue gesamtmexikanische sozialistische Partei zu bilden. Sie hat kein soziales und ökonomisches Programm für Mexiko ausgearbeitet. Sie ist eine Kampforganisation für die indigene Bevölkerung. Als solche spielt sie eine absolut zentrale Rolle, und eine Niederlage der Zapatisten währe ein katastrophaler Schlag gegen die gesamte mexikanische Linke. Aber sie ist keine neue sozialistische Führung für Mexiko und kann dies auch nicht sein.
Falls die PRI die Wahlen im Jahr 2000 gewinnt, wird sich der militärische Druck auf die EZLN verschärfen. Die radikalen Kräfte in Mexiko werden einen gewaltigen Kampf zur Verteidigung der Zapatisten führen müssen. Denn letztendlich ist der heutige "Krieg niedriger Intensität" nur das erste Stadium im Vorhaben der herrschenden Klasse, die indigenen Rebellen zu zerschlagen.

Die bewaffnete "Linke"
Es gibt einige bewaffnete Guerillaorganisationen auf dem Lande, aber niemand weiß genau wieviele. Öffentlich in Erscheinung getreten sind die EPR (Revolutionäre Volksarmee) und die EPRI (Revolutionäre Armee des aufständischen Volkes).
Diese Organisationen haben ihre Basis v.a. in den südlichen Bundesstaaten Guerrero, Oaxaca, Hidalgo, Veracruz und Chiapas. Verlässliche Informationen über sie sind relativ selten. Die größte dieser Organisationen ist die EPR. Sie scheint ihren Ursprung im Staat Guerrero, südlich von Mexiko-Stadt, in der (maoistischen) Partei der Armen zu haben. Die Wurzeln dieser Partei gehen auf die Bauernkämpfe der 70er Jahre zurück, die ab 1973 in eine genozidähnliche Repression seitens des Regimes mündeten. Zehntausende wurden damals von der Armee beim Versuch, den Guerillakampf zu unterdrücken, getötet.
In öffentliche Erscheinung trat die EPR im Sommer 1996, als bei einer öffentliche Gedenkfeier für die 1995 in Aguas Blancas massakrierten Bauern der Redner Cuauhtémoc Cárdenas (PRD) von dutzenden maskierten Guerilleros unterbrochen wurde, die in die Menge marschierten. Im Frühherbst 1996 errichtete die EPR Straßensperren außerhalb von Acapulco und erhob "revolutionäre Steuern". Seitdem hat sie sporadisch Angriffe auf Armeestützpunkte und -patrouillen geführt. Die Regierung behauptet, die EPR zerschlagen zu haben, doch nach Ansicht unabhängiger Beobachter ist sie in Oaxaca noch aktiv. Sicher ist, dass hunderte Aktivistinnen und Aktivisten "verschwunden" sind, ermordet oder verhaftet wurden, weil sie angeblich die EPR unterstützten.
Die Partei der Armen und die EPR werden vom Rest der Linken als Beispiele eines extremen stalinistischen Dogmatismus und Sektierertums betrachtet - angesichts ihres Ursprungs nicht überraschend. Extreme Repression und militärische Untergrundtätigkeit produzieren in Kombination oft Autoritarismus und Sektierertum - mit den "Roten Khmer" (Kambodscha) und dem "Leuchtenden Pfad" (Peru) als die schlimmsten Beispiele.
Die EPRI entstand 1998 als Abspaltung der EPR. Die politischen Differenzen liegen zwischen der Strategie des "langandauernden Volkskriegs" der EPR und einer "Aufstandsstrategie" der EPRI. Die EPRI ist in der Öffentlichkeit gegenüber der EZLN weitaus freundlicher aufgetreten und hat bspw. sogar das nationale Referendum der Zapatisten unterstützt.
Die EPRI scheint mit ihrer Strategie eine Konzeption des Aufstands zu vertreten, nach der dieser hauptsächlich das Werk der Bevölkerung ist und nicht der revolutionären Armee und in der die Rolle der Gewalt vor allem die der "bewaffneten Selbstverteidigung" ist. Andererseits hat die EPRI kürzlich in Guerrero vier Soldaten als Vergeltung für den Mord an zwei Bauern und die Vergewaltigung zweier Bäuerinnen durch die Armee erschossen.
Über die anderen bewaffneten Organisationen ist fast nichts bekannt. Wieviele Kämpferinnen und Kämpfer die militärische Linke insgesamt auch haben mag - wahrscheinlich einige hundert -, so sollte die politische Unterstützung, die sie in den südlichen Bundesstaaten genießt, nicht unterschätzt werden. Extreme Armut und die brutale Repression der Bauern im Allgemeinen sowie besonders der indigenen Bevölkerung sind die Quelle dieser Unterstützung.
Doch ist der langandauernde Guerillakrieg keine gangbare Strategie in Mexiko - aufgrund der extremen Urbanisierung des Landes (75% der Bevölkerung leben in Städten) und wegen der Größe der mexikanischen Armee und ihrer mit US-Hilfe und -Experten betriebenen Aufstandsbekämpfungsstrategie. Der Militarismus ist ein Produkt der Bauernschaft, nicht der Arbeiterklasse. Er ist nicht fähig, in den großen Städten, in denen sich die Volksmassen hauptsächlich konzentrieren, eine entsprechende Unterstützung aufzubauen. Und große Teile der Linken werden gewöhnlich vom Autoritarismus und Sektierertum dieser Organisationen abgestoßen.
Phil Hearse


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