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Der folgende Beitrag ist Teil II unserer Serie über die mexikanische Linke und behandelt die
Zapatistische Nationale Befreiungsarmee (EZLN) sowie die anderen bewaffneten Organisationen. Im Mittelpunkt von Teil I in SoZ 2/00 stand
die von Cuauhtémoc Cárdenas geführte Partei der demokratischen Revolution (PRD).
Am 1.Januar 1994 änderte sich die politische Landschaft Mexikos
grundlegend, als die EZLN (Zapatistische Nationale Befreiungsarmee) ihren Aufstand begann. Seit diesem Datum sind die Zapatisten zum
grundlegenden Faktor in der mexikanischen Politik geworden. Sie stellten die Frage der indigenen Völker (und des Rassismus im
Allgemeinen) in den Mittelpunkt und trugen zur Wiederbelebung der gesamten mexikanischen Linken bei.
Außerdem macht die EZLN eine Entwicklung durch, und trotz ihres
"radikaldemokratischen" Rahmens gibt es starke Anzeichen dafür, dass sie sich nach links bewegt, zu einer systematischeren
"klassenkämpferischen" Position in einem gesamtmexikanischen Maßstab. Auf jeden Fall ist ihre Entwicklung nicht
abgeschlossen, und es wäre unsinnig zu versuchen, diese einzigartige Organisation in ein vorgefasstes Schema zu pressen. Im Folgenden
sollen nur einige grundlegende Faktoren skizziert werden, die für eine Einschätzung der EZLN und ihres bedeutendsten politischen
Vertreters, des Subcomandante Marcos, berücksichtigt werden müssen.
Die ersten Führer der EZLN, darunter Marcos, kommen aus der
Tradition der maoistischen Guerilla, die nach der Niederlage der städtischen und ländlichen Guerillakämpfe der 70er Jahre
versuchten, in den indigenen Gemeinschaften eine Basis aufzubauen. Unter (der erfolgreichsten, wenn nicht der einzigen erfolgreichen)
Anwendung der Fokus-Theorie Che Guevaras gingen 1983 sechs von ihnen in den Urwald von Chiapas.
Sie benötigten mehr als ein Jahr, um überhaupt Anhänger
zu finden, doch 1988 hatten sie in vielen Dörfern der indigenen Bevölkerung in Chiapas die Unterstützung der Ältesten
gewonnen, die beschlossen einen Teil ihrer Söhne und Töchter in das Urwaldhochland zu schicken, um einen Aufstand
vorzubereiten. Ihren ersten öffentlichen Auftritt hatte die EZLN 1992, als tausende indigener Bauern nichtuniformiert am Jahrestag der
Landung von Christoph Kolumbus nach San Cristóbal de las Casas marschierten und die Statue eines berüchtigten spanischen
Konquistadoren herunterrissen.
Die Führung der EZLN ist das Klandestine Indigene
Revolutionäre Komitee, eine indigene Organisation, die für die sozialen Rechte der indigenen Bevölkerung, ihre Autonomie
und Selbstbestimmung, kämpft. (Aber selbstverständlich betrachten sie die indigene Bevölkerung nicht als Nation und
fordern nicht die Unabhängigkeit.) Sie verstehen jedoch, dass ihre Forderungen nur durch wesentliche Veränderungen der gesamten
mexikanischen Gesellschaft erfüllt werden können, und sie bezeichnen dies im Allgemeinen als Demokratisierung. Nirgendwo in
der Propaganda und den Schriften der EZLN findet sich eine Bezugnahme auf den Sozialismus als Ziel.
Die politische Entwicklung der EZLN ist von zwei Dingen bestimmt
worden. Erstens hat die PRI-Regierung nach den San-Andreas-Abkommen von 1996, die die Notwendigkeit einer Verhandlungslösung
aufzeigten, Verhandlungen verweigert und die Repression verstärkt. Die EZLN-Führung hat darauf ihre Bemühungen
intensiviert, Allianzen zu bilden und politische Unterstützung in ganz Mexiko zu erhalten. Zweitens versteht Marcos sehr gut, dass
Demokratisierung in Mexiko bedeutet, die PRI loszuwerden, sowie ein sozioökonomisches Modell zu verwirklichen, das eine
Alternative zum Neoliberalismus darstellt.
Die EZLN hielt Ende 1995 ein nationales Referendum über die
Errichtung einer nationalen politischen Organisation ab und gründete 1997 die FZLN (Zapatistische Nationale Befreiungsfront). Doch
diese war keine nationale parteiähnliche politische Organisation, sondern eine Formation, die ihre Rolle auf die einer
Unterstützungsorganisation für die EZLN beschränkte.
Zum Beispiel gibt es (oder gab es bis vor einem Jahr) über 50 FZLN-
Gruppen in Mexiko-Stadt, die jedoch nie irgendeine Position in Bezug auf die von der PRD geführte Stadtverwaltung eingenommen
haben. Der Widerspruch bei der Errichtung der FZLN durch die EZLN lag im Folgenden: um eine wirklich effektive
Unterstützungsorganisation parallel zum Kampf in Chiapas aufzubauen, musste man eine Organisation aufbauen, die für Leute
attraktiv ist, die in der ganzen Bandbreite der mexikanischen Politik aktiv sein wollen. Andernfalls würden sie der PRD oder der
extremen Linken beitreten. Doch die FZLN erlaubt nicht, in ihrem Rahmen im breiten Spektrum der landesweiten Politik aktiv zu sein, weshalb
die besten Kräfte der Linken ihr nicht beigetreten sind. Eine Organisation von Cheerleadern ist keine besonders attraktive Option.
In Mexiko-Stadt hat die FZLN viele aus der Mittelschicht angezogen, die
nach eine politische Heimat suchten, während dies in einigen südlichen Bundesstaaten nicht ganz zutrifft. Andere, die bereits am
Klassenkampf oder an sozialistischer Politik beteiligt sind, können die Zapatisten unterstützen, ohne der vagen und halb inaktiven
FZLN beizutreten. Dies war der Preis, den Marcos für die politische und organisatorische Beschränkung der FZLN gezahlt hat. Die
FZLN konnte keine lebendige neue politische Kraft werden, sicher keine neue linke Opposition zur PRD.
Linkswende der Zapatisten?
Ein Schlüsselereignis in der Entwicklung der EZLN waren jedoch
die Ereignisse von Dezember 1997 bis Juni 1998. Im Dezember 97 fand das Massaker von Acteal statt, das eine sechs Monate dauernde
militärische Offensive der Regierung gegen die von den Zapatisten geführten zivilen Gemeinden einleitete, die von den
Kämpfern der EZLN, die sich tief im Urwald befanden, kaum verteidigt werden konnten. Sechs Monate lang schwieg die Führung
der EZLN, was zu verschiedensten Spekulationen über das Geschehene führte: Es ist möglich, dass die EZLN-Führung
über die notwendige Antwort diskutierte, ob sie ihre Basisgemeinden militärisch verteidigen könnten oder nur eine politische
Antwort möglich wäre.
Im Juni 1998 griff Marcos ein mit einem 28-seitigen Dokument mit dem
Titel "Masken und Schweigen" - einem Frontalangriff auf die PRI und den Neoliberalismus. Binnen zwei Wochen wurde die
Fünfte Erklärung der Zapatisten veröffentlicht, die die "Zivilgesellschaft" aufrief, die indigenen Gemeinden zu
verteidigen und eine friedliche Lösung zu unterstützen.
Seitdem hat die zapatistische Führung jeden einzelnen bedeutenden
Kampf politisch unterstützt - vor allem den Kampf der Elektrizitätsarbeiter gegen die Privatisierung und den Streik der
Studierenden der Universität von Mexiko-Stadt (UNAM) gegen die Studiengebühren (siehe SoZ 25/99). Außerdem haben sie
Delegationen aus Chiapas zu verschiedenen Massendemonstrationen entsandt. Darüber hinaus organisierten sie mehrere nationale
Versammlungen mit der "Zivilgesellschaft" und radikalen Gewerkschaftsströmungen in Chiapas, an denen tausende Menschen
teilnahmen.
Faktisch versucht Marcos eine nationale Allianz gegen den
Neoliberalismus aufzubauen sowie direkte Verbindungen zwischen den EZLN-Basisgemeinden und im Kampf befindlichen Teilen der
Bevölkerung zu knüpfen. Während ihrer Kampagne für ein Referendum für Frieden und die Rechte der
indígenas wurden im ganzen Land lokale "Brigaden" aufgestellt, an denen sich mehr als 20.000 Menschen beteiligten, die
meisten keine Mitglieder der FZLN. Diese Strategie bedeutet die Anerkennung der Schwäche der FZLN und den Versuch, sich direkt mit
den Kämpfen und den Organisationen der Kämpfe zu verbinden.
In der Vergangenheit schienen die Zapatisten oft eine ignorante Haltung
gegenüber den Kämpfen der Arbeiterinnen und Arbeiter zu haben, z.B. als sie zum Kampf der Busfahrer in Mexiko-Stadt 1995/96
schwiegen. Dies hat sich deutlich geändert. Nicht unbemerkt blieb, dass die EZLN-Delegation, die 1999 zur Maidemonstration nach
Mexiko-Stadt kam, mit dem Gewerkschaftsbund Primero de Mayo marschierte, der von radikalen linken (und leider z.T. ultralinken)
Kräften kontrolliert wird.
In jedem Fall scheint diese politische Wende der EZLN auf der richtigen
Vorstellung zu gründen, dass das Schicksal der Zapatisten und der indigenen Bevölkerung mit dem Schicksal der Kämpfe
anderer Bevölkerungsteile untrennbar verknüpft ist. Marcos hat seit dem Beginn des UNAM-Streiks im April 1999 die
Streikführung, die weitgehend in den Händen linker und ultralinker Kräfte ist, vollständig unterstützt.
Diese Entwicklungen sind ermutigend. Dennoch muss daran erinnert
werden, dass die EZLN keine sozialistische Organisation ist und auch keinerlei Ehrgeiz hat, eine neue gesamtmexikanische sozialistische Partei
zu bilden. Sie hat kein soziales und ökonomisches Programm für Mexiko ausgearbeitet. Sie ist eine Kampforganisation für
die indigene Bevölkerung. Als solche spielt sie eine absolut zentrale Rolle, und eine Niederlage der Zapatisten währe ein
katastrophaler Schlag gegen die gesamte mexikanische Linke. Aber sie ist keine neue sozialistische Führung für Mexiko und kann
dies auch nicht sein.
Falls die PRI die Wahlen im Jahr 2000 gewinnt, wird sich der
militärische Druck auf die EZLN verschärfen. Die radikalen Kräfte in Mexiko werden einen gewaltigen Kampf zur
Verteidigung der Zapatisten führen müssen. Denn letztendlich ist der heutige "Krieg niedriger Intensität" nur das
erste Stadium im Vorhaben der herrschenden Klasse, die indigenen Rebellen zu zerschlagen.
Die bewaffnete "Linke"
Es gibt einige bewaffnete Guerillaorganisationen auf dem Lande, aber
niemand weiß genau wieviele. Öffentlich in Erscheinung getreten sind die EPR (Revolutionäre Volksarmee) und die EPRI
(Revolutionäre Armee des aufständischen Volkes).
Diese Organisationen haben ihre Basis v.a. in den südlichen
Bundesstaaten Guerrero, Oaxaca, Hidalgo, Veracruz und Chiapas. Verlässliche Informationen über sie sind relativ selten. Die
größte dieser Organisationen ist die EPR. Sie scheint ihren Ursprung im Staat Guerrero, südlich von Mexiko-Stadt, in der
(maoistischen) Partei der Armen zu haben. Die Wurzeln dieser Partei gehen auf die Bauernkämpfe der 70er Jahre zurück, die ab
1973 in eine genozidähnliche Repression seitens des Regimes mündeten. Zehntausende wurden damals von der Armee beim
Versuch, den Guerillakampf zu unterdrücken, getötet.
In öffentliche Erscheinung trat die EPR im Sommer 1996, als bei
einer öffentliche Gedenkfeier für die 1995 in Aguas Blancas massakrierten Bauern der Redner Cuauhtémoc
Cárdenas (PRD) von dutzenden maskierten Guerilleros unterbrochen wurde, die in die Menge marschierten. Im Frühherbst 1996
errichtete die EPR Straßensperren außerhalb von Acapulco und erhob "revolutionäre Steuern". Seitdem hat sie
sporadisch Angriffe auf Armeestützpunkte und -patrouillen geführt. Die Regierung behauptet, die EPR zerschlagen zu haben, doch
nach Ansicht unabhängiger Beobachter ist sie in Oaxaca noch aktiv. Sicher ist, dass hunderte Aktivistinnen und Aktivisten
"verschwunden" sind, ermordet oder verhaftet wurden, weil sie angeblich die EPR unterstützten.
Die Partei der Armen und die EPR werden vom Rest der Linken als
Beispiele eines extremen stalinistischen Dogmatismus und Sektierertums betrachtet - angesichts ihres Ursprungs nicht überraschend.
Extreme Repression und militärische Untergrundtätigkeit produzieren in Kombination oft Autoritarismus und Sektierertum - mit den
"Roten Khmer" (Kambodscha) und dem "Leuchtenden Pfad" (Peru) als die schlimmsten Beispiele.
Die EPRI entstand 1998 als Abspaltung der EPR. Die politischen
Differenzen liegen zwischen der Strategie des "langandauernden Volkskriegs" der EPR und einer "Aufstandsstrategie"
der EPRI. Die EPRI ist in der Öffentlichkeit gegenüber der EZLN weitaus freundlicher aufgetreten und hat bspw. sogar das
nationale Referendum der Zapatisten unterstützt.
Die EPRI scheint mit ihrer Strategie eine Konzeption des Aufstands zu
vertreten, nach der dieser hauptsächlich das Werk der Bevölkerung ist und nicht der revolutionären Armee und in der die
Rolle der Gewalt vor allem die der "bewaffneten Selbstverteidigung" ist. Andererseits hat die EPRI kürzlich in Guerrero vier
Soldaten als Vergeltung für den Mord an zwei Bauern und die Vergewaltigung zweier Bäuerinnen durch die Armee erschossen.
Über die anderen bewaffneten Organisationen ist fast nichts bekannt.
Wieviele Kämpferinnen und Kämpfer die militärische Linke insgesamt auch haben mag - wahrscheinlich einige hundert -, so
sollte die politische Unterstützung, die sie in den südlichen Bundesstaaten genießt, nicht unterschätzt werden. Extreme
Armut und die brutale Repression der Bauern im Allgemeinen sowie besonders der indigenen Bevölkerung sind die Quelle dieser
Unterstützung.
Doch ist der langandauernde Guerillakrieg keine gangbare Strategie in
Mexiko - aufgrund der extremen Urbanisierung des Landes (75% der Bevölkerung leben in Städten) und wegen der
Größe der mexikanischen Armee und ihrer mit US-Hilfe und -Experten betriebenen Aufstandsbekämpfungsstrategie. Der
Militarismus ist ein Produkt der Bauernschaft, nicht der Arbeiterklasse. Er ist nicht fähig, in den großen Städten, in denen
sich die Volksmassen hauptsächlich konzentrieren, eine entsprechende Unterstützung aufzubauen. Und große Teile der Linken
werden gewöhnlich vom Autoritarismus und Sektierertum dieser Organisationen abgestoßen.
Phil Hearse