Sozialistische Zeitung |
Zehntausende Studenten, unterstützt von Oppositionspolitikern und Gewerkschaftern, demonstrierten am
9.Februar gegen die polizeiliche Räumung der staatlichen Universität Mexikos (UNAM) und für die Freilassung ihrer
inhaftierten Kommilitonen. Schätzungen sprechen von bis zu 150000 Teilnehmern, die vor den Regierungspalast im Stadtzentrum von
Mexiko-Stadt zogen. Die Studentenbewegung zeigte damit, dass sie sich nach ihrer Niederlage auf dem Campus keineswegs geschlagen gibt.
Bereits am Dienstag hatten sich mehr als 800 UNAM-Studierende in der
UAM, einer anderen staatlichen Hauptstadt-Universität, versammelt und verkündet, der Streik werde fortgesetzt. Die inhaftierten
Studierenden sind für sie "politische Gefangene". Studenten mehrerer Universitäten traten in eintägige
Solidaritätsstreiks und kündigten weitere Aktionen an.
Am Sonntag hatte die Polizei auf Geheiß von Präsident Ernesto
Zedillo den seit fast zehn Monaten von streikenden Studierenden besetzten UNAM-Campus geräumt und hunderte Aktivisten
festgenommen. Mit ihrem Streik protestierten die Studenten gegen die Einführung von Studiengebühren und Einschnitte in die Uni-
Autonomie.
Die Studenten erfahren Unterstützung und Verständnis in einem
Ausmaß, das sie während ihres Streiks wohl nur ganz zu Anfang hatten. Für die "sofortige Freilassung" aller
Studenten hat sich der Präsidentschaftskandidat Cuauhtémoc Cárdenas von der gemäßigt linken PRD
ausgesprochen. López Obrador, PRD-Bürgermeisterkandidat für die Hauptstadt, rief persönlich zur Mittwochsdemonstration
auf.
Doch die PRD steckt in einem Dilemma: Einerseits macht die Regierung
die PRD immer wieder für den Streik verantwortlich, andererseits hat die große Mehrheit der Streikenden die unklare Haltung der
PRD zum Uni-Streik scharf kritisiert.
Ein gespaltenes Verhalten zum Streik hatten auch die linksliberalen
Intellektuellen, deren Ratschläge vom Obersten Streikrat der Studenten kaum zur Kenntnis genommen wurden. Das führte dazu, dass
viele Persönlichkeiten sich wenige Tage vor der Räumung hinter den UNAM-Rektor de la Fuente stellten. Nun müssen sie
sich fragen lassen, ob sie sich nicht naiverweise vor den Regierungskarren spannen ließen und der polizeilichen Lösung, die sie
jetzt verdammen, den Weg bereiteten. PRD-Mitglieder wie der Historiker Adolfo Gilly sind heute überzeugt, dass die Regierung nur auf
Zeit spielte, aber nie ernsthaft mit den Studenten verhandeln wollte.
Unklar ist noch, wie die Regierung weiter verfahren will. Der ehemalige
Innenminister und jetzige Präsidentschaftskandidat der regierenden PRI, Francisco Labastida Ochoa, verlangt plötzlich eine
"generöse Versöhnung". Doch sein Amtsnachfolger Diodoro Carrasco lehnt eine Amnestie für die Studierenden
ab. 269 von ursprünglich über 800 Festgenommenen sitzen noch in verschiedenen Gefängnissen. Gegen 85 von ihnen ist
inzwischen sogar Anklage wegen "Terrorismus" erhoben worden. Viele Studenten sind derzeit untergetaucht, über 400
Haftbefehle sollen nicht vollstreckt worden sein.
Eine harte Linie wird von den Unternehmerverbänden, der
katholischen Kirchenhierarchie und einigen Politikern der konservativen Oppositionspartei PAN gefordert. Die großen privaten
Fernsehsender TV Azteca und Televisa unterstützen mit ihren Kommentaren und selektiven Informationen diesen Kurs. Sie haben in
diesen Tagen Ruhe und Ordnung als oberste Staatsräson entdeckt.
In einigen Äußerungen kommt auch die Befürchtung zum
Ausdruck, die Regierung könne noch vor den Präsidentschaftswahlen im Juli dieses Jahres versuchen, den Aufstand der
zapatistischen Guerilla im Bundesstaat Chiapas niederzuschlagen. Der amtierende Präsident Zedillo äußerte sich vor kurzem
offen verächtlich über die Zapatisten und zeigte kein Interesse mehr an der Neuaufnahme von Verhandlungen. Da es in vergangenen
Jahren durchaus üblich war, dass der scheidende Amtsinhaber seinem wahrscheinlichen Nachfolger aus der eigenen Partei unangenehme
imageschädigende Aufgaben abnimmt, ist die Argumentation nicht aus der Luft gegriffen.
Gerold Schmidt (Mexiko-Stadt)