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Die Wurzeln der Billiglohnpolitik liegen in der monetaristischen Konterrevolution Ende der 70er Jahre.
Damals schwenkten alle Wirtschaftsinstitute mit Ausnahme des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung auf diese Linie ein; das DIW
blieb einer keynesianischen Orientierung verhaftet. Nach neoliberaler Vorstellung gibt es keine Erwerbslosigkeit, es gibt nur zu teure Arbeit.
Erwerbslosigkeit entsteht dann, wenn der Marktpreis für Arbeit über dem Gleichgewichtspreis liegt, der durch das
Verhältnis von Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt gebildet wird. Dabei erhalten die abhängig Beschäftigten mit
dem Lohn nicht die Kosten für die Reproduktion der Arbeitskraft, sondern den Gegenwert für ihre Arbeitsleistung. Wenn die
Arbeitsproduktivität niedrig ist, ist auch die Arbeitsleistung gering; solche Beschäftigten haben auf dem Arbeitsmarkt demzufolge
nur eine Chance, wenn der Lohn der niederen Produktivität angepasst wird.
In der Sozialdemokratie griff als erster Fritz Scharpf den Gedanken auf, die
SPD müsse sich von der klassischen Wohlfahrtspolitik lösen und der aufkommenden Massenarbeitslosigkeit durch Verbilligung der
Arbeitskraft sowie durch Teilung der Arbeitsplätze bei entsprechendem Einkommensverlust begegnen. Scharpf behauptet, das bestehende
System der Sozialversicherung führe zu einer Verknappung und dadurch Verteuerung der Arbeitskräfte; damit entstehe eine
"Sozialstaatsfalle". Das sei vor allem für die auf den Binnenmarkt orientierte Industrie und für den
Dienstleistungssektor ein Problem. Er setzt vor allem auf die Senkung der Lohnnebenkosten, d.h. des Soziallohns der Beschäftigten.
Faktisch unterscheidet sich die sozialdemokratische Variante von der
neoliberalen nur darin, dass sie Niedrigeinkommen staatlich subventionieren will.
Im vergangenen Jahr haben in den Bündnis-für Arbeit-
Gesprächen zwei Kollegen von Scharpf, Wolfgang Streeck und R. Heinze, beide am Max-Planck-Institut für
Gesellschaftswissenschaft, von sich reden gemacht; sie haben ein Konzept vorgelegt, wie ein Billiglohnsektor aussehen könnte.
Streeck und Heinze rechnen eine Beschäftigungslücke im
Dienstleistungssektor vor: es fehlten vier bis sechs Millionen einfache, d.h. gering qualifizierte Arbeitsplätze. Positive Gegenbeispiele,
wie Arbeitsplätze gerade in diesen Bereichen geschaffen und die Arbeitslosigkeit dadurch gesenkt werden könne, sehen sie in
erster Linie in den USA (die sog. "Mac-Jobs").
Ausgehend von der These vom "Ende der Industriegesellschaft"
kritisieren sie die Beschäftigungs- und Wirtschaftsstruktur der Bundesrepublik als veraltet, weil die deutsche Wirtschaft in erster Linie
noch von Industrieproduktion geprägt ist. Eine "moderne" Wirtschaftsstruktur sei jedoch eine, die ihr Einkommen vorwiegend
aus den Bereichen Finanzen, Versicherungen und Immobilien beziehe.
Diese These ist in den Gewerkschaften umstritten. Michael Wendl weist
darauf hin, dass viele Servicebetriebe, die heute statistisch unter "Dienstleistung" rangieren, tatsächlich Dienstleistungen
für die Industrieproduktion bereitstellen und zu deren Kreislauf gehören.
Der Prozess der Ausgliederung solcher Bereiche aus den
Produktionsbetrieben ist in den USA weiter fortgeschritten als in der BRD. Tatsächlich ist der Industriesektor in den USA damit
größer als angegeben. Hinzu kommt, dass es in Deutschland mit der Beamtenschaft einen ausgedehnten Bereich versicherungsfreier
Beschäftigung gibt, der so in den USA nicht existiert.
Das DIW kommt deshalb zum Schluss, dass der Unterschied zwischen den
Größenordnungen von Industrie und Dienstleistungssektor in den USA und in Deutschland gar nicht so groß ist. Dafür
sei die US-Industrie in vielen Industriebereichen nicht wettbewerbsfähig; zahlreiche Konsumgüter würden aus Asien (die
billigen) bzw. aus Europa (die teuren) importiert.
Während die bundesdeutsche Wirtschaft ein strukturelles
Außenhandelsplus aufweist, liegen die USA hier im Minus. Wegen ihres großen Binnenmarkts und der Dominanz des Dollars auf
den Weltmärkten spielt dies für die US-amerikanische Wirtschaft allerdings eine untergeordnete Rolle. Immerhin könne man
aus dem Vergleich USA-Deutschland nicht ableiten, dass die USA ein ökonomisches Erfolgsmodell seien, weder in wirtschaftlicher noch
in sozialer Hinsicht treffe dies zu.
Wendl beklagt, die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften hierzulande
nähmen diese Kritik in aller Regel nicht zur Kenntnis - trotz eindeutiger Gegenbeweise. Die Aussicht von der Dienstleistungsgesellschaft
als Ausweg aus der Massenerwerbslosigkeit sei ein Märchen.
Auf einer gemeinsamen tarifpolitischen Tagung am 1. und 2.Juni 1999
erteilten die ver.di-Gewerkschaften DAG, DPG, HBV, IG Medien und ÖTV "allen Versuchen, die Umstrukturierungsprozesse in
Wirtschaft und Gesellschaft für eine Lohnspirale nach unten zu missbrauchen, eine entschiedene Absage. Lohnspreizung schafft keine
neuen Arbeitsplätze." Sie begründeten dies so: "Die fünf Gewerkschaften halten den Ansatz für verfehlt,
Dienstleistungen an sich im Vergleich zur industriellen Arbeit als weniger produktiv zu betrachten. Dienstleistungen erfordern eine hohe
Qualifikation sowie ein hohes Maß an Flexibilität in der Arbeitsorganisation … Die Subventionierung des sog. Niedriglohnsektors
würde nur zu Mitnahme- bzw. Verdrängungseffekten sowie zu einer Absenkung des Tarifniveaus führen. Die Gewerkschaften
halten deshalb das von Mitgliedern der Benchmarking-Arbeitsgruppe vorgelegte Konzept einer staatlichen, flächendeckenden
Subventionierung von Sozialversicherungsbeiträgen im Niedriglohnbereich für keinen tauglichen Ansatz, die
Massenarbeitslosigkeit zu bekämpfen."
Anfang Dezember wurde im Bündnis für Arbeit dennoch
vereinbart, die beiden bereits laufenden "Modellprojekte" im Saarland und in Mainz auf weitere Arbeitsamtbezirke im Westen und
im Osten auszudehnen. Im Saarland werden die Arbeitnehmerbeiträge zur Sozialversicherung bis zu einem Bruttolohn von 1800 DM vom
Staat übernommen. In Mainz werden bei Stundenlöhnen von 5 bis 15,50 DM beide Anteile an der Sozialversicherung degressiv (in
abnehmender Höhe) übernommen. Es ist allerdings davon auszugehen, dass keines der Modelle zu nennenswerten
Beschäftigungseffekten führen wird.
Übrigens trat auch Lafontaine für einen Niedriglohnsektor ein,
nach saarländischem Modell. Er verband dies nur mit einer expansiven Finanzpolitik, die die Unternehmer steuerlich belasten und die
Nachfrage stärken sollte. Die jetzige Bundesregierung vertritt davon nur noch den ersten, nicht mehr den zweiten Teil.
Michael Wendl