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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.4 vom 17.02.2000, Seite 6

Armut trotz Arbeit

Sozialhilfe ist das Letzte

Arbeitende Arme bezeichnet eine Kategorie von Menschen, die trotz Erwerbstätigkeit nicht genug zum Leben haben. Sie widersprechen dem verbreiteten Vorurteil, dass Armut selbstverschuldet sei, weil sie durch Erwerbslosigkeit zustande komme. An dieser aber - so will es die übereinstimmende Propaganda von Staat, Unternehmern und Medien - sind die Betroffenen selbst schuld, sie wollen ja nicht arbeiten.

Arbeitende Arme sind eine schallende Ohrfeige für solche Propagandisten. Armut trotz Arbeit ist nicht nur Zukunftsmusik in einem Blair-/Schröder‘schen Programm zur Senkung der Erwerbslosenzahlen; sie ist Gegenwart, eine millionenfache Existenz in Deutschland, von der niemand spricht - am allerwenigsten die Betroffenen selbst, denn sie wollen nicht arm sein.
Aus der Armutsberichterstattung in der BRD wurde das Thema "Armut von Erwerbstätigen" bisher weitgehend ausgeklammert. Den ersten bundesweiten Armutsbericht überhaupt erstellte der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband (DPWV) 1989. Hier wird die Armut aller möglichen besonderen Gruppen zum Thema gemacht, nur nicht die Armut von arbeitenden Menschen. Das hängt mit dem "Lebenslagenkonzept" und der damit verbundenen Abkehr von Sozialhilfe als Armutsmaßstab zusammen, sowie mit dem verengten Betreuungswinkel eines Wohlfahrtsverbands, zu dessen Klientel eben arbeitende Menschen in der Regel nicht gehören.
Pauschal wird im genannten Armutsbericht davon ausgegangen, dass Vollzeitbeschäftigte unter Tariflöhne fallen und diese den Charakter von Mindestlöhnen hätten. Armut kann es also bei Vollzeitbeschäftigten dank der Tarifpolitik der Gewerkschaften nicht geben.
Dieses Bild pflegt auch der DGB. Der Bericht der Nationalen Armutskonferenz, der 1994 von DGB und DPWV gemeinsam erstellt wurde, ordnet Arbeit und Armut unterschiedlichen Lebenslagen zu. Armut könne im Zusammenhang mit Arbeit nur durch Unterversorgung mit Arbeit entstehen (Erwerbslosigkeit oder Teilzeitarbeit, prekäre Beschäftigung usw.).
Auch andere sozialwissenschaftliche Untersuchungen thematisieren Armut im Zusammenhang mit Arbeit nur als Mangel an Arbeit: Eine Studie des Nell-Breuning-Instituts von 1994 spricht von 20% der westdeutschen Erwerbstätigen, die geringfügig beschäftigt sind und deshalb zum großen Teil nur ein Einkommen in der Nähe oder gar unterhalb des Sozialhilfeniveaus beziehen. Dass auch ein sog. "Normalarbeitsverhältnis", eine Vollzeitbeschäftigung Menschen an oder unter die Armutsgrenze treiben kann, davon ist nirgends die Rede.
Diese Lücke versucht der Frankfurter Professor an der Fachhochschule für Sozialarbeit, Rainer Roth, zu füllen. Er hat vor zwei Jahren eine Studie über die Armut von Erwerbstätigen veröffentlicht, die auf Grund der begrenzten Mittel, die ihm zur Verfügung standen, zwangsläufig nicht repräsentativ ausfiel. Er befragte 211 Haushalte von ArbeiterInnen und Angestellten im Zeitraum zwischen Mai 1992 und Mai 1994, davon 190 Vollzeitbeschäftigte und 21 Teilzeitbeschäftigte, überwiegend in Westdeutschland.
Die Studie vermittelt einen ausgezeichneten Einblick in die verdeckte Armut. Vor allem sprengt sie die von Gewerkschaften wie Wohlfahrtsverbänden gleichermaßen gepflegte, sorgfältige Trennung zwischen der Welt der Erwerbslosen und der der Erwerbstätigen; er präsentiert ein Gesamtbild, das die verschiedenen Lebenssituationen berücksichtigt und vergleicht.

Die im Dunkeln sieht man nicht

Als Armutsgrenze gilt in Deutschland die Sozialhilfe. Die bezieht aber nur ein geringfügiger Teil derer, die Anspruch darauf hätten; vor allem Erwerbstätige scheuen den Gang zum Sozialamt auch dann, wenn ihr Einkommen unterhalb des Sozialhilfeniveaus liegt. Damit fallen sie aus den Armutsberichten heraus.
Bisherige Untersuchungen gehen davon aus, dass auf eine Sozialhilfebezieherin eine kommt, die keinen Antrag auf Sozialhilfe stellt. Die "Dunkelziffer" beträgt demzufolge 1:1.
Roth setzt sich detailliert mit diesen Untersuchungen auseinander und kommt zu ganz anderen Ergebnissen: "Von 60 [untersuchten] Haushalten, die Sozialhilfeansprüche hatten, nahmen nur sechs sie wahr. Anders ausgedrückt: Von 100 sozialhilfeberechtigten Haushalten nehmen zehn Sozialhilfe in Anspruch, neunzig aber nicht. Die Dunkelziffer ist also 1:9."
1993 gab es 141000 Haushalte von Erwerbstätigen, die ergänzende Sozialhilfe bezogen. Unterstellt man eine Dunkelziffer von 1:9, dann gäbe es 1,26 Millionen Haushalte von Erwerbstätigen mit Sozialhilfeansprüchen, die nicht eingelöst wurden" (zusammen 1,4 Millionen sozialhilfeberechtigte Haushalte von Erwerbstätigen; bei angenommenen 22 Millionen Erwerbstätigen wären dies ca. 7%).
Roth stützt seine Vermutung mit einer Fülle von Berechnungen, die hier darzustellen den Rahmen sprengen würde. Schließlich beklagt er, dass das Verhältnis des Lohnniveaus zum Sozialhilfeniveau nicht Gegenstand der empirischen Forschung ist; eine repräsentative Erhebung darüber steht seit Mitte der 70er Jahre aus. "Interesse daran scheint bis heute nirgendwo zu bestehen."
Nur einmal, 1979/80, gab es eine Erhebung des Kölner Instituts für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik, die 1982 von der Bundesregierung veröffentlicht wurde. Sie stellte besagte Dunkelziffer von 1:1 auf und bewies "ausgerechnet im Krisenjahr 1982, dass mindestens die Hälfte der Sozialhilfeberechtigten kein Geld bekommt.
Der Druck, der von daher auf der Studie und ihren Autoren lastete, schlug sich bis in die Berechnungsmethoden und die Auswertung der Ergebnisse nieder. Die Bundesregierung hat denn auch niemals wieder einen vergleichbaren Versuch unternommen. Der Druck, die Staatsfinanzen auf Kosten von SozialhilfebezieherInnen zu sanieren, führte dazu, dass das Problem der Nichtinanspruchnahme heruntergespielt wurde, bis es völlig in der Versenkung verschwand."
Leider haben bisher auch die Gewerkschaften und die Wohlfahrtsverbände diese Fragestellung nicht aufgegriffen.

Die Hälfte lebt unter Sozialhilfeniveau

Von den befragten 211 Erwerbstätigen-Haushalten lebt etwa die Hälfte unter dem Niveau der Sozialhilfe. Warum gehen Erwerbstätige nicht zum Sozialamt? Warum rutschen sie unter das Sozialhilfeniveau? Und wie kommen sie über die Runden? Roth spricht eine Reihe von Gründen an, die Erwerbstätige am Gang zum Sozialamt hindern:
- "Sozialhilfe wird nicht als wesentliches Mittel verstanden, der eigenen Armut entgegenzuwirken." Der Weg zum Sozialamt ist zeitraubend, oft erfolglos und demütigend. "Wegen der paar Mark [die Erwerbstätige an ergänzender Sozialhilfe dazu bekommen können] lohnt sich der Aufwand nicht", erklärten in einer Untersuchung der Caritas über verdeckte Armut immerhin 29% der Befragten.
Keinen Antrag zu stellen, kann sogar vorteilhafter sein, als sich vor dem Sozialamt ausziehen zu müssen. Roth kommt in seiner Umfrage zum Ergebnis: "Erwerbstätige gehen erst dann zum Sozialamt, wenn sie mit ihren realen Nettoeinkommen in Durchschnitt um über 30% unter das Sozialhilfeniveau gefallen sind. [Sie sind] das Ergebnis eines massiven Verarmungsprozesses."
- Selbsthilfe ist vorrangig. "Lieber mehr arbeiten, lieber sich teilweise extrem einschränken, lieber Schulden machen, als zum Sozialamt gehen." Der Wunsch, "selber für sich sorgen zu können", reflektiert auch den Wunsch nach Unabhängigkeit, und sei es nur die, die eine lohnabhängige Arbeit ermöglicht. Wenn der Lohn nicht ausreicht, wird der Versuch gemacht, den Lohn zu erhöhen: durch eigene Mehrarbeit, durch Mehrarbeit der Familie, oder auch indem beim Arbeit"geber" ein höherer Lohn eingeklagt wird.
Überstunden sind normalerweise die erste Folge, dennoch führen nicht einmal sie immer aus der Sozialhilfe heraus: "Ein 38-jähriger Taxifahrer (verh., 2 Kinder) kommt mit 40 Überstunden auf 2500 DM netto. Ein 32-jähriger Berufskraftfahrer (verheiratet, 2 Kinder) macht 125 Überstunden im Monat und verdient im Durchschnitt 1900 DM." Diese Beschäftigten vermindern durch ihre Mehrarbeit nur das Ausmaß ihrer Sozialhilfeansprüche, aus der Sozialhilfe selbst kommen sie nicht raus.
Roth will dennoch die Hemmungen, zum Sozialamt zu gehen, nicht als "Leistungsideologie" abgetan wissen. "Wenn Millionen Menschen ihren Lebensunterhalt damit verdienen müssen, dass sie ihre Arbeitskraft als Ware verkaufen, schlägt sich das im Bewusstsein nieder. Arbeitnehmer sind Warenbesitzer - sie besitzen ihre Arbeitskraft. Mehr zu arbeiten, also mehr Ware Arbeitskraft zu verkaufen, statt Sozialhilfe zu beantragen, ist Ausdruck einer ökonomischen Stellung. Das dementsprechende Bewusstsein kann man nicht abschaffen, ohne diese ökonomische Stellung insgesamt abzuschaffen."
So sieht er im Gedanken "Selbsthilfe durch Arbeit statt Sozialhilfe" auch eine andere Qualität als die "verschämte Armut hilfebedürftiger alter Menschen, die erklären, sie könnten für sich selber sorgen." Ihre Selbsthilfe besteht in erster Linie im Verzicht. Sie fügen sich in die Armut.
Wenn in der Vollzeitarbeit das beste Mittel gesehen wird, aus der Sozialhilfe rauszukommen,dann führt Teilzeitarbeit tendenziell in Sozialhilfeansprüche hinein.
Die rasante Zunahme von Teilzeit erklärt zugleich die Zunahme von Zweitjobs: Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung schätzt, dass 1994 2,5 Millionen Menschen in Deutschland einen Zweitjob hatten. Diese Zahl hat sich seit 1987 verdoppelt.

Ursachen der Armut

- Dass Arbeiter arm sind und sein können, war im 19.Jahrhundert allgemein bewusst. Heute dagegen erschwert der Warenreichtum, von dem man ja auch etwas besitzt, sich als arm zu bezeichnen, auch wenn man kaum weiß, wie man bis zum Monatsende über die Runden kommt. Heute sind die Armen reicher als früher. Sie können ein kleines Barvermögen, ein Auto oder eine Lebensversicherung besitzen - Dinge, die sie für ihre Erwerbstätigkeit oder für ihre Altersabsicherung brauchen. Damit sind sie jedoch auch Zeichen für einen höheren Lebensstandard, höher z.B. als der von Erwerbslosen.
Bei drei Vierteln der befragten Haushalte waren die materiellen Grundbedürfnisse in Bezug auf Essen, Wohnung und Wohnungseinrichtung sowie Kleidung im Wesentlichen befriedigt. Doch immerhin 23% gaben an, gegen Monatsende auch beim Essen Abstriche machen zu müssen. Bei diesen Haushalten reicht das Einkommen im Durchschnitt nur 21 Tage. Abstriche bei der Kleidung machen schon 45%; das Bedürfnis nach Essen wird zuerst, auf Kosten von Kleidung und Wohnungseinrichtung, befriedigt.
Hier gibt es ein Gefälle gegenüber Erwerbslosen. Das Ernährungsniveau ist bei erwerbstätigen Sozialhilfebezieherinnen deutlich höher als bei erwerbslosen. Bei letzteren rangiert die Ernährung auch nicht immer an erster Stelle, eher das Bedürfnis nach Kommunikation.
Einen absoluten Mangel an Kleidung und Wohnung gibt es nicht. Das größte, nicht befriedigte Bedürfnis ist das nach Urlaub, gefolgt von Erholung und Freizeitgestaltung. Die befragten Haushalten fuhren im Durchschnitt nur alle zweieinhalb Jahre in Urlaub; diejenigen, denen der Lohn bis zum Monatsende nicht reicht, waren das letzte Mal vor über drei Jahren in Urlaub gefahren.
Mit wachsendem Arbeitsstress ist Urlaub heute zu einem Grundbedürfnis von Erwerbstätigen geworden. Die Hoffnungen richten sich weitaus weniger auf mögliche Veränderungen im Arbeitsleben und im Alltag, und weitaus mehr auf Flucht und Abschalten. Bedürfnisse, sich in der Arbeit stärker verwirklichen zu wollen, sind sehr selten. Die Befragten sehen kaum Einflussmöglichkeiten auf ihre Arbeit.
Die Ursachen für die Verarmung von Erwerbstätigen sind vielfältig: zu niedrige Löhne; zu hohe Mieten und zu niedriges Wohngeld; die Lohnsteuer (Sozialhilfehaushalte führen an den Staat in Form von Lohnsteuern mehr ab, als sie in Form von Sozialhilfe zurückbekommen - der Staat fördert damit unmittelbar die Armut); der Besitz eines Autos; Unterhaltsgeld und Schulden (meist in Form von Ratenzahlungen) und vor allem Kinder.
Es ist ein Märchen, dass der Lohn eines Familienoberhaupts die Reproduktionskosten der Familie decke, er deckt gerade etwas mehr als die des Lohnbeziehers. Der Staat anerkennt dies auch durch die Zahlung von Kindergeld, was eine Sozialisierung der Reproduktionskosten der nachfolgenden Generation und eine Entlastung der Unternehmer darstellt.
Roth will dennoch die Ursache für Sozialhilfeansprüche von Erwerbstätigen nicht überwiegend in solchen individuellen Merkmalen der SozialhilfebezieherInnen selbst sehen; er verweist auf die ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklungen, die sie bedingen. Denn die Frage ist ja: Warum sind die Löhne zu niedrig, warum decken sie die Reproduktionskosten der Familie nicht mehr?
"Die Ursache für die Armut besteht zunächst in der anhaltend wachsenden Arbeitslosigkeit"; letztlich sind die Ursachen der Armut aber in den Ursachen der Erwerbslosigkeit selbst zu finden" - in der wachsenden privatwirtschaftlichen Konkurrenz, dem Zwang zur Steigerung der Profitrate und des Mehrwerts (durch Anhebung der Produktivität und Ausdehnung der Arbeitszeit).
"Der Arbeitsmarkt zieht sich immer mehr zusammen. Folglich sind die Arbeitskräfte, die nur unterdurchschnittlich produktiv sind und die in früheren Zeiten noch beschäftigt wurden, jetzt eher die ‚Verlierer‘. Das können Arbeitskräfte sein, die zu ‚alt‘ sind oder zu ‚jung‘ … Die individuellen Mängel der Arbeitskräfte erscheinen als ihre eigenen ‚Risikofaktoren‘, obwohl es doch die Ökonomie als ganze ist, die sie zum Risiko macht."
In den USA lag 1994 eine Vollzeitarbeitskraft sogar mit Mindestlohn plus staatlicher Unterstützung unter der Armutsgrenze, wenn dies für eine Familie mit einem Kind reichen sollte.
Nur 30% der befragten Haushalte reichte der Lohn ohne Einschränkung bis zum Monatsende; im Durchschnitt reichte er 26 Tage. Auf die Frage: "Wie besorgen Sie sich die fehlenden Mittel?", antworteten 60% mit "Schulden", 24% mit "Mehrarbeit", 15% mit "Sparen, Verzichten" und 10% mit "Familie". Die Sozialhilfe kam mit 7% zuletzt; sie ist im wahrsten Sinne des Wortes "das Letzte".
Roth stellt das erhobene Datenmaterial in einen Zusammenhang mit der Armutsdiskussion in der BRD. Darauf und auf die Schlussfolgerungen, die er zieht, wird die SoZ in ihrer nächsten Ausgabe eingehen.
Angela Klein


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