Sozialistische Zeitung |
Für die österreichische Politik ist das eine völlig neue Situation. Noch nie wurde eine
Regierungsbildung derart genau von der Bevölkerung verfolgt. Überraschend und spontan kamen in den Tagen der
Koalitionsverhandlungen immer wieder DemonstrantInnen in die Innenstadt. Ein erster Höhepunkt war die genannte Demonstration mit
15000 Teilnehmenden, an der sich neben linken Organisationen, der Plattform "Demokratische Offensive" (die von linksliberalen
Persönlichkeiten gebildet wird), den Grünen und der KPÖ auch zahlreiche Sozialdemokraten und vor allem
GewerkschafterInnen beteiligten. Selbst die Pressekonferenzen verliefen stürmisch. Holocaustüberlebende griffen Haider vor
laufenden Kameras wegen seiner den Nationalsozialismus verharmlosenden Aussagen an; Journalisten zeigten sich besorgt über die
Menschenrechtssituation in Österreich.
Den Verhandlungen über eine rechte Koalition gingen hundert Tage
Verhandlungen zwischen der SPÖ (sie erhielt bei den letzten Wahlen 33% der Stimmen) und der ÖVP (27%, drittstärkste
Partei knapp hinter der FPÖ ) voraus. Alle Anzeichen sprechen dafür, dass es in der ÖVP einen Kampf für einen
Kurswechsel in Richtung auf die FPÖ gegeben hat und dass bereits während der Verhandlungen mit der SPÖ geheime
Gespräche mit der FPÖ stattfanden.
Die ÖVP ließ die Verhandlungen an frechen Forderungen
scheitern: sie verlangte z.B., dass die Gewerkschaften, die Verschlechterungen im Rentensystem kritisierten, den Koalitionspakt mit
unterzeichnen und jeden Widerstand von vornherein aufgeben müssten.
Das Scheitern der Koalitionsverhandlungen mit der SPÖ hat die
bislang stabile innenpolitische Lage in Bewegung gebracht: Österreichs wichtigste meinungsbildende Tageszeitung, die Kronenzeitung -
die alles andere als linksliberal, tendenziell dezidiert ausländerfeindlich ist und stets für "Law and Order" kämpft
- tat plötzlich alles, um eine ÖVP-FPÖ-Koalition zu verhindern, sogar um den Preis einer "rot"-grünen
Koalition.
Der ÖVP-Obmann Wolfgang Schüssel wurde zum Buhmann der
Nation, weil er die Verhandlungen mit der SPÖ platzen ließ. Hinter ihm aber stehen einige einflussreiche ÖVP-Politiker, die
seit längerem die Wende zur FPÖ wünschen, in der Hoffnung, mit konservativen Vorschlägen zur Familienpolitik,
einer Forcierung der Privatisierung und dem Zurückdrängen des Einflusses der Gewerkschaft die eigene Talsohle zu
überwinden.
Selbst der österreichische Bundespräsident Thomas Klestil,
der laut Verfassung den Auftrag zur Regierungsbildung gibt und der Bundesregierung den Eid abnimmt, bezog in bisher nicht gekannter Weise
Stellung. Bis zuletzt bremste er die Koalitionsverhandlungen zwischen FPÖ und ÖVP durch öffentliche Kritik und Zweifel an
der Regierungsfähigkeit der FPÖ. Schließlich verlangte er von den beiden Parteivorsitzenden die Unterschrift unter eine
Präambel, in der sowohl die EU-Orientierung als auch die kritische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus gefordert wird. Mit
steinernen Minen unterschrieben Schüssel und Haider, doch selbst dann wollte Klestil ihnen noch keinen Auftrag zur Regierungsbildung
geben.
Die Vereidigung zog sich ebenfalls hin, weil Klestil in stundenlangen
Verhandlungen gegen zwei vorgeschlagene FPÖ-Minister sein Veto einlegte: Den Großindustriellen Thomas Prinzhorn lehnte er
wegen antisemitischer Äußerungen im Wahlkampf, den Wiener FPÖ-Obmann Hilmar Kabas wegen rassistischer Hetzplakate
bei derselben Gelegenheit als nicht ministrabel ab. Jörg Haider selbst ist nicht Regierungsmitglied, er bleibt bis zur nächsten Wahl
Landeshauptmann in Kärnten.
Neoliberalismus pur
Während die öffentliche Debatte sich auf die
Verhandlungen zwischen FPÖ und ÖVP, Haiders Verhältnis zum Nationalsozialismus, die Regierungsfähigkeit der
FPÖ und den "Ruf Österreichs" im Ausland konzentrierte, wurde völlig übersehen, dass sich SPÖ
und ÖVP schon weitgehend auf ein gemeinsames Regierungsprogramm geeinigt hatten. Dieses Programm hätte wenig Erfreuliches
zum Inhalt gehabt: eine Erhö hung des Renteneintrittsalters, Steuererhöhungen, Sparmaßnahmen im öffentlichen Dienst
und weitere Privatisierungen.
Das gemeinsame Regierungsprogramm von FPÖ und ÖVP ist
davon nicht weit entfernt. Für Haider bedeutet dies, dass er wieder einmal eine Wende um 180 Grad gemacht hat: Noch vor einer Woche
warf er den Koalitionären von SPÖ und ÖVP die Steuererhöhungen vor und drohte, mit der FPÖ werde so etwas
nicht gehen - jetzt hat auch die FPÖ empfindlichen Steuererhöhungen zugestimmt.
Das gesamte Regierungsprogramm verspricht vor allem Arbeitenden nichts
Gutes. Wenn es dem Gewerkschaftsbund nicht gelingt, durch massiven Druck und Kampfmaßnahmen einige Maßnahmen zu
verhindern, ist ein Weg à la Thatcher vorgezeichnet: Langzeitarbeitslose werden zu " Sozialdiensten" zwangsverpflichtet;
wer krank ist, soll trotzdem zur Arbeit; das Rentenalter wird angehoben; die Krankenkassen verlangen eine "Eigenbeteiligung"…
Vieles von dem, was vor allem die ÖVP etwa im Bildungsbereich
ändern möchte, wird nicht möglich sein. Zumal im Schulbereich haben fast alle Gesetze Verfassungsrang, das bedeutet, dass
zu ihrer Änderung eine Zweidrittelmehrheit im Nationalrat nötig ist. Und die haben FPÖ und ÖVP nicht.
Privatisierungen im Schulwesen ist damit weitgehend ein Riegel vorgeschoben, aber im Sozial- und Bildungswesen, vor allem im Bereich der
Ausländerintegration und -betreuung, werden die tätigen Vereine und NGOs empfindliche finanzielle Einschränkungen
hinnehmen müssen. Das bedeutet in erster Linie eine reale Verschlechterung der Lebenssituation der in Österreich lebenden
AusländerInnen, vor allem jener, die bisher in der Grauzone lebten, keinen Flüchtlingsstatus zuerkannt zu haben, aber auch nicht
abgeschoben zu werden.
Kann die Gewerkschaft noch kämpfen?
Eine Chance in dieser Situation ist der Aufbruch des
Widerstands. Österreich war bisher als das europäische Land mit den wenigsten Streikminuten bekannt. Der mehrheitlich
sozialdemokratische Gewerkschaftsbund stellte traditionell den Sozialminister, was ihn zwangsläufig in die Regierungspolitik einband.
Der ÖGB war weitgehend gefesselt, er konnte und wollte gegen die Regierungspolitik nicht kämpfen.
Der ÖGB sorgte bereits für einiges Aufsehen, als er im
vergangenen Jahr am 12.November zahlreiche Funktionäre und Mitglieder zu einer Demonstration "Keine Koalition mit dem
Rassismus" aufrief. Für österreichische Verhältnisse war dies ganz ungewohnt. Es war eine Warnung an die
SPÖ, sich auf keine Koalition mit der FPÖ einzulassen. Auch bei den Demonstrationen der vergangenen Tage flatterten die Fahnen
der sozialdemokratischen GewerkschafterInnen.
Der ÖGB könnte die Weichen für eine andere
innenpolitische Entwicklung stellen. Tatsächlich fanden sofort nach Bekanntwerden der Verhandlungen zwischen FPÖ und
ÖVP in den Werkstätten und Bahnhöfen der Bundesbahn - deren Bedienstete einen gewichtigen Teil des ÖGB
darstellen - Betriebsversammlungen und "Stehungen" statt. Der ÖGB hat nach wie vor den höchsten Organisationsgrad
unter den europäischen Gewerkschaften, auch wenn er wegen seiner Passivität gegenüber den "Sparpaketen" der
letzten Jahre deutlich an Mitgliedern verloren hat.
Für den Kern der Arbeitslosenbewegung, die sich um
Euromarschkomitees und einige Arbeitsloseninitiativen wie z.B. "AMSand" gruppiert, könnte sich die Chance bieten, sich
solchen Widerstandsaktionen anzuschließen und sich auszuweiten.
Doch ungewiss ist vor allem, ob der ÖGB überhaupt noch
kämpfen kann. Seit 1945 spielte er eine staatstragende Rolle, schulte seine Funktionäre und Hauptamtlichen an den Anforderungen
sozialpartnerschaftlicher Verhandlungen, nicht aber an denen der Organisation von Arbeitskämpfen. Einige fehlgeschlagene
Streikversuche der letzten Jahre, wie z.B. bei der Postsparkasse, stimmen nicht sehr optimistisch.
Kampagne für
Neuwahlen
Die SPÖ gibt sich kämpferisch, seit die Entscheidung für ihre Oppositionsrolle gefallen ist. Der
Klubobmann spricht davon, "das Schiff [sei] kampfbereit", und ein neuer Parteigeschäftsführer, der unter
Sozialdemokraten als links geltende Ex-Juso Alfred Gusenbauer, soll einen "kantigeren" Kurs signalisieren. Aus der Partei dringen
zugleich immer wieder Gerüchte um einen neuen Parteivorsitzenden. Der bisherige, Bundeskanzler Viktor Klima, wurde nach den Wahlen
von Teilen der SPÖ wegen seines "amerikanischen Wahlkampfstils" kritisiert, das für das schlechte Wahlergebnis
verantwortlich gemacht wurde. Sein Geschäftsführer, Andreas Rudas, ist als Manager in den Magna-Konzern des FPÖ-
Sympathisanten Frank Stronach gewechselt, der in Österreich wegen seiner gewerkschaftsfeindlichen Unternehmensführung
berüchtigt ist.
Als neue SPÖ-Vorsitzende werden in der Gerüchteküche
vor allem der bisherige Innenminister Karl Schlögl, der auch unter FPÖ-Sympathisanten und bei der Kronenzeitung sehr beliebt ist,
und der Wiener Bürgermeister Michael Häupl gehandelt. Schlögl hat schon mehrfach deutlich gemacht, dass er vor einer
Koalition mit der FPÖ "keine Berührungsängste" hätte; Häupl gilt als Anhänger einer
SPÖ-ÖVP-Koalition. Eine linke Kurskorrektur ist also nicht in Sicht.
Die Hauptlast einer Neuorientierung nach etwaigen Neuwahlen läge
bei den Grünen. Sie könnten derzeit mit 16% rechnen, eine rot-grüne Mehrheit läge damit im Bereich des
Möglichen. Zwar lehnen die Grünen eine Regierungsbeteiligung der FPÖ ab, sie haben bisher aber noch nicht deutlich
gesagt, ob sie einen Rechtsruck durch eine Koalition mit der SPÖ verhindern würden. Diese Verantwortung wird ihnen in Zukunft
nicht abgenommen werden können.
Wie auch immer die innenpolitische Lage in Zukunft aussehen wird, die
christlich-soziale ÖVP wird zu den Verlierern gehören. Sie riskiert eine Zerreißprobe: Der traditionell christliche
Wähleranteil verzeiht ihr die Koalition mit der FPÖ nicht, der rechte Rand kann ganz zur FPÖ überlaufen. Die
ÖVP ist es auch, die vorzeitige Neuwahlen am meisten fürchtet, während Meinungsumfragen der FPÖ prognostizieren,
dass sie stärkste Partei würde, und die SPÖ vermutlich wieder "ihre" NichtwählerInnen
zurückgewinnen kann, die wegen ihrer Ausländerpolitik und ihrem unsozialen Kurs den Urnen ferngeblieben sind.
An diesem Punkt setzt die Kampagne der SPÖ und eines Teils der
Oppositionsbewegung gegen die Regierungsbeteiligung der FPÖ an: Sie fordern sofortige Neuwahlen, weil die ÖVP ihre
Wähler belogen hat. Wolfgang Schüssel hat noch im vergangenen Wahlkampf vollmundig jede Zusammenarbeit mit der FPÖ
ausgeschlossen.
Boris Jezek (Wien)