Sozialistische Zeitung |
Stocksauer ist Raoul auf sie. Denn wegen ihnen, sagt er, habe er nicht nur seinen Arbeitsplatz, sondern auch
seine Schlafstätte verloren. Ohne Entschuldigung, geschweige denn Entschädigung. Mit seinen 44 Jahren muss er wieder einmal
von vorn anfangen. Raoul deutet über den East River hinüber auf die Wolkenkratzer von Downtown Manhattan, als wäre es
das verlorene Paradies. Dort, in den Hochhausschluchten um die Wallstreet, sagt er, habe er jungen Bankern sowie alten Geldhaien
tagsüber jahrelang die Straßen gefegt und nachts immer einen Unterschlupf gefunden. Das ist jetzt vorbei. Verloren sitzt er da,
diesseits des Flusses, der Manhattan von Brooklyn trennt. Und brabbelt kaum verständlich in seinen ver?lzten Strubbelbart hinein.
Wahrscheinlich hat ihm seit Monaten niemand zugehört.
Schwer zu sagen: Schimpft er leise in sich hinein, oder ist es Schluchzen?
Was ist passiert? So viel war bisher aus ihm herauszubekommen: Er stammt aus Puerto Rico und hat zwei Drittel des Lebens hinter sich. Als
Junge ist Raoul Gonzales mit den Eltern von der "Insel der Armut" nach New York eingewandert. Beide Eltern starben kurz darauf
bei einem Autounfall. Raoul lebt seit 32 Jahren ohne Unterbrechung auf den Straßen dieser Stadt. Die Freiheitsstatue mit der Fackel
schimmert im Wolkendunst des Abendlichts zu uns herüber. Ihr Reiz verblasst für den, der sie ein paarmal gesehen hat.
Romantisch wirkt sie nur in den Projektionen der Touristen.
Hunderttausende schippern monatlich hinüber auf das Inselchen, um sie zu bestaunen. Millionen von europäischen Shoppern, die
hier ihren privaten New-York-Mythos in Form von Levis-Jeans, Central Park und World Trade Center ausleben, legen an der Statue einen
Zusatzstopp ein. Doch in Amerika ist kein multikultureller "Schmelztiegel" entstanden, wie das Werbeimage von der
"grünen Lady" glauben machen möchte. Und der grandiose Satz, der ihr in den Mund gelegt wird - "Sende diese
Heimatlosen, Sturmgeschädigten zu mir" - er klingt angesichts der Realität wie bitterer Spott. Die "grüne
Lady" hat für New Yorker wie Raoul keine Bedeutung.
Zur Zeit schon gar nicht. Denn Bürgermeister Rudolph Giuliani -
"the motherfucker", wie Raoul ihn allamerikanisch beschimpft - zieht wieder einmal unbarmherzig die Schraube an. Wie immer gilt
der Druck den Schwächsten, diesmal den Obdachlosen. Und wieder lautet die Devise des Law-and-order-Mannes "Verbesserung
der Lebensqualität" - "quality of life".
Giuliani gab in einer Radiosendung jüngst kund, Straßen seien
"in zivilisierten Städten nicht dafür da, dass Menschen darauf schlafen. Schlafzimmer sind zum Schlafen da." Und:
"Niemand hat das Recht, auf den Straßen New Yorks schlafen zu dürfen." Ein geradezu höhnisches Argument
selbst in den Augen durchschnittlicher New Yorker, die ein Dach über dem Kopf, einen einträglichen Job und tatsächlich ein
Bett haben. Denn Obdachlose, Bettler und Verwirrte sind im Stadtbild New Yorks seit jeher Normalität, was Besucher aus dem fetten
Westeuropa oft schockiert: eine Rentnerin in Hausschlappen, die vor sich hinmurmelnd Mülleimer durchwühlt; Männer mit
Plastiktüten voller Dosen, deren Recycling 5 Cent pro Stück abwirft; ein Verwirrter, der auf offener Straße den Stuhlgang
verrichtet.
Amerikaner dagegen, die sich eine Reise in die alte Welt leisten
können, staunen oft über den westeuropäischen Durchschnittsreichtum. Wirtschaftsboom hin oder her - jeder vierte New
Yorker, 1,8 Millionen Registrierte, lebt Ende der 90er Jahre unterhalb der Armutsgrenze. Davon sind die Mehrheit Kinder. Ein Drittel aller
Haushalte der Ostküstenmetropole fällt in die Kategorie "arm". Eine Mittelschicht, wie sie westeuropäische
Metropolen prägt, existiert in der neoliberalen Modellstadt nur als kleinere Gruppe. Sie machte im Jahr 1989 hier 35% der
Bevölkerung aus, und seitdem ist sie auf 29% geschrumpft.
Giulianis unerhörte Sätze verbreiteten sich innerhalb von
Stunden wie Lauffeuer in der Obdachlosenszene. Panik war angesagt. Den drohenden Bürgermeistersprüchen vorausgegangen war
die Tat eines offenbar Geistesgestörten. An der 42.Straße, einer der belebtesten der Stadt, hatte ein bislang Unbekannter einer
Passantin mit einem Ziegelstein am hellichten Nachmittag fast den Kopf eingeschlagen. Ein Zeuge verbreitete daraufhin, der Täter habe
wie ein Obdachloser ausgesehen. Auf der Titelseite des sonst recht passablen Massenblatts Daily News prangte am nächsten Morgen in
riesigen Lettern und außergewöhnlich reißerisch die Forderung "Weg mit den Verrückten von unseren
Straßen".
Die New Yorker Cops erhielten folglich von Giuliani die Anweisung,
Obdachlosenheime, Parks, Autobahnbrücken, Müllhalden, U-Bahn-Schächte und sonstige Pappkartonverschläge, in
denen sich New Yorks Arme in Sicherheit bringen, zu durchsuchen. Ohne Erfolg. Bis auf 23 Verhaftungen wegen "unordentlichen
Verhaltens" und 127 Menschen, die die Polizei gegen ihren Willen in die überfüllten Lausbuden namens "homeless
shelters" verschleppte.
Die Drohung des Bürgermeisters und die Razzien seiner Bullengarde
erfüllten ihren Zweck: Angst und Schrecken bei den tausenden Obdachlosen zu verbreiten, die seitdem Manhattan verlassen und in die
umliegenden Stadtteile nach Staten Island, Queens sowie in die Bronx ausweichen. Und nach Brooklyn, wie Raoul. Er hat miterlebt, wie der
Bürgermeister in den letzten Jahren Hotdogverkäufer vertrieben, Taxifahrer kleingemacht, Autoscheibenputzer verjagt hat und
Schwarzfahrer einbuchten ließ. Gleichzeitig wuchsen die institutionelle Macht und die Präsenz der Polizeikräfte. Obdachlose
wurden in den vergangenen Jahren verstärkt aus Manhattan weggeekelt.
Wieder blickt Raoul von der Promenadenparkbank aus, auf der wir sitzen,
hinüber auf den Beton- und Glasmoloch des Finanzdistrikts, der Gebäude über Gebäude in den Himmel ragt. Manhattan
gilt als Prototyp moderner Urbanität und sagenhaften Reichtums. Dort drüben in Downtown, nur 200 Meter über den Fluss,
konzentriert sich der weltweit größte Finanzreichtum.
Entsprechend, meint Raoul, würden die Mülleimer aussehen.
"Dort findest du Armbanduhren und Sektgläser", verrät er. Vor zehn Jahren, führt er aus, sei die Zahl der
Obdachlosen im Finanzzentrum in die Höhe geschnellt. Bis dahin habe die "community" vor allem aus
Vietnamkriegsveteranen bestanden, die "den Trip nie richtig gepackt" hätten. Aber mit dem Börsencrash von 1987
hätten plötzlich Menschen in New Yorks Mülleimern gewühlt, die zuvor noch Krawatte oder Rock trugen. Der Weg
des Börsenfreaks, der der Verlockung des schnellen Geldes erlegen ist, in die Welt der totalen Verschuldung ist kurz in New York. Es
gibt kein Auffangnetz, weder für Vietnamkriegsveteranen noch für Aktienjunkies.
Raoul jedenfalls passt in keine dieser Kategorien. Weder gedient noch am
Stock Market gewesen, grinst er. Er sei ein arbeitsfähiger Überlebenskünstler, sagt Raoul. Was in New York aber nur
äußerst bedingt adelt. Das Kriterium "arbeitsfähig" mag als Gegenteil von krank durchgehen. In der Wortwahl der
Giuliani-Verwaltung dagegen bedeutet die Kombination arbeitsfähig plus obdachlos, dass der entsprechende Mensch, wenn er sich nicht
unterwürfig verhält, kein Anrecht auf einen städtischen Unterschlupf hat. Arbeitsfähige Obdachlose, die die Regeln
missachten, Verweigerung von Gemeindearbeit etwa, haben ihr Recht auf eine Notunterkunft verwirkt. Und einer Mutter z.B., die obdachlos
geworden ist und ihrer Arbeitspflicht nicht nachkommt, nimmt die Stadt das Kind weg.
So gilt in der Metropole des Kosmopolitismus Armut als krimineller Akt,
der zu bestrafen ist. Den Spott der aufstrebenden Jungen, ein paar Mitleidsdollar und entsetzte Blicke der Touristen erntete bisher, wer nachts in
einen Pappkarton gekrochen war. Diese Menschen sollen nach dem Willen von Giuliani unsichtbar gemacht werden. Vielleicht wegen der
Millenniumsfeiern und der vielen Touristen, vermutet Raoul.
Er hat sich jedenfalls erst einmal abseits von Manhattan im Brooklyner
Stadtteil Park Slope auf der 5th Avenue hinter dem Supermarkt "Key Food" niedergelassen. Dort gibt es ein windstilles Eck, das er
mit ein paar Kumpels teilt, die Manhattan schon Monate zuvor den Rücken gekehrt haben: Kartons zuhauf, ein Parkplatz voll mit
geldträchtigen Menschen, denen man gegen Trinkgeld die Einkaufskartons tragen kann, und die Cops drücken weiterhin ein Auge
zu.
Park Slope gilt als hippester Yuppie-Stadtteil der Wallstreet-Banker, denen
das überfüllte und überteuerte Manhattan auf die Nerven geht: grün, in Parknähe, relativ erschwinglich und zehn
Minuten per U-Bahn zum Arbeitsplatz in den Finanzdistrikt. Genau das Richtige, meint Raoul, klopft sich auf die Schenkel und imitiert einen
Jungbanker mit den neuesten Softwareaktien. So, als habe er gerade den großen Deal gemacht.
Max Böhnel