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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.5 vom 02.03.2000, Seite 3

Wolfgang Schäuble

Ein Zyniker der Macht

Mit dem Abgang des Partei- und Fraktionsvorsitzenden Wolfgang Schäuble aus seinen Ämtern ist die Führungskrise der Union, die seit der Niederlage bei den Bundestagswahlen geschwelt hatte und zwischenzeitlich durch gute Wahlergebnisse überdeckt worden war, offen ausgebrochen. Spätestens seit der "deutschen Vereinigung" hielt Schäuble Kohl nicht nur den Rücken frei, sondern er avancierte auch zum unbestrittenen "Chefideologen" der Partei; er war der "Vordenker" in allen wesentlichen politischen Entscheidungen der Union im gerade abgelaufenen Jahrzehnt.
Seit 1992 wurde er als "Kronprinz" gehandelt. Im vergangenen Jahr sah es für ein paar Monate so aus, als könnte er Gerhard Schröder als Bundeskanzler beerben. Aber seine enge Verbindung mit dem System Kohl und seine durch Lügen beschädigte Glaubwürdigkeit haben ihn nun mit in den Abgrund gerissen, denn es gelang ihm in den letzten Monaten nicht mehr, die sich in der Union ausbreitende Demoralisierung zu stoppen.
So war es nur noch eine Frage der Zeit, bis der "General Panik" (Süddeutsche Zeitung) zum Mittel des Putsches greifen würde; bezeichnenderweise war es die nordrhein-westfälische "katholische Mafia" (Rüttgers, Lamers, Merz usw.), die zum Angriff blies. Das seit dem vergangenen Jahr von der Union verwandte Motto "Mitten im Leben", das einem alten Kirchentext entstammt, hat nun eine bitter-ironische Bedeutung erlangt, denn die nächste Zeile heißt: "…sind wir vom Tod umfangen".
In seiner Zeit als Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU hat sich Schäuble mit einer Reihe von Reden und Schriften profiliert, die alle versuchen, neokonservative Ordnungsvorstellungen mit neoliberalen Wirtschaftskonzepten zu verbinden. In seinem Buch Das Erbe Kohls verweist Warnfried Dettling auf die Herkunft von Schäubles Konzepten aus der "konservativen Revolution" der Zeit vor dem Faschismus; insbesondere Carl Schmitt und Ernst Forsthoff scheinen ihn (und andere) beeinflusst zu haben.
Dettling schreibt: "[Schäuble] will so etwas wie eine neue konservative Revolution in Deutschland. Mit alten Werten in eine moderne Zukunft. Diesen konservativen Anspruch hat es in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gegeben. Politisch, publizistisch und philosophisch hat er sich, von freilich bemerkenswerten Ausnahmen abgesehen, an die Ränder oder in die Krähwinkel zurückgezogen. Schäuble holt sie zurück zu seiner, wie er es wohl versteht, neuen Mehrheit rechts von der Mitte."
Seine Überlegungen kreisen in starkem Maße um die Möglichkeiten der Durchsetzung eines starken und repressiven Staates, so wie es die CSU in ihr Parteiprogramm aufgenommen hat: "Nur ein starker Staat kann ein freiheitlicher Staat sein." Daher kann es nicht verwundern, dass Schäuble mehrfach laut über die Ausweitung der Einsatzmöglichkeiten der Bundeswehr nicht nur im Ausland, sondern auch im Innern, etwa zur Absicherung der Grenze nach Polen nachdachte.
Schäubles reaktionäre Grunddiagnose der gegenwärtigen Problemlage fällt eindeutig aus: Es gebe eine "Hypertrophie" des Staates, der Staat übernehme zu viele Aufgaben insbesondere im sozialen Bereich und der Rechtsstaat ufere aus. Andererseits verfalle die Autorität des Staates aufgrund des allgemeinen Werteverfalls.
Die Schuldigen an dieser Entwicklung sind rasch ausgemacht, es sind die "Achtundsechziger" mit ihrem fröhlichen Individualismus und Hedonismus, ihrer Anspruchsmentalität, ihrer Untergrabung von Autoritäten und Zersetzung der Familie. Dadurch unterliege der gesellschaftliche Zusammenhalt der Gefahr des Zerfalls, "weil eine immer individuellere Ausprägung des eigenen Lebensstils gesucht" werde und damit "eine zunehmende Scheu vor allen sozialen Bindungen und Einbindungen" einhergehe.
Die geistig-moralische Wende müsse endlich eingefordert werden und sie bedeute zuvörderst ein neues Staatsverständnis mit der Pflicht des Einzelnen, sich Volk, Staat und Nation unterzuordnen und zu dienen. "Ohne mehr Bürgersinn, Pflichtgefühl und Dienst an der Gemeinschaft kann ein freiheitlicher Staat auf Dauer nicht mehr bestehen."
Daraus folge, "im Grenzbereich zwischen den Freiheitsrechten des Einzelnen und den Eingriffsrechten des Staates die Abwägung nicht blauäugig im Sinne des optimistischen Menschenbildes von Liberalen und Sozialisten vorzunehmen".
Warum dies nötig sei? "Als Christen wissen wir, dass die Fehlerhaftigkeit des Menschen unaufhebbar ist." (Natürlich meinte er damit nicht die Finanzskandale.) Anscheinend ist der Staat mit göttlicher Gnade ausgestattet oder ein himmlisches Konstrukt, denn wie sonst sollte er "das Gute" durchsetzen können, wo doch alle Menschen arme Sünder sind?
Schäuble sieht ein, dass auch mit mehr Religionsunterricht (CDU- Programm) eine Rückkehr zu verbindlichen religiösen Überzeugungen nicht möglich ist, daher vertritt er die Stärkung des Nationalismus als einer Art Zivilreligion. "Für unsere in Freiheit vereinigte Nation brauchen wir als Grundlage gemeinsame Wertüberzeugungen." Die Teilung der Nation sei "eine Wunde in der deutschen Seele" (sic) gewesen, die nun heilen könne. Im Nachkriegsdeutschland sei die wichtigste Säule der Staatsbejahung der wirtschaftliche Aufschwung und die Leistungsfähigkeit der BRD gewesen.
Da aufgrund der Globalisierung und des Standortwettbewerbs vor allem der Sozialstaat "verschlankt" werden müsse, brauche es eine Änderung der Einstellung der Bürgerinnen und Bürger zum Staat: Es soll ein neues "Gemeinschaftsgefühl" entstehen, das verhindert, dass sich die Menschen mit ihren Forderungen und Ansprüchen an den Staat wenden. Wenn kein Geld da ist, muss man sich eben bescheiden, so die Botschaft, die aber - leider, leider - erst bei einer kleinen Minderheit angekommen ist. Somit schließt sich der Kreis: "Um soziale Konflikte beherrschbar zu machen, fehlt es in Deutschland an nationalem Bewusstsein." Noch lassen sich die Deutschen zu wenig vertrösten.
Zur Beförderung dieses "nationalen Bewusstseins" stürzte sich Schäuble Anfang der 90er Jahre, nachdem er die Verhandlungen mit Günter Krause über den Anschluss der DDR für den Weststaat erfolgreich zum Abschluss gebracht hatte, in den Kampf gegen Zuwanderung (von Nichtdeutschen) und "Überfremdung".
In seinem Buch Und der Zukunft zugewandt schrieb er 1994: "Wenn eine große Zahl den Eindruck von Überwanderung [!] und Überfremdung hat und sich das auch noch mit sozialen Problemen mischt, dann kann leicht Fremdenhass entstehen … Man muss, um der Intoleranz zu wehren, den Menschen wieder Zutrauen in die Schutzfunktion des Staates geben." Das soll doch wohl heißen, dass der Staat die Deutschen vor Zuwanderung schützen und die für die Kapitalverwertung nicht direkt benötigten "Ausländer" eben rausschmeißen soll. Schäuble verstand es zeitweilig recht geschickt, die (wirklichen oder vermeintlichen)Verlierer der Globalisierung mittels eines völkischen Diskurses bei der Stange zu halten.

Paul B. Kleiser


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