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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.5 vom 02.03.2000, Seite 11

Armut trotz Arbeit II

Löhne rauf statt Sozialhilfe runterIn SoZ 4/00 stellten wir eine Studie von RAINER ROTH vor, Professor an der Frankfurter Fachhochschule für Sozialarbeit, die dem Zusammenhang von Armut, Lohnentwicklung und Sozialhilfe nachgeht. Nachfolgend tragen wir seine wesentlichen Schlussfolgerungen zusammen.

Als offizielle Armutsgrenze gilt heute weitgehend die von der EU-Kommission festgesetzte. Demnach ist ein Haushalt arm, wenn er weniger als 50% des gewichteten durchschnittlichen Haushaltsnettoeinkommens hat. Diese Armutsgrenze ist nicht begründet; sie wurde von den Regierungschefs der EU-Länder verfügt. "Es handelt sich bei dieser Schwelle um eine nicht weiter abgeleitete bzw. begründete Konvention", schreibt Walter Hanesch 1994 in seiner Studie Armut in Deutschland. Trotzdem folgen alle Armutsberichte dieser Definition, auch die vom Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband (DPWV), der Caritas und dem DGB.
Rainer Roth stellt diese Bestimmung der Armutsgrenze in Frage. Er vergleicht sie mit dem bisher geltenden Sozialhilfeniveau, das immer noch die Grundlage für staatliche Sozialleistungen ist. Für Erwerbstätige setzt sich das Sozialhilfeniveau zusammen aus dem Sozialhilfebedarf inkl. eines Freibetrags plus 25% der Regelsatzsumme für einmalige Beihilfen. De facto ist dies gegenwärtig für Erwerbstätige die Armutsgrenze.
Durch seine empirische Untersuchung kommt er nun zu dem Schluss, dass 96% der befragten westdeutschen Haushalte weit über der EU-Armutsgrenze liegen. "Die durchschnittliche Grenze der Sozialhilfeansprüche lag für die 181 Haushalte aus Westdeutschland bei 2237 DM pro Haushalt, die 50%ige Armutsgrenze derselben Haushalte lag im Durchschnitt bei 1613 DM. Die Sozialhilfegrenze lag also im Schnitt etwa 40% höher. Die 50%-Grenze ergibt insbesondere für Erwerbstätige eine deutliche Absenkung des Armutsniveaus."
Gegenüber der neuen Armutsgrenze hat die Sozialhilfe immer noch den Vorzug, dass sie am Bedarf und nicht am Durchschnittseinkommen orientiert ist; letzteres ist eine eher abstrakte Größe, die zudem konstant absinkt, so dass damit wiederum auch die Armutsgrenze abgesenkt wird.
Roth verteidigt deshalb die Sozialhilfe als Maßstab für Armut, wobei er darauf hinweist, dass das gegenwärtige Sozialhilfeniveau inzwischen zu niedrig angesetzt ist. "Ein Sozialhilfeniveau, das schon seit Jahren Manövriermasse für vom Kapital geplünderte Staatskassen geworden ist, kann grundsätzlich nicht der Maßstab für eine wissenschaftlich festgesetzte Armutsgrenze sein. Nicht nur wurden die Regelsätze nahezu eingefroren, auch die einmaligen Beilhilfen wurden abgesenkt. Jemand der heute oberhalb des gegenwärtigen Sozialhilfebedarfs lebt [und damit keinen Anspruch auf Soziahilfe hat], kann unter denselben Einkommensvoraussetzungen vor einigen Jahren noch unter dem damaligen Sozialhilfeniveau gelebt [und also Anspruch auf Sozialhilfe gehabt] haben. Ein Haushalt, der die 50%-Schwelle übrschreitet, hat damit noch nicht die Armutsgrenze überschritten. Er hat eine Armutsgrenze überschritten, die bedenklich in der Nähe des physischen Existenzminimums liegt."
Wer als Erwerbstätiger Sozialhilfe beziehen kann, gilt für Regierende, Arbeitgeberverbände und Wissenschaftler inzwischen jedoch nicht mehr als arm. Arm kann nur jemand sein, der keine Sozialhilfe beantragt, Armut ist also, wenn sie überhaupt existiert, selbst verschuldet. Wenn zudem die 50%-Grenze als Armutsgrenze unter dem Sozialhilfeniveau liegt, dann können Sozialhilfebezieherinnen folglich auch nicht arm sein. Sozialhilfe gilt deshalb als "bekämpfte Armut".
So versteht man die neueren Pläne aus Regierungs- und Unternehmerkreisen, die Sozialhilfe überhaupt abzuschaffen und durch eine erhebliche niedrigere, nicht mehr am Bedarf orientierte "Grundsicherung" zu ersetzen.
Roth fordert: Der Maßstab für das Lohnniveau muss das Sozialhilfeniveau sein. Schon allein methodisch: der Lohn muss die Reproduktionskosten der Arbeitskraft decken. "Die arbeitenden Menschen interessiert in erster Linie die Qualität der Bedürfnisbefriedigung, die mit dem Lohn möglich ist. Sie ist der wichtigste Maßstab, der darüber entscheidet, ob Löhne als ‚zu niedrig‘ empfunden werden." Der einzige objektive Maßstab für die Qualität des Bedürfnisniveaus, bezogen auf eine bestimmte Geldsumme, aber ist die Sozialhilfe.
"Das Verhältnis des real verfügbaren Nettoeinkommens zum Sozialhilfeniveau ist die objektive Grundlage für die Beantwortung der Frage, ob das Einkommen bis zum Monatsende reicht oder nicht. Aber auch dafür, wie es reicht, ob es mit oder ohne Einschränkungen reicht … Nur ein reales Einkommen, das deutlich über dem Sozialhilfeniveau liegt, reicht im Durchschnitt auch."
Seine Erhebung kommt zum Schluss: "Nur bei 25-30% der befragten Haushalte scheint das Einkommen tatsächlich ohne größere Anstrengungen zu reichen. Sie liegen mit ihrem realen Haushaltsnettoeinkommen im Durchschnitt bei 140% des Sozialhilfeniveaus. Für 70-75% aller Haushalte reicht das Einkommen nicht oder nur mit mehr oder weniger großem Verzicht."
Im öffentlichen Diskurs wird der Umstand, dass Erwerbstätige der unteren Lohngruppen vielfach unter das Sozialhilfeniveau rutschen, allerdings nicht zum Anlass genommen, die niedrigen Löhne zu geißeln, sondern die "zu hohe Sozialhilfe" anzugreifen. "Es ist nicht in Ordnung, wenn jemand im Bereich der Sozialhilfe, ohne eine Leistung zu erbringen, mehr im Monat von der Solidargemeinschaft bekommt als derjenige, der arbeitet", zitierte die Taz schon am 4.1.1993 Bundeskanzler Kohl.
Aber auch dem Arbeiter, dessen Lohn plus Kindergeld niedriger liegt als das Sozialhilfeniveau eines vergleichbaren arbeitslosen Kollegen, erscheint subjektiv die Sozialhilfe als "zu hoch". "Dieser Eindruck setzt sich eher durch als der, dass die Löhne gemessen am Sozialhilfeniveau zu niedrig sind. Und zwar deswegen, weil jemand, der arbeitet, mehr haben will als einer, der nicht arbeitet … weil er auch mehr braucht."
Tatsache ist aber, dass Löhne tendeziell schneller gesenkt werden als Sozialhilfe. Sie sind beweglicher, die Sozialhilfe ist starrer. In einer Zeit aber, argumentiert Roth, wo die Löhne schneller abgesenkt werden als die Sozialhilfe und unter deren Niveau sinken, muss das Sozialhilfeniveau (weil am Bedarf orientiert) der entscheidende Maßstab für die Beurteilung der Qualität des Haushaltseinkommens von Erwerbstätigen sein. Nicht die Sozialhilfe muss gesenkt, die Löhne müssen angehoben werden!
Roth polemisiert auch gegen die Gewerkschaften. Zwar haben sich einige unter ihnen der Problematik Niedriglohn angenommen (sie anerkennen also, dass es überhaupt "ungerechte" Löhne gibt). Doch auch diese Gewerkschaften messen die Löhne nicht am Bedarf messen, sondern wiederum nur an anderen Löhnen/
Lohndurchschnitten.
Er zitiert eine im VSA-Verlag erschienene Studie über Niedriglohn, in der es heißt, "dass es bei working poor um eine relative Armut geht, d.h. ‚ungerechte Löhne‘ in Relation zu ‚gerechten‘ oder ‚normalen‘ oder ‚ausreichenden‘ Löhnen gesetzt werden". Hier werden, so Roth, auch in einem gewerkschaftslinken Diskurs Bedarfskriterien einfach ausgeschaltet. "Der Maßstab für die Angemessenheit eines Lohns ist wiederum ein Lohn … Ungerechtigkeit entsteht nur dann, wenn der Lohnabstand zum Durchschnittslohn zu groß wird. Angaben, wie hoch der Armutslohn ist, findet man im gesamten Buch nicht."
Der Kernpunkt seiner Kritik lautet: "Die gewerkschaftlichen Arbeits- und Tarifforscher beschäftigen sich nicht mit Sozialhilfe … Die Sozialhilfe ist eben für die Bedürfnisse und die Gewerkschaften sind für die Löhne zuständig."
Seine Schlussfolgerung: "Für Senkungen der Sozialhilfe einzutreten, entspricht nicht den Interessen der Lohnbezieher, denn sie würden damit den Maßstab mit zerstören, der ihnen ermöglicht, die Qualität der Bedürfnisbefriedigung zu messen, die mit ihrem Lohn möglich ist … Wenn Arbeiter und Angestellte in erster Linie den Lohn und damit das, was Unternehmer bereit sind zu zahlen, als Maßstab der Sozialhilfe nehmen, ordnen sie sich den Interessen des Kapitals unter und handeln letztlich gegen ihre Interessen."
Dies schließt oft, so erklärt er sich ihr Handeln, die versteckte Zustimmung dazu ein, dass ihr eigenes Lohnniveau nicht erhöht werden kann. Der Hass gegen Sozialhilfebezieherinnen wächst auf der Basis des Ohnmachtsgefühls, die eigene Situation verbessern zu können.
Roth stellt die gemeinsamen Interessen von Lohnabhängigen und Sozialhilfebezieherinnen in den Vordergrund:
- Wenn die Sozialhilfe gesenkt wird, sinkt auch die Möglichkeit für Lohnabhängige, ergänzende Sozialhilfe zu beantragen.
- Mit der Senkung der Sozialhilfe sinkt auch der Maßstab, mit dem die Reproduktionskosten von Lohnabhängigen gemessen werden können.
- Senkung der Sozialhilfe bedeutet höhere Steuerzahlungen von Beschäftigten. Das steuerfreie Existenzminimum hängt nämlich von der Höhe der Sozialhilfe ab.
- Senkung der Sozialhilfe erhöht die Konkurrenz auf dem Arbeitmarkt und den Druck auf die Löhne.
- Senkung der Sozialhilfe bedeutet immer auch Senkung der Arbeitslosenunterstützung.
Roth schlägt gezielte Kampfmaßnahmen vor, die den Zusammenhang von Lohn und Sozialhilfe verdeutlichen:
- Eine Kampfform könnte sein, dass eine möglichst große Anzahl von Kolleginnen und Kollegen gleichzeitg demonstrativ Sozialhilfeanträge stellt, um das Problem öffentlich zu machen, dass sie unterhalb des Sozialhilfebedarfs leben, obwohl sie arbeiten.
- Eine andere Kampfform könnte sein, dass Sozialhilfeansprüche im Betrieb ausgerechnet und veröffentlicht werden. Für Tarifkämpfe könnte ausgerechnet werden, wie das Lohnniveau zum Sozialhilfeniveau steht.
"Die hohe Dunkelziffer von sozialhilfeberechtigten Erwerbstätigen muss zuallererst ein starkes Motiv für eine Erhöhung des Lohnniveaus insgesamt sein, nicht nur ein Motiv, für die Erhöhung von Kindergeld oder Wohngeld einzutreten." Das Problem, dass die Löhne den Bedarf (die Reproduktionskosten) nicht decken, darf nicht auf die Sozialpolitik verlagert werden.
Je mehr das Lohnniveau sinkt, desto stärker wird die Notwendigkeit von Mindestlöhnen, also einer unteren Grenze, unter die Lohneinkommen nicht fallen dürfen. "Mindestlöhne sind die Form der Grundsicherung für Erwerbstätige. Mindestlöhne müssen gesetzlich festgelegt werden, wenn sie flächendeckend sein sollen … Die Forderung nach Mindestlöhnen gewinnt eine größere Bedeutung, je mehr sich die Unternehmen bei insgesamt steigender Profitmasse aus der Zahlung für die Reproduktionskosten ihrer Arbeitskräfte zurückziehen. Mindestlöhne streben einen kollektiven Schutz dagegen an."
Die meisten Gewerkschaften sträuben sich gegen eine solche Forderung, weil sie darin einen Eingriff in ihre Tarifautonomie sehen. Tatsächlich wären gesetzliche Mindestlöhne nicht erforderlich, wenn die Gewerkschaften in der Vergangenheit ihre Kampfkraft ausreichend eingesetzt hätten, das Lohnniveau vor allem der unteren Einkommensstufen zu verteidigen.
Die Gewerkschaften ziehen sich aber immer mehr auf die Wahrung der Interessen der "Besserverdienenden" unter den Lohnabhängigen zurück und sind sogar bereit, Niedriglöhner im Zweifelsfall ganz aus dem Bereich gewerkschaftlicher Tarifpolitik zu entlassen.
So wird in einer Gewerkschaft wie der ÖTV recht offen darüber diskutiert, dass die Einführung eines staatlich kontrollierten Niedriglohnsektors für die Gewerkschaften auch Vorteile haben kann: Sie müssen sich dann nicht mehr mit Beschäftigten herumschlagen, die eh nur in geringem Umfang gewerkschaftlich organisiert und auch selten arbeitskampffähig (weil oft in Klitschen beschäftigt) sind - zumindest nicht nach den üblichen Vorstellungen von einem Arbeitskampf. Die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns ist deshalb auch eine (notwendige) Reaktion auf eine gescheiterte Gewerkschaftspolitik.

Angela Klein

Rainer Roth, Über den Lohn am Ende des Monats. Armut trotz Arbeit, Frankfurt/M. 1998; 10 DM. Zu beziehen über: AG TuWas, Limescorso 5, 60439 Frankfurt.



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