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Als offizielle Armutsgrenze gilt heute weitgehend die von der EU-Kommission festgesetzte. Demnach ist ein
Haushalt arm, wenn er weniger als 50% des gewichteten durchschnittlichen Haushaltsnettoeinkommens hat. Diese Armutsgrenze ist nicht
begründet; sie wurde von den Regierungschefs der EU-Länder verfügt. "Es handelt sich bei dieser Schwelle um eine
nicht weiter abgeleitete bzw. begründete Konvention", schreibt Walter Hanesch 1994 in seiner Studie Armut in Deutschland.
Trotzdem folgen alle Armutsberichte dieser Definition, auch die vom Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband (DPWV), der Caritas
und dem DGB.
Rainer Roth stellt diese Bestimmung der Armutsgrenze in Frage. Er
vergleicht sie mit dem bisher geltenden Sozialhilfeniveau, das immer noch die Grundlage für staatliche Sozialleistungen ist. Für
Erwerbstätige setzt sich das Sozialhilfeniveau zusammen aus dem Sozialhilfebedarf inkl. eines Freibetrags plus 25% der
Regelsatzsumme für einmalige Beihilfen. De facto ist dies gegenwärtig für Erwerbstätige die Armutsgrenze.
Durch seine empirische Untersuchung kommt er nun zu dem Schluss, dass
96% der befragten westdeutschen Haushalte weit über der EU-Armutsgrenze liegen. "Die durchschnittliche Grenze der
Sozialhilfeansprüche lag für die 181 Haushalte aus Westdeutschland bei 2237 DM pro Haushalt, die 50%ige Armutsgrenze
derselben Haushalte lag im Durchschnitt bei 1613 DM. Die Sozialhilfegrenze lag also im Schnitt etwa 40% höher. Die 50%-Grenze
ergibt insbesondere für Erwerbstätige eine deutliche Absenkung des Armutsniveaus."
Gegenüber der neuen Armutsgrenze hat die Sozialhilfe immer noch
den Vorzug, dass sie am Bedarf und nicht am Durchschnittseinkommen orientiert ist; letzteres ist eine eher abstrakte Größe, die
zudem konstant absinkt, so dass damit wiederum auch die Armutsgrenze abgesenkt wird.
Roth verteidigt deshalb die Sozialhilfe als Maßstab für Armut,
wobei er darauf hinweist, dass das gegenwärtige Sozialhilfeniveau inzwischen zu niedrig angesetzt ist. "Ein Sozialhilfeniveau, das
schon seit Jahren Manövriermasse für vom Kapital geplünderte Staatskassen geworden ist, kann grundsätzlich nicht der
Maßstab für eine wissenschaftlich festgesetzte Armutsgrenze sein. Nicht nur wurden die Regelsätze nahezu eingefroren, auch
die einmaligen Beilhilfen wurden abgesenkt. Jemand der heute oberhalb des gegenwärtigen Sozialhilfebedarfs lebt [und damit keinen
Anspruch auf Soziahilfe hat], kann unter denselben Einkommensvoraussetzungen vor einigen Jahren noch unter dem damaligen Sozialhilfeniveau
gelebt [und also Anspruch auf Sozialhilfe gehabt] haben. Ein Haushalt, der die 50%-Schwelle übrschreitet, hat damit noch nicht die
Armutsgrenze überschritten. Er hat eine Armutsgrenze überschritten, die bedenklich in der Nähe des physischen
Existenzminimums liegt."
Wer als Erwerbstätiger Sozialhilfe beziehen kann, gilt für
Regierende, Arbeitgeberverbände und Wissenschaftler inzwischen jedoch nicht mehr als arm. Arm kann nur jemand sein, der keine
Sozialhilfe beantragt, Armut ist also, wenn sie überhaupt existiert, selbst verschuldet. Wenn zudem die 50%-Grenze als Armutsgrenze
unter dem Sozialhilfeniveau liegt, dann können Sozialhilfebezieherinnen folglich auch nicht arm sein. Sozialhilfe gilt deshalb als
"bekämpfte Armut".
So versteht man die neueren Pläne aus Regierungs- und
Unternehmerkreisen, die Sozialhilfe überhaupt abzuschaffen und durch eine erhebliche niedrigere, nicht mehr am Bedarf orientierte
"Grundsicherung" zu ersetzen.
Roth fordert: Der Maßstab für das Lohnniveau muss das
Sozialhilfeniveau sein. Schon allein methodisch: der Lohn muss die Reproduktionskosten der Arbeitskraft decken. "Die arbeitenden
Menschen interessiert in erster Linie die Qualität der Bedürfnisbefriedigung, die mit dem Lohn möglich ist. Sie ist der
wichtigste Maßstab, der darüber entscheidet, ob Löhne als ‚zu niedrig empfunden werden." Der einzige
objektive Maßstab für die Qualität des Bedürfnisniveaus, bezogen auf eine bestimmte Geldsumme, aber ist die
Sozialhilfe.
"Das Verhältnis des real verfügbaren Nettoeinkommens
zum Sozialhilfeniveau ist die objektive Grundlage für die Beantwortung der Frage, ob das Einkommen bis zum Monatsende reicht oder
nicht. Aber auch dafür, wie es reicht, ob es mit oder ohne Einschränkungen reicht … Nur ein reales Einkommen, das deutlich
über dem Sozialhilfeniveau liegt, reicht im Durchschnitt auch."
Seine Erhebung kommt zum Schluss: "Nur bei 25-30% der befragten
Haushalte scheint das Einkommen tatsächlich ohne größere Anstrengungen zu reichen. Sie liegen mit ihrem realen
Haushaltsnettoeinkommen im Durchschnitt bei 140% des Sozialhilfeniveaus. Für 70-75% aller Haushalte reicht das Einkommen nicht
oder nur mit mehr oder weniger großem Verzicht."
Im öffentlichen Diskurs wird der Umstand, dass Erwerbstätige
der unteren Lohngruppen vielfach unter das Sozialhilfeniveau rutschen, allerdings nicht zum Anlass genommen, die niedrigen Löhne zu
geißeln, sondern die "zu hohe Sozialhilfe" anzugreifen. "Es ist nicht in Ordnung, wenn jemand im Bereich der
Sozialhilfe, ohne eine Leistung zu erbringen, mehr im Monat von der Solidargemeinschaft bekommt als derjenige, der arbeitet", zitierte
die Taz schon am 4.1.1993 Bundeskanzler Kohl.
Aber auch dem Arbeiter, dessen Lohn plus Kindergeld niedriger liegt als
das Sozialhilfeniveau eines vergleichbaren arbeitslosen Kollegen, erscheint subjektiv die Sozialhilfe als "zu hoch". "Dieser
Eindruck setzt sich eher durch als der, dass die Löhne gemessen am Sozialhilfeniveau zu niedrig sind. Und zwar deswegen, weil jemand,
der arbeitet, mehr haben will als einer, der nicht arbeitet … weil er auch mehr braucht."
Tatsache ist aber, dass Löhne tendeziell schneller gesenkt werden als
Sozialhilfe. Sie sind beweglicher, die Sozialhilfe ist starrer. In einer Zeit aber, argumentiert Roth, wo die Löhne schneller abgesenkt
werden als die Sozialhilfe und unter deren Niveau sinken, muss das Sozialhilfeniveau (weil am Bedarf orientiert) der entscheidende
Maßstab für die Beurteilung der Qualität des Haushaltseinkommens von Erwerbstätigen sein. Nicht die Sozialhilfe
muss gesenkt, die Löhne müssen angehoben werden!
Roth polemisiert auch gegen die Gewerkschaften. Zwar haben sich einige
unter ihnen der Problematik Niedriglohn angenommen (sie anerkennen also, dass es überhaupt "ungerechte" Löhne gibt).
Doch auch diese Gewerkschaften messen die Löhne nicht am Bedarf messen, sondern wiederum nur an anderen Löhnen/
Lohndurchschnitten.
Er zitiert eine im VSA-Verlag erschienene Studie über Niedriglohn,
in der es heißt, "dass es bei working poor um eine relative Armut geht, d.h. ‚ungerechte Löhne in Relation zu
‚gerechten oder ‚normalen oder ‚ausreichenden Löhnen gesetzt werden". Hier werden, so Roth, auch in
einem gewerkschaftslinken Diskurs Bedarfskriterien einfach ausgeschaltet. "Der Maßstab für die Angemessenheit eines Lohns
ist wiederum ein Lohn … Ungerechtigkeit entsteht nur dann, wenn der Lohnabstand zum Durchschnittslohn zu groß wird. Angaben, wie
hoch der Armutslohn ist, findet man im gesamten Buch nicht."
Der Kernpunkt seiner Kritik lautet: "Die gewerkschaftlichen Arbeits-
und Tarifforscher beschäftigen sich nicht mit Sozialhilfe … Die Sozialhilfe ist eben für die Bedürfnisse und die
Gewerkschaften sind für die Löhne zuständig."
Seine Schlussfolgerung: "Für Senkungen der Sozialhilfe
einzutreten, entspricht nicht den Interessen der Lohnbezieher, denn sie würden damit den Maßstab mit zerstören, der ihnen
ermöglicht, die Qualität der Bedürfnisbefriedigung zu messen, die mit ihrem Lohn möglich ist … Wenn Arbeiter und
Angestellte in erster Linie den Lohn und damit das, was Unternehmer bereit sind zu zahlen, als Maßstab der Sozialhilfe nehmen, ordnen
sie sich den Interessen des Kapitals unter und handeln letztlich gegen ihre Interessen."
Dies schließt oft, so erklärt er sich ihr Handeln, die versteckte
Zustimmung dazu ein, dass ihr eigenes Lohnniveau nicht erhöht werden kann. Der Hass gegen Sozialhilfebezieherinnen wächst auf
der Basis des Ohnmachtsgefühls, die eigene Situation verbessern zu können.
Roth stellt die gemeinsamen Interessen von Lohnabhängigen und
Sozialhilfebezieherinnen in den Vordergrund:
- Wenn die Sozialhilfe gesenkt wird, sinkt auch die Möglichkeit
für Lohnabhängige, ergänzende Sozialhilfe zu beantragen.
- Mit der Senkung der Sozialhilfe sinkt auch der Maßstab, mit dem
die Reproduktionskosten von Lohnabhängigen gemessen werden können.
- Senkung der Sozialhilfe bedeutet höhere Steuerzahlungen von
Beschäftigten. Das steuerfreie Existenzminimum hängt nämlich von der Höhe der Sozialhilfe ab.
- Senkung der Sozialhilfe erhöht die Konkurrenz auf dem Arbeitmarkt
und den Druck auf die Löhne.
- Senkung der Sozialhilfe bedeutet immer auch Senkung der
Arbeitslosenunterstützung.
Roth schlägt gezielte Kampfmaßnahmen vor, die den
Zusammenhang von Lohn und Sozialhilfe verdeutlichen:
- Eine Kampfform könnte sein, dass eine möglichst große
Anzahl von Kolleginnen und Kollegen gleichzeitg demonstrativ Sozialhilfeanträge stellt, um das Problem öffentlich zu machen,
dass sie unterhalb des Sozialhilfebedarfs leben, obwohl sie arbeiten.
- Eine andere Kampfform könnte sein, dass
Sozialhilfeansprüche im Betrieb ausgerechnet und veröffentlicht werden. Für Tarifkämpfe könnte ausgerechnet
werden, wie das Lohnniveau zum Sozialhilfeniveau steht.
"Die hohe Dunkelziffer von sozialhilfeberechtigten
Erwerbstätigen muss zuallererst ein starkes Motiv für eine Erhöhung des Lohnniveaus insgesamt sein, nicht nur ein Motiv,
für die Erhöhung von Kindergeld oder Wohngeld einzutreten." Das Problem, dass die Löhne den Bedarf (die
Reproduktionskosten) nicht decken, darf nicht auf die Sozialpolitik verlagert werden.
Je mehr das Lohnniveau sinkt, desto stärker wird die Notwendigkeit
von Mindestlöhnen, also einer unteren Grenze, unter die Lohneinkommen nicht fallen dürfen. "Mindestlöhne sind die
Form der Grundsicherung für Erwerbstätige. Mindestlöhne müssen gesetzlich festgelegt werden, wenn sie
flächendeckend sein sollen … Die Forderung nach Mindestlöhnen gewinnt eine größere Bedeutung, je mehr sich die
Unternehmen bei insgesamt steigender Profitmasse aus der Zahlung für die Reproduktionskosten ihrer Arbeitskräfte
zurückziehen. Mindestlöhne streben einen kollektiven Schutz dagegen an."
Die meisten Gewerkschaften sträuben sich gegen eine solche
Forderung, weil sie darin einen Eingriff in ihre Tarifautonomie sehen. Tatsächlich wären gesetzliche Mindestlöhne nicht
erforderlich, wenn die Gewerkschaften in der Vergangenheit ihre Kampfkraft ausreichend eingesetzt hätten, das Lohnniveau vor allem der
unteren Einkommensstufen zu verteidigen.
Die Gewerkschaften ziehen sich aber immer mehr auf die Wahrung der
Interessen der "Besserverdienenden" unter den Lohnabhängigen zurück und sind sogar bereit, Niedriglöhner im
Zweifelsfall ganz aus dem Bereich gewerkschaftlicher Tarifpolitik zu entlassen.
So wird in einer Gewerkschaft wie der ÖTV recht offen
darüber diskutiert, dass die Einführung eines staatlich kontrollierten Niedriglohnsektors für die Gewerkschaften auch
Vorteile haben kann: Sie müssen sich dann nicht mehr mit Beschäftigten herumschlagen, die eh nur in geringem Umfang
gewerkschaftlich organisiert und auch selten arbeitskampffähig (weil oft in Klitschen beschäftigt) sind - zumindest nicht nach den
üblichen Vorstellungen von einem Arbeitskampf. Die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns ist deshalb auch eine
(notwendige) Reaktion auf eine gescheiterte Gewerkschaftspolitik.
Angela Klein