Sozialistische Zeitung |
Die Ereignisse waren vorhersehbar (siehe SoZ 1/00): Die Unionisten stellen ein unannehmbares Ultimatum,
die IRA lässt sich nicht erpressen, die britische Regierung reagiert unangemessen, der Friedensprozess wackelt wieder. Der Grund: die
Hoffnung der Hardliner in der Ulster Unionist Party (UUP) sowie der gesamten rechtsextremen Democratic Unionist Party (DUP) ist nach wie
vor, den begonnenen Prozess der Aussöhnung der beiden Bevölkerungsgruppen nachhaltig zu stören.
Obwohl das unionistische Lager keine in die Zukunft weisende Option hat,
bleibt es der Logik des "langen Krieges" verhaftet. Die IRA hat besonnen, Sinn Féin seriös reagiert. Sogleich nach der
Suspendierung der Selbstverwaltung durch die britische Regierung hat die IRA betont, dass sie weiterhin an einem gleichberechtigten Prozess
interessiert ist, und neue Vorschläge präsentiert, die umgehend vom britischen Nordirland-Minister Mandelson abgelehnt wurden.
Die IRA hält weiterhin penibel den Waffenstillstand ein und setzt auf
die volle Umsetzung des Karfreitagabkommens (Good Friday Agreement). Die Selbstverwaltungsgremien sowie die Schaffung
grenzüberschreitender Institutionen und die Reformierung des Polizeiwesens sind Bestandteil des Abkommens - eine datierte Regelung
der Entwaffnung militärischer und paramilitärischer Kräfte aller Lager aber nicht.
Allen Beteiligten des Abkommens war klar, dass der sensible Punkt einer
allgemeinen Demilitarisierung nur im Rahmen langfristiger vertrauensbildender Maßnahmen umzusetzen ist. Genau auf diesen Punkt zielte
das provokative Ultimatum der UUP, einer Partei, die immerhin verbal hinter dem Karfreitagabkommen stand. Dieses Kalkül ist
aufgegangen.
Überraschend war jedoch der Coup von "New Labour".
Bei weitem nicht auf die Stimmen der UUP in Westminster angewiesen übernahm die Blair-Regierung nahtlos die Position der UUP und
löste die Selbstverwaltung in Nordirland nach wenigen Wochen auf. Mandelson organisierte diesen Schritt ohne Absprache mit der
irischen Regierung.
Die britische Regierung brach einseitig damit internationales Recht. Denn
das Abkommen vom 10.April 1998 ist ein internationaler Vertrag zwischen dem "Vereinigten Königreich" und der Republik
Irland. Dieser Vertrag wurde bei einer Volksabstimmung im Mai 1998 von 96% der Abstimmenden in der Republik unterstützt. Dieser
Vertrag beinhaltete die Änderung der Artikel 2 und 3 der irischen Verfassung und auf britischer Seite die Rücknahme der Sektion
75 des Government of Ireland Act.
Solange die Selbstverwaltung nicht wieder hergestellt wird, solange bricht
die britische Regierung internationales Recht und verstößt gegen den Grundsatz "Pacta sunt servanda" (Verträge
müssen eingehalten werden). Blair kann nicht dauerhaft Elemente des Abkommens erfüllen, andere nicht.
Die unionistischen Kräfte feierten natürlich das Vorgehen der
Regierung Ihrer Majestät. Friedensnobelpreisträger Trimble erscheint nun wieder als Lichtgestalt der traditionellen Kräfte
des "No surrender" und nähert sich damit wieder früheren Positionen an.
Für das republikanische Lager kann die neue Entwicklung
unangenehmer werden. Den mit der Tradition der physischen Gewaltanwendung verbundenen Republikanern kommt der Schritt der britischen
Regierung entgegen. Seit dem Abkommen haben sie Anstrengungen unternommen, ihre politischen und militärischen Potenziale zu
bündeln. Kleinere Guerillagruppen wie Real IRA und Continuity IRA haben sich anscheinend unter dem irischen Label der IRA in der
Oghlaigh na hEireann reorganisiert und erste Anschläge verübt. Politische Gruppen der "Ablehnungsfront" wie
Republican Sinn Féin (RSF) und Organisationen der extremen Linken werden neue Anstrengungen unternehmen, Fronten gegen die
Kräfte aufzubauen, die den Friedensprozess am Leben erhalten wollen, nämlich Sinn Féin und die IRA.
Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass es in Zukunft zu größeren
Abspaltungen kommen könnte. Für die gesamte Entwicklung wäre es fatal, wenn sich radikale republikanische
Strömungen zu einer neuen größeren militärischen Offensive entschließen würden. Solch ein Vorgehen
würde den Friedensprozess um viele Jahre zurückwerfen. Umgehend wäre jede politische Initiative blockiert.
Darauf setzen die Ultras bei den Unionisten, die ihrerseits bereits die
nächsten Provokationen bei den Märschen im Sommer planen. Zudem kann ein kompromissloser Trimble hoffen, weitere Teile der
Unionisten wieder an die UUP zu binden. Der parteienübergreifende sektiererische Oranier-Orden hatte nie seine Abneigung gegen jede
Annäherung der beiden Bevölkerungsgruppen verhüllt.
Die nationalistische Bevölkerung, ihre gesellschaftlichen und
kulturellen Organisationen, unterstützt jedoch noch in ihrer breiten Mehrheit den Kurs von Sinn Féin und der
sozialdemokratischen SDLP. Beide Parteien gingen gestärkt aus den letzten Wahlen hervor und haben dort keine Konkurrenz im
nationalistischen Parteienspektrum. Dieses Faktum ist zur Zeit der stärkste Garant dafür, dass der Friedensprozess nicht wie ein
Kartenhaus zusammenfällt.
Eine organisatorische Bündelung gemäßigter Unionisten
zur Unterstützung des Friedensprozesses ist nicht in Sicht. Zu stark ist die Identifikation mit den Werten ihrer Gemeinschaft. International
wird es daraus ankommen, dass die britische Regierung breit mit der Forderung konfrontiert wird, die Suspendierung der
Selbstverwaltungsorgane zurückzunehmen und den Weg für die volle Umsetzung des Karfreitagabkommens frei zu machen.
Besonders die US-amerikanischen Parteien könnten jetzt in der Vorwahlphase ein Interesse haben, durch eine entsprechende Rhetorik
irischstämmige WählerInnen an sich zu binden.
Wenn sich die Blair-Administration nicht in nächster Zeit in diese
Richtung bewegt, könnte aus dem Good Friday bald ein "schwarzer Freitag" für die gesamte Region
werden.
Paul Stern