Sozialistische Zeitung |
Das Buch Leben und Sterben im Todestrakt sprengt seinen Rahmen. Hier wird weit mehr als nur ein
Schlaglicht auf Huntsville in Texas geworfen, dem Todestrakt der Gefängnisse dort, die sinnigerweise Ferienheim, Bergsicht und
Zuckerland getauft sind, nicht bloß auf den grauenvollen Weg zu Old Sparky, wie die Texaner den elektrischen Stuhl anhänglich
nennen. Margrit Sprecher, die sich als Schweizerin aus Zürich einen unverstellten Blick auf Gods Own Country bewahrt hat,
durchleuchtet zugleich auch Schattenseiten des amerikanischen Lebens jenseits der Gefängnisse - man lernt den Nährboden
für all die Kriminalität begreifen, die allein im neunundneunziger Jahr nahezu zwei Millionen Amerikaner hinter Gitter gebracht
hat.
In Huntsville, Texas, so erfahren wir, werden im Auftrag des Staates mehr
Menschen hingerichtet als in jeder anderen Stadt in einer Demokratie. Von Houston kommend, erreicht man binnen einer Autofahrstunde die
Tafel mit der Aufschrift: "Willkommen in Huntsville, wo das Abenteuer beginnt!"
Die Autorin hat hier ihr ureigenes Abenteuer gefunden - hat in Erfahrung
gebracht, nach welchen Kriterien in den USA über Leben und Sterben entschieden wird, hat den demütigenden Alltag im Todestrakt
nacherlebt, die Seelenqual der Angehörigen von Opfern und Tätern mitempfunden - was für ein Kapitel, dieses achte
über den Anmarsch der Angehörigen am Besuchstag! - und ist der Legion von Geschäftemachern auf die Spur gekommen, die
sich an diesem gewaltigen prison system zu bereichern versteht, und hat zu alldem noch erschütternd über das bittere Los der
Unschuldigen berichtet.
Die Frau erweist sich als Reporterin von Format, hart gegen all und jede
Ungerechtigkeit, Unmenschlichkeit, eine würdige Kisch-Pristrägerin, die nicht nur zufällig die Worte der Eltern Joshua
Whites aufzuspüren verstand, jener Eltern eines kaltblütig auf der Straße ermordeten Heimerziehers, die in der Zeitung The
Voice folgendes veröffentlichten:
"Der Mann, der unseren Sohn tötete, ist ebenso ein Produkt
dieses Systems wie die Raketen, mit denen wir fremde Länder bombardieren. Hätten wir eine gerechte Gesellschaft, eine, die die
Menschen in all ihrer Vielfalt respektiert, eine, die allen Menschen die gleichen Chancen einräumt, würde unser Sohn Jo-Jo noch
immer ein großzügiges, fröhliches Leben führen können. Und der junge Mann, der ihn tötete und jetzt auf
der Flucht ist, ebenfalls."
Walter Kaufmann