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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.5 vom 02.03.2000, Seite 15

‘Gott sei Dank bin ich Atheist‘

Eine Frau bekommt ein Auge durchgeschnitten, ein Esel sitzt auf dem Klavier, eine Kuh liegt im Bett, vier Bischöfe in vollem Ornat zelebrieren eine Messe auf einer Klippe, um wenig später als Skelette - immer noch in vollem Ornat - auf der Klippe zu liegen, Jesus diskutiert mit seiner Mutter, ob ihm der Bart steht oder nicht, zwei Adlige tauschen beim Fechten theologische Argumente aus, ein Mann versucht verzweifelt, die hundertfach verknotete Unterhose seiner Geliebten aufzumachen, jemand erhängt sich mit einem Springseil an einem Baum, unter dem kurz zuvor noch ein kleines Mädchen mit dem gleichen Springseil gespielt hat, eine Gesellschaft setzt sich auf Kloschüsseln um einen Tisch herum, um gemeinsam zu scheißen, eine andere Gesellschaft findet sich plötzlich beim Dîner auf einer Bühne wieder, fromme Mönche fangen nachts an zu zocken usw. usf.
Das ist nur eine sehr kleine und willkürliche Auswahl von irritierenden, absurden oder skandalösen Szenen aus den 32 Filmen, die der spanischen Regisseur Luis Buñuel, der am 22.Februar 100 Jahre alt geworden wäre, zwischen 1928 und 1977 drehte.
Geboren wurde er in der aragonesischen Kleinstadt Calanda als Sohn eines reichen Geschäftsmanns. Nachdem er zunächst Agronomie studiert hatte, wandte er sich 1920 der Entomologie zu, eine Tatsache, die für sein Filmschaffen nicht uninteressant ist, da Insekten ein nicht unwesentlicher Bestandteil seiner Bildersprache sind. Auch äußerte er sich einmal dahingehend, dass er die Figuren seiner Filme aus der Perspektive eines Insektenforschers betrachte. Während seines Studiums schloss er sich einer avantgardistischen Künstlergruppe, der "Generación del 27", an, zu der u.a. auch Federico García Lorca gehörte. Diese Gruppe hatte Ähnlichkeit mit den deutschen und französischen Dadaisten.
1925 übersiedelte Buñuel nach Paris, wo er recht bald in Kontakt mit den Surrealisten kam. Nach einigen Versuchen im Theater widmete er sich der Filmkunst. So entstand 1928 in Zusammenarbeit mit Salvador Dalí der Film Un chien andalou (Ein andalusischer Hund), in dem bekanntlich keine Andalusier und keine Hunde vorkommen. Auch sonst irritiert dieser Film, der konsequent mit konventionellen Sehgewohnheiten bricht. Er bricht mit dem Prinzip der einheitlichen Handlung und reiht traumartige Szenen nach dem Prinzip des Zufalls aneinander. Trotz einiger blasphemischer und anderer - zumindest für die damalige Zeit - anstößiger Szenen bleibt der von Buñuel und Dalí erhoffte Skandal aus.
Dieses Ziel erreichte Buñuel mit seinem zweiten Film L‘âge d‘or (Das goldenen Zeitalter) 1930. Laut Buñuel beschreibt dieser Film "den geraden Weg eines Menschen, der der Liebe durch die gemeinen humanitären, patriotischen Ideale und andere schändlichen Mechanismen der Wirklichkeit hindurch folgt". Von nationalistischen, royalistischen und klerikalen Gruppen wurde der Film angegriffen. Im Pariser Kino Studio 28 verübten Rechtsextremisten einen Bombenanschlag auf die Leinwand. Die bürgerliche Presse entfachte eine Kampagne gegen den Film, der am 11.Dezember 1930 in Frankreich verboten wurde.
Mit seinem dritten Film Las Hurdes (1932), einem Dokumentarfilm, offenbarte Buñuel, dass sein Herz am richtigen Fleck - nämlich links - schlägt. Er schildert darin die elenden Lebensbedingungen der Landbevölkerung in Las Hurdes, einer entlegenen und besonders verelendeten Gegend in Zentralspanien. Der Film endet mit einem Appell für soziale Veränderungen und ist gleichzeitig eine Stellungnahme für die noch junge spanische Republik, der Buñuel auch während des Bürgerkriegs die Treue hielt. 1932 war Buñuel in die Kommunistische Partei Frankreichs eingetreten. Er machte allerdings künstlerisch keinerlei Zugeständnisse an den "sozialistischen Realismus" und behielt eine ironische Distanz zum Kommunismus und auch zum Anarchismus, mit dem er ebenfalls sympathisierte, bei. So äußerte er einmal: "Ich bin Revolutionär, aber die Revolution jagt mir Angst ein. Ich bin Anarchist, aber ich bin absolut gegen Anarchisten."
Ein wichtiges Thema bei Buñuel ist die Religion, vor allem der Katholizismus, der seine Kindheit stark geprägt hatte. Allerdings verlor er seinen Glauben nach eigenen Angaben bereits mit 15 Jahren. Motive aus dem Katholizismus durchziehen, i.d.R. ironisch verfremdet, sein gesamtes filmisches Schaffen. So bestehen die Dialoge des Films La voie lactée (Die Milchstraße, 1969) fast vollständig aus Zitaten aus theologischen Schriften, die auf sehr überraschende Art in Spielszenen umgesetzt werden wie das oben kurz geschilderte Duell.
Buñuels Atheismus war nicht kämpferisch, er verstand sich nicht als antiklerikal oder antireligiös, er zog nur die Konsequenz aus seiner Erkenntnis, dass "Gott sich nicht um uns [kümmert]. Wenn es ihn gäbe, dann ist es so, als gäbe es ihn nicht." So bezeichnete er sich auch als "Atheist von Gottes Gnaden". Außerdem hielt er Christen für lebensuntüchtig: "Was das religiöse Problem angeht, so bin ich überzeugt, dass der Christ … auf Erden nichts zu suchen hat … weil es keinen anderen Weg gibt als den der Rebellion in dieser so misslungenen Welt." So schildert er in Nazarin (1959) den Priester Don Nazario als ähnlich weltfremd wie Don Quijote, da er die Ideale der Bibel auf ähnliche Art und Weise verwirklichen will wie der Ritter von der traurigen Gestalt die Ideale der Ritterromane.
Von 1946 bis 1960 machte Buñuel seine Filme in Mexiko, das ihm als Gegner der Franco-Diktatur Asyl gewährte. Die Filme dieser Periode sind nur scheinbar konventionell. Buñuel kehrt zwar zum Erzählkino zurück, es gelingt ihm aber, dessen Regeln ironisch zu hintertreiben. So liefert er bspw. die von der mexikanischen Filmindustrie gewünschten Happyends, die bei näherem Hinsehen aber gar nicht so glücklich sind. In Mexiko entstehen 18 Filme. Zu erwähnen sind besonders Los olvidados (Die Vergessenen, 1950), El (Er, 1952/53) und Ensayo de un crimen (Das verbrecherische Leben des Archibaldo de la Cruz, 1955).
1960 kehrt er nach Spanien, in dem Franco noch an der Macht ist, zurück, was einige Linksintellektuelle als Verrat ansehen. Er bewahrt aber seine Unabhängigkeit und verursacht mit Viridiana einen Skandal, dem Francos oberster Filmbürokrat zum Opfer fällt.
1967 beginnt mit dem Film Belle de jour Buñuels dritte und letzte Schaffensperiode. Allerdings ist das, was folgt alles andere als ein Alterswerk. Buñuel findet vielmehr zu den auch formalen Experimenten seiner frühen Werke zurück. In dieser Zeit entstehen seine vielleicht bekanntesten Filme: Le charme discret de la bourgeoisie (Der diskrete Charme der Bourgeoisie, 1972), Le fantôme de la liberté (Das Gespenst der Freiheit, 1974), der ähnlich wie Le chien andalou keine formale Handlung hat, sondern aus scheinbar zufällig aneinandergereihten Szenen besteht, und Cet obscur objet du désir (Dieses obskure Objekt der Begierde, 1977).
Am 29.Juli 1983 stirbt Luis Buñuel in Mexiko-Stadt an Leberzirrhose. Mit Luis Buñuel gedenken wir eines Künstlers, der durch seine Ironie und seinen Humor alle scheinbar fest gefügten Wahrheiten in Frage gestellt hat. Auf seine Weise hat er das Prinzip hochgehalten, dass die Würde des Menschen letztlich in der Rebellion begründet liegt.

Andreas Bodden

Literatur
Michael Schwarze, Luis Buñuel, Reinbek (Rowohlt) 31993 (mit Filmografie); Luis Buñuel, Objekte der Begierde (Hg. H.v.Berenberg), Berlin (Wagenbach) 2000. (Die Zitate sind diesen Büchern entnommen.)


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