Sozialistische Zeitung |
Vor zehn Jahren leitete der damalige Premierminister Südafrikas, de Klerk, mit einer Rede vor dem südafrikanischen Parlament
die offizielle Abkehr vom Apartheidsystem ein. Welche Rolle spielt heute der Rassismus in der südafrikanischen Gesellschaft?
Der Rassismus spielt nach wie vor eine große Rolle. Was
abgeschafft wurde, war die diskriminierende Gesetzgebung. Aber die meisten Institutionen, die vor der Wende in Südafrika diese Politik
umsetzten, bestehen immer noch. Auch in der Wirtschaftspolitik hat sich sehr wenig geändert. Die Eigentumsverhältnisse sind im
Grunde die gleichen, auch wenn es stimmt, dass immer mehr schwarze Unternehmer auf dem Wege der Gleichstellungspolitik beginnen, ihren
Teil vom kapitalistischen Kuchen zu sichern.
Trotzdem kann keine Rede davon sein, dass sich die grundsätzlichen
Eigentumsverhältnisse radikal verändert hätten. Sie sind die Grundlage des Rassismus in Südafrika. Die soziale
Ungleichheit, die das kapitalistische System in Südafrika produziert und reproduziert, wird immer wieder auch als rassische Ungleichheit
reproduziert. Die Ausbeutung der Schwarzen, weil sie Schwarze sind, ist die eigentliche Problematik. Sie erhalten z.B. niedrigere Löhne.
Sogar die Versuche der Gewerkschaftsbewegung, das Lohnniveau zu halten, werden von der jetzigen Regierung immer wieder untergraben.
Daran ändern auch ihre wohlfeilen Reden nichts.
Formal gibt es Gleichstellungs- und Antidiskriminierungsgesetze, nach
denen eigentlich alle, unabhängig von ihrer Hautfarbe, denselben Lohn bekommen müssten. Aber in der Realität arbeiten die
von der Regierung propagierten Flexibilisierungsprogramme gegen die Schwarzen. Sie stellen den größte Anteil an den nicht
ausgebildeten Arbeitskräften.
Natürlich bewegen sich Teile der schwarzen Mittelklasse aus den
Townships hinaus, in die ehemaligen "weißen" Gebiete, schicken ihre Kinder in vormals den Weißen vorbehaltene
Schulen. An der Oberfläche ändert sich also schon etwas.
Aber für die große Mehrheit der Bevölkerung bleibt es
so, wie es war. Sie leben in den Townships, den Squatter-Camps und den ländlichen Gebieten. Die Ghettoisierung ist nicht aufgehoben
worden. Solange diese soziale Ungleichheit aber weiterbesteht, werden rassistische Vorurteile immer wieder von neuem geschürt
werden. Das macht es sehr viel schwieriger, gegen die damit verbundenen Stereotypen anzukämpfen. Denn auch das ist notwendig, wenn
wir Rassismus nicht nur als ökonomischen Ausbeutungsmechanismus, sondern auch als kulturelle Unterdrückung von Individuen
und Gruppen begreifen. Wir müssen auch auf der Ebene der Bewusstseinsbildung den Rassismus bekämpfen. Das ist sehr
schwierig, solange die Ghettoisierung nicht aufgehoben wird.
Es macht sich jetzt auch ein neuer Rassismus gegenüber Migranten aus anderen afrikanischen Ländern bemerkbar. Sie werden
mit Drogenhandel und der wachsenden Kriminalität in Verbindung gebracht. Geht das eher von der schwarzen Mittelschicht, den
Weißen oder den Bewohnern der Townships aus?
Das ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen. In erster Linie wird
diese Xenophobie jedoch von den kleinen Leuten artikuliert. Sie erleben die Migranten als Konkurrenz und behaupten, dass sie ihnen die
Arbeitsplätze wegnehmen. Die sind in der Tat äußerst rar: Die Arbeitslosenrate in Südafrika liegt zwischen 40 und
50%, offiziell sind es mittlerweile 37%. Vor allem die Jugendlichen sind davon betroffen, in einigen Regionen wie Port Elizabeth sind 80%
erwerbslos. Das ist der Grund, warum viele für Vorurteile gegenüber Migranten aus anderen afrikanischen Ländern offen
sind. In jeder Familie gibt es Arbeitslose. Wenn ihnen gesagt wird, dass diese Leute ihnen die Arbeit wegnehmen, reagieren sie, wie das auch
andere Arbeitslose in anderen Ländern tun.
Der südafrikanische Präsident Thabo Mbeki hat erklärt, dass auch er den Rassismus als Problem der
südafrikanischen Transformationsgesellschaft wahrnimmt und bekämpfen will. Wie sind seine Äußerungen
einzuschätzen?
Auf subjektiver Ebene sind sie ernst gemeint und ernst zu nehmen. Es gibt
keinen Schwarzen, für den dieses Problem nicht ernsthaft vorhanden wäre. Das Wort Rassismus wird jedoch von Politikern wie
Mbeki oft einfach nur als rassistisches Vorurteil verstanden. Sie wollen gegen die Stereotypisierung von Menschen ankämpfen. Die
strukturellen Grundlagen des Rassismus, die Ausbeutung, werden von ANC-Politikern und anderen Liberalen immer weiter weggeschoben,
denn formal existiert ja seit dem Machtwechsel Chancengleichheit. Mbeki als früheres KP-Mitglied weiß es natürlich besser.
Er weiß, dass es um die Umverteilung der Ressourcen, des Eigentums und der Produktionsmittel geht.
Aber das ist nicht, was er meint, wenn er sagt: "Wir kämpfen
gegen den Rassismus." Das ist ein bedeutender Widerspruch, denn er ist symptomatisch für viele Aspekte der ANC-Politik.
Einerseits suggeriert Mbeki der grossen Masse der schwarzen Menschen, dass er ihre Probleme versteht. Andererseits will der ANC so tun, als
wäre Südafrika schon eine normale, bürgerliche Gesellschaft, wo Umverteilung über fiskalische Methoden stattfindet.
Wenn man sich die Praxis betrachtet, heißt das natürlich, dass Umverteilung überhaupt nicht stattfindet.
Gibt es in Südafrika Ansätze, die in der Lage sind, Protest, Organisierungsprozesse und eine öffentlich-kritische Debatte
zu initiieren?
Eine öffentliche Debatte ist bereits im Gang. Viele linke
Zusammenhänge haben Zugang zu den Medien, auch zu Radio und Fernsehen. Wir werden auf Veranstaltungen eingeladen. Offensichtlich
besteht ein großes Bedürfnis nach Diskussion, denn viele politisch bewusste Menschen in Südafrika sind verwirrt. Der ANC
macht heute eine ganz andere Politik, als viele ursprünglich erwartet haben.
Die Einladungen zu regierungskritischen Veranstaltungen gehen jedoch
immer nur an Individuen, die dann erklären müssen, dass sie Organisationen und Zusammenhänge vertreten. Es gibt keine
Koordination. Dieser Mangel resultiert aus der Unfähigkeit der revolutionären Sozialisten in Südafrika, sich zu sammeln und
miteinander zu arbeiten. Das hängt vor allem mit unterschiedlichen strategischen Auffassungen zusammen. Nicht einmal eine Einheitsfront
zu thematisch begrenzten Aktionen kommt zustande, obwohl WOSA schon mehrmals die Initiative dafür ergriffen hat. Wenn
Ansätze von politischer Koordinierung stattfinden, dann auf individueller und informeller Ebene. Das reicht nicht aus, denn die meisten
dieser Individuen können die Loyalität gegenüber ihrer eigenen Partei oder Organisation nicht überwinden.
Welche Optionen stellen jenseits der Parteistrukturen die wachsenden sozialen Bewegungen dar?
Wir unterstützen z.B. Kampagnen wie Jubilee South, die die
Verschuldung Südafrikas auf ihre politische Agenda gesetzt hat. Doch eine große Rolle spielt WOSA darin nicht. Unserer Ansicht
nach bietet diese Kampagne ausserhalb der Kirchen kaum Möglichkeiten, große Teile der Bevölkerung zu mobilisieren. Die
Entschuldungskampagne wird kein großes Echo in der Bevölkerung finden und kaum Popularität entwickeln, denn dafür
ist sie zu indirekt. Die Menschen in den Townships und auf dem Land sehen diesen direkten Zusammenhang zwischen der Entschuldung und
ihrer Situation nicht.
Die Kampagne gegen die Apartheidschulden, die unter dem Motto
"Wir wollen nicht ein zweites Mal zahlen" angetreten ist, spricht vor allem Intellektuelle und politische Aktivisten an. Aber die
große Masse sagt nach wie vor: "Der ANC wird das schon machen." Gleichwohl kann die Kampagne einen großen
Einfluss auf das intellektuelle Milieu gewinnen. Deshalb unterstützt WOSA sie, auch wenn sie in ihrer jetztigen Ausprägung nicht
massenwirksam sein wird. Kampagnen gegen Schulgebühren und Mehrwertsteuern sind direkter und sprechen die Menschen eher an, weil
sie direkt betroffen sind.
Eine bedeutende Rolle spielen Kampagnen gegen Privatisierungen, die
auch die Gewerkschaftsbasis ansprechen. Leider ist es so, dass ausserhalb der Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes SAMWU und der
Textilarbeitergewerkschaft der Kampf gegen Privatisierungen keine Rolle mehr spielt. Mitglieder, die diese Kampagne in anderen
Gewerkschaften voranzutreiben versuchten, wurden systematisch ausgegrenzt. Dass dies so ohne weiteres möglich war, ist wiederum ein
Beleg dafür, dass viele der organisierten Arbeiter nach wie vor der Ansicht sind, dass der ANC bzw. sein Bündnispartner, die
SACP (South African Communist Party), ihre Belange schon regeln werden. Faktoren wie die hohe Analphabetenrate und die mangelhafte
demokratische Streitkultur tragen zusätzlich dazu bei, dass die Problemstellung zunächst nicht erkannt wird: erst im Nachhinein
werden viele sehen, dass nach der Privatisierung eines Unternehmens Arbeitsplätze abgebaut werden. Doch dann ist es zu spät.
Vorher jedoch können und wollen sie dieses Problem nicht sehen. Das ist wie in anderen Ländern auch: Der einzelne Arbeiter und
die einzelne Arbeiterin denken nur an den eigenen Job. Solange dieser gesichert scheint, wollen sie sich nicht engagieren.
Das ist ein ganz großer Unterschied zwischen der heutigen Zeit und
1990. Die Solidarität ist geschrumpft. Der Gewerkschaftsdachverband COSATU schafft es nicht einmal, eine Kampagne zugunsten der
Erwerbslosen zu initiieren. Es fehlt das politische Bewusstsein. Die sozialen Bewegungen können hier eine wichtige Rolle spielen, wenn
es ihnen gelingt, ihre politischen Belange derart zuzuspitzen, dass sie die Bedürfnisse der Bevölkerung direkt ansprechen.
Welche Szenarien sind vorstellbar, wenn es nicht gelingt, die Solidarität in der Bevölkerung neu zu beleben?
Nicht kurzfristig, aber mittelfristig würde dies in der Tat eine
große Gefahr darstellen. Genau wie bei der Xenophobie werden Bevölkerungsmehrheiten die Rechte bestimmter Minderheiten in
Frage stellen und rassistische Vorurteile entwickeln. Am westlichen Kap könnte beispielsweise die Stimmung der Farbigen gegen die
Xhosa kippen und in eine Forderung münden, dass weniger Xhosa sprechende in die Western-Capes kommen sollen. Das könnte zu
großen Problemen führen. Dasselbe gilt für Kwazulu-Natal. Dort könnten sich traditionell orientierte Zulus gegen die
Inder richten. Auch in den nördlichen Provinzen ist ein ähnliches Szenario zwischen verschiedenen Ethnien möglich.
Die Regierung, bzw. die Führung des ANC, ist sich dieser Gefahr
nicht genügend bewusst. Sie will keine Ethnisierung der Politik. Aber ihr politischer Diskurs - ja, schon die Art und Weise, wie z.B.
Mandela von Farbigen, Weißen, Indern und Schwarzen redet - ist sehr problematisch. Wenn eines Tages eine Überschneidung von
ethnischem Bewusstsein einerseits und wirtschaftlichem Interesse andererseits stattfindet, dann haben wir eine brandgefährliche
Situation.
Das ist auch eine der Lehren, die wir aus der Geschichte Jugoslawiens
ziehen können. Diese Gefahr wird dann immer größer werden, wenn ein Klassenbewusstsein bei den Arbeiterinnen und
Arbeitern innerhalb der nächsten zehn Jahre nicht zustande kommt. Ich glaube, dass wir diese Zeit noch haben. Aber es sind auch andere
Szenarien denkbar. Zum Beispiel dass der Krieg aus Zentralafrika wie in Namibia auch zu uns überschwappt. Das wäre eine
völlig neue Situation. Angesichts der ungeheuren politischen Dynamik, die zur Zeit im südlichen Afrika zu spüren ist, muss
man auf alles vorbereitet sein. Die Verhältnisse hier können sich von heute auf morgen ändern.
Unser erstes Ziel ist natürlich, eine Massenpartei als Alternative zur
SACP aufzubauen. Grundlage dafür werden die Mobilisierungen gegen die Regierung und die Privatunternehmen sein. Vor allem die
Gewerkschaft der Staatsbediensteten und die Transportarbeitergewerkschaft sind strategisch besonders wichtig. Bei einer Erwerbslosigkeit
von über 40% müssen wir aber auch Ansätze finden, diesen Teil der Bevölkerung zu mobilisieren.