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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.6 vom 16.03.2000, Seite 12

Ein Revolutionär in der russischen Duma

Interview mit Oleg Schein

Oleg Schein ist der einzige gewählte revolutionäre Sozialist in der Staatsduma, dem russischen Parlament. Die Gruppe, die er repräsentiert, die Bewegung für eine Arbeiterpartei (DRP - Dwishenije dlja Rabotschei Partii), war im August 1999 durch die Vereinigung von 31 Organisationen gegründet worden. Zur DRP gehören verschiedene kleine marxistische Gruppen sowie mit zahlreichen Arbeiterkämpfen verbundene Gewerkschaftsverbände, darunter Saschtschita (Schutz), die einzige landesweite militante Gewerkschaft in Russland. Mit OLEG SCHEIN sprach die australische Wochenzeitung Green Left Weekly.


Worauf führst du deinen Erfolg bei den Wahlen in Astrachan zurück?
Oleg Schein: In der Region Astrachan gibt es zwei Organisationen der Arbeiterklasse. Zum einen die Vereinigte Arbeiterfront (SRF) als politischer Flügel, zum anderen Saschtschita als Gewerkschaft, die hauptsächlich die ökonomischen Kämpfe der Klasse führt. Die SRF ist eine 1989 gegründete marxistische Organisation, die 1995 Saschtschita gegründet hat. Die SRF gründet sich auf den Internationalismus und tritt für die Verstaatlichung des großen und mittleren Kapitals und die Errichtung der Arbeitermacht ein.
Gemeinsam stehen die SRF und Saschtschita für viele Jahre der Erfahrung im Kampf für die Rechte der werktätigen Bevölkerung. Unsere Organisation hat dutzende von Streiks geführt, darunter Betriebsbesetzungen, hunderte von legalen Aktionen gegen die Bosse, Straßenblockaden, Massenversammlungen.
Im Laufe der Jahre haben wir die Auszahlung ausstehender Löhne erkämpft, die Wiedereinstellung illegal entlassener Arbeiter erzwungen und verhindert, dass die Bosse Arbeiter aus Wohnungen werfen, die Unternehmenseigentum sind.
1998 organisierten wir eine Zeltstadt vor dem Sitz des Regionalgouverneurs mit der Forderung, ausstehende Löhne auszuzahlen, den Bankrott der Fabriken zu stoppen und den lokalen Staatsanwalt zu entlassen. Es war unsere Organisation, die die Rechte der kleinen Straßenverkäufer, der tschetschenischen Flüchtlinge und von Müttern, die keine angemessene Hilfe von der Regierung erhalten, verteidigte.
Natürlich war dieser Kampf nicht einfach. Beispielsweise versuchte der Staatsanwalt wiederholt Prozesse gegen mich und meine Genossen wegen "illegaler" Streiks zu initiieren. Acht Genossen sind physisch angegriffen worden, und ein besonders talentierter Organisator, Oleg Maxakow, wurde im Frühjahr 1999 durch Schüsse in den Rücken getötet.
Die bürgerliche Presse hat uns mit Verleumdungen überhäuft, genauso wie die offiziellen russischen "Kommunisten" von Gennadi Sjuganows "Kommunistischer Partei der Russischen Föderation" (KPRF), die im Dienste der Bourgeoisie stehen.
Der Wahlerfolg bestätigt das hohe Ansehen, das die SRF und Saschtschita unter den Werktätigen Astrachans genießen. Dass wir vor allem in von der Arbeiterklasse geprägten Gebieten gewonnen haben, spricht für sich, und das Wahlresultat bestätigt den Klassencharakter unserer Organisation.

Wie willst du deine Position als Abgeordneter der Staatsduma ausnutzen, um die Interessen der Arbeiterklasse zu fördern?
Es ist jetzt noch schwierig für mich zu beurteilen, was ein Dumaabgeordneter erreichen kann. Aber aus meiner Sicht besteht die Hauptaufgabe eines Abgeordneten nicht darin, im warmen Plenarsaal zu sitzen und die Knöpfe der Abstimmungsmaschine zu drücken.
Ich möchte meine Position dazu nutzen, kämpfende Kollektive, die für ihre Rechte eintreten, zu unterstützen, Kontakte zwischen Arbeitergruppen aus allen Regionen Russlands zu knüpfen, arbeiterfeindliche Gesetze öffentlich zu bekämpfen, die Arbeiterbewegung in Russland zu politisieren und die Bildung einer russischen Arbeiterpartei zu ermöglichen.
Die ersten Schritte für dieses Ziel sind getan. Saschtschita ist eine Organisation, die das ganze Land umfasst und Mitglieder und lokale Gruppen nicht nur in Astrachan hat, sondern auch in Komi, dem Atomzentrum der Föderation, in allen Regionen des europäischen Russland sowie im Ural.
Die Gründungskonferenz der Bewegung für eine Arbeiterpartei (DRP) im August 1999 in Moskau bedeutet auch, dass sich die Möglichkeiten für diese Arbeit deutlich erweitert haben.

Wie willst du Sjuganows "Reformismus" entlarven?
Die beste Möglichkeit, die karrieristischen Funktionäre der KPRF zu entlarven, die sich von dem Wort "Sozialismus" ernähren, besteht in der praktischen Organisation der Arbeiterklasse und der Verteidigung der Rechte aller Werktätigen. Die anderen stalinistischen "kommunistischen" Parteien, die der KPRF vorwerfen, mit dem Marxismus gebrochen zu haben, erlitten bei den letzten Wahlen ein trauriges Schicksal. Die Menschen in Russland benötigen Taten, nicht bloße Worte.
Weder die KPRF noch die anderen Parteien in Russland drücken die Interessen der Arbeiterklasse aus. Die allgemeine Logik all dieser Parteien besteht einfach darin, vom Volk zu verlangen: "Gebt uns die Macht!" Diese Parteien kämpfen für ihre eigene Macht, nicht für die Macht der Arbeiterinnen und Arbeiter.
Es kommt daher nicht überraschend, dass die KPRF ihre Wahlkampagne auf die öffentliche Nostalgie für die sozialen Wohltaten aus den Tagen der Sowjetunion gründet. Doch die Wählerinnen und Wähler wissen nicht, dass die gewählten Abgeordneten der KPRF zugunsten aller Regierungsbudgets, für alle Kandidaten für den Posten des Ministerpräsidenten und für die Verabschiedung arbeiterfeindlicher Gesetze stimmen. Es ist absolut notwendig, die Leute darüber aufzuklären.

Auf welche Entwicklungen in Russland führst du das Anwachsen des russischen Nationalismus zurück?
Der russische Nationalismus hat mehr von einem verwundeten Stolz als von einer rassistischen Tönung. Die Wahlergebnisse beweisen das. Die Parteien, die Sitze gewannen, taten dies mit der Position der Stärkung des Staates und nicht durch offenen Chauvinismus. In den letzten zehn Jahren hat Russland im Zustand der nationalen Demütigung gelebt.
Man muss erwähnen, dass die antitschetschenische Stimmung schon seit einiger Zeit, seit 1992/93 angeheizt wird, da die Behörden einen Blitzableiter benötigten. Der tschetschenische Staat gab selbst genug Anlass für diese Stimmung. Rassismus gegenüber der russischsprachigen Bevölkerung, Entführungen, Sklaverei, Viehdiebstahl, Hinrichtungen und Folter, beständige Drohungen, den Nordkaukasus von den "Ungläubigen" zu "befreien", die Intervention der Wahhabiten in Dagestan - all dies schuf eine negative Haltung zu dem, was in Tschetschenien vor sich ging.
Es ist bezeichnend, dass zu Beginn des Krieges im August die den Tschetschenen ethnisch nahe stehende Bevölkerung Dagestans entschieden gegen die tschetschenische Führung und den Wahhabismus [eine islamisch-fundamentalistische Sekte] eingestellt war. Dagestan ist das einzige Territorium Russlands, in dem Wahhabismus und islamischer Extremismus gesetzlich verboten sind.
Man darf nicht vergessen, dass der Krieg von 1994-96 die Spaltung in der tschetschenischen Bevölkerung vertieft hat. Praktisch die gesamte Industrie wurde zerstört. Große Teile der landwirtschaftlichen Nutzfläche wurden vermint. Dies ist ein weiterer Grund, warum die tschetschenische Wirtschaft auf die Konsumtion reduziert wurde und die Gesellschaft jede Stabilität verloren hat.
Maschchadow, der tschetschenische Präsident, konnte die islamischen Extremisten nicht stoppen. Alle prominenten Politiker, die ihren "Patriotismus" demonstrierten, sind aus verschiedenen Gründen diskreditiert. Daher hat der "kleine siegreiche Feldzug" als Sprungbrett für die Präsidentschaft Putins gedient, eines bis dahin unbekannten Offiziers aus Jelzins Umkreis.
Außer durch seine Rolle in diesem Krieg hat sich Putin durch nichts in den Augen der russischen Gesellschaft ausgezeichnet. Deshalb verringern die aktuellen Fehlschläge der russischen Armee in Tschetschenien seine Aussichten bei den Präsidentschaftswahlen.
In Zukunft wird Russland kaum in der Lage sein, das Territorium zu kontrollieren, wo infolge zweier Kriege jede Familie Todesfälle zu beklagen hat. Die Wirtschaft ist völlig zerstört. Und es gibt schlicht kein Geld, sie wieder aufzubauen. Dies schert den Kreml wenig.
Im Wesentlichen wurde dieser Krieg für die Wahlen geführt. Es ist ein politischer Krieg.

Aus: Green Left Weekly, Nr.393, 16.2.2000.


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