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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.7 vom 30.03.2000, Seite 16

Projekt alternative Gesellschaft

Annäherung an eine neue lateinamerikanische Theorie des gesellschaftlichen Wandels

"An der Schwelle zum 21.Jahrhundert stehen wir vor einer Herausforderung: Die revolutionäre Theorie, die vor eineinhalb Jahrhunderten entwickelt wurde, muss "runderneuert" oder zumindest angereichert werden, denn sie erweist sich heute, in der Ära des transnationalen Monopolkapitalismus und angesichts dessen neuer, sozioökonomischer, kultureller und politischer Realität, als ungenügend. Wir benötigen letztendlich eine theoretische Revolution…"

So LUIS VITALE in seiner Rede auf dem Chile-Kongress 1998 in Münster. Nachstehend veröffentlichen wir Auszüge aus der Rede.

Lateinamerika von Marx her sehen oder Marx von Lateinamerika? Das ist die Frage, die dringend theoretisch und praktisch beantwortet werden muss. In dieser Frage eröffnen sich wenigstens zwei Optionen: eine, die darauf hinausläuft, eine neue Theorie zu entwickeln, und eine andere, nach der der Marxismus - oder besser, wie Marx selbst gesagt hätte: der historische Materialismus - verbessert wird. Ich persönlich bevorzuge letztere Variante, in der es darum geht, die theoretischen Zugänge des Feminismus, der Ökologiediskussion, der Indígena-Völker und der Befreiungstheologie in den historischen Materialismus zu integrieren. […]
Wir müssen den historischen Materialismus um die Beiträge der UreinwohnerInnen erweitern. Dies zwingt uns dazu, die Frage des Nationalstaats anders zu sehen als Marx und Lenin, die die Indígena-Kulturen nicht kannten. Es geht dabei nicht nur darum, ihren Kampf für Land und Kultur zu unterstützen und ihre Autonomie zu respektieren, sie leisten auch einen Beitrag zu einer neuen Staatstheorie, die das Existenzrecht einer Volks-Nation der Mapuche oder anderer Völker innerhalb des Staates berücksichtigt. Die Afro-Amerikaner und die originären Völker zu verstehen, kann uns helfen, unsere chronische Horizontverengung in Bezug auf den Klassenbegriff zu überwinden und den Blick zu öffnen für etwas, das es seit dem Kolonialismus gibt: die Beziehung zwischen Ethnie und Klasse.
Ebenso müssen wir den Marxismus um die theoretischen Zugänge des lateinamerikanischen Feminismus ergänzen, um die Forderungen zu verstehen, die von nicht mehr und nicht weniger als der Hälfte der Bevölkerung kommen. Dabei geht es nicht einfach nur darum, Forderungen von Frauen zu erfüllen, sondern darum, ihre antipatriarchale Theorie und ihr tägliches Leben in den historischen Matetrialismus zu integrieren. Dies heißt auch anzuerkennen, dass der historische Materialismus, trotz einiger Anmerkungen von Engels, Bebel, Clara Zetkin und Lenin, nie eine Theorie über die Frauenbefreiung war und mit der Konzentration allein auf die Produktion die unbezahlte Reproduktion der Arbeitskraft und andere zentrale antipatriarchale Aspekte wie Kultur und Ideologie im alltäglichen Leben unberücksichtigt ließ.
Ebenso ist eine subversive Ökologie sehr wichtig, gerade weil der Marxismus wie alle anderen Strömungen die Umwelt, d.h. das Verhältnis Gesellschaft-Natur, außer in zwei Sätzen von Marx in der Deutschen Ideologie, nicht beachtet hat. Es bedurfte erst der ökologischen Krise der 70er Jahre und deren Aufdeckung durch den Club of Rome, um die Linke der Welt auf dieses Thema zu stoßen. Allerdings hat eine Integration der Umwelttheorie in den historischen Materialismus bisher trotzdem nicht stattgefunden.
Weiterhin ist es nötig, den Ansatz der Christen für den Sozialismus zu integrieren, deren Theologie der Befreiung auf dem lateinamerikanischen Kontinent entstanden ist. Deren erlösender Begriff der menschlichen Person ist fundamental für ein gesundes Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, ebenso wie ihr konsequenter Kampf für die Menschenrechte und ihr Glaube an eine neue, bessere Gesellschaft.

Den wissenschaftlichen Fortschritt neu organisieren

Eine weitere grundlegende Aufgabe stellt die Wissenschaft dar, nicht nur, weil ein altes Wissenschaftsverständnis in Frage zu stellen ist, sondern weil eine neue, umfassende Sicht eines anderen Typs von Wissenschaft nötig ist. Die sog. exakten Wissenschaften, die Natur- und Sozialwissenschaften haben bedeutende Fortschritte gemacht, aber ihre besondere Analyse hat die Tendenz zur Zerstückelung der Wirklichkeit verstärkt. Von dem Moment an, als die Wissenschaft begann, der Hauptmotor des technischen Fortschritts für die industrielle Entwicklung zu sein, teilte sie sich - je nach Bedarf der Produktionsprozesse - in entsprechend viele Disziplinen. Der Staat und die Unternehmer des internationalen Monopolkapitals finanzieren heute mehr als je zuvor die wichtigsten Forschungen, deren Ziele aber nicht in erster Linie akademisch sind. Die Abhängigkeit der Wissenschaftler von Industrie und staatlichen Wirtschaftsplanungen hat in den letzten Jahrzehnten massiv zugenommen. Während sich die Industriegesellschaften unter dem ideologischen Begriff der Moderne weiter "entwickelt" haben, entfremden sich die Wissenschaftsdisziplinen und forcieren die Tendenz zur Stückelung des Wissens.
Die einseitige Evolution der Wissenschaften in Teilbereichen hat die Formulierung eines umfassenden theoretischen Denkens verhindert. Angesichts des fortschreitenden Empirismus und Pragmatismus scheinen die "orthodoxen" Marxisten nicht zu bemerken, dass Kritik gegen die Neopositivisten allein nicht ausreicht, sondern dass eine Theorie nötig ist, um die wissenschaftliche Forschung so zu orientieren, dass sie die revolutionäre Transformation der Gesellschaft unterstützt. Nur die Ausarbeitung einer umfassenden Theorie kann die empirische Theorie in eine Krise führen und damit eine Wissenschaft mit umfassendem Blickwinkel befördern.
Nach Karel Kosik liegt "die Möglichkeit, eine einheitliche Wissenschaft zu schaffen und einen einheitlichen Begriff der Wissenschaft zu gewinnen, in der Aufdeckung der tieferliegenden Einheit der objektiven Wirklichkeit … Der Mensch existiert in der Totalität der Welt, aber zu dieser Totalität gehört auch der Mensch mit seiner Fähigkeit, die Totalität der Welt spirituell zu reproduzieren".
Auch ein interdisziplinäres Arbeiten garantiert keine umfassende Perspektive, da jede Disziplin nur ihre Teilanalyse beisteuert, indem sie einseitig Teile des Ganzen abtrennt. Transdisziplinäres Handeln ist zwar nicht die perfekte Lösung, weil es die professionellen Deformationen der Spezialisten weiterführt, aber es kann in einer ersten Phase dazu beitragen, Fundamente für eine ganzheitliche Wissenschaft zu formulieren.
Wird diese neue Wissenschaft eine Wissenschaft der Wissenschaften sein? Dies scheint mir nicht der Fall zu sein, weil deren Entwicklung zu einer neuen Philosohphie, einer Variante der Kosmologie oder einer "Weltanschauung", möglicherweise mit entsprechenden teleologischen Spannungen, führen würde. Das zentrale Ziel der neuen Wissenschaft ist nicht, die Fortschritte jeder Einzelwissenschaft zu synthetisieren, sondern die Aufgabe lautet, das aktuelle Wissen und die erreichten Möglichkeiten wissenschaftlichen Fortschritts neu zu organisieren, um mit einem allgemeinen Kriterium das Verhältnis von menschlicher Gesellschaft und Natur zu analysieren.
Keine der aktuellen Wissenschaften einschließlich der Sozialwissenschaften konnte die objektive Tatsache ausreichend erfassen, dass der Mensch Teil der Umwelt und seine Entwicklung dialektisch durch die Natur bedingt ist. Die Natur ist die Quelle jeden Lebens. Der historische Materialismus hat nur die menschliche Gesellschaft untersucht. Es ist Zeit, zu einem neuen Begriff der Geschichte zu gelangen, in dem die unauflösliche Verbindung von Natur und Gesellschaft offen auftaucht.
Es geht darum, Ideen auszutauschen für einen neuen Geschichtsbegriff, der den Blick auf eine Dialektik freigibt, in der der Mensch und die Naturphänomene interagieren. Es ist ein Irrtum, wenn die Geschichte in eine Geschichte der Menschheit und eine Geschichte der Natur aufgespalten wird. Es gibt nur eine Geschichte, und die beginnt mit dem Erscheinen der ersten Menschen.

Eine neue Art von Partei oder revolutionärer Bewegung

Wir benötigen eine neue revolutionäre Organisation, die der Bourgeoisie niemals wieder die Definition von Demokratie überlässt, denn Demokratie ist eine politisch-universale Kategorie, seit Jahrhunderten in den indigenen Gemeinschaften praktiziert, die die gleichen Rechte für jeden Menschen garantiert und jedem zusichert, über seinen Weg selbst zu entscheiden. Deshalb kann Demokratie sich nur in einer Gesellschaft entfalten, die alternativ zum Kapitalismus ist, als eine Demokratie der freien Frauen und Männer. Es ist also ein Irrtum, von der Demokratie geringschätzig zu sprechen, so als sei sie ein Instrument der Bourgeoisie. Wir sprechen der Bourgeoisie ihren selbstbeanspruchten demokratischen Charakter ab. Sie hat ihn vielleicht im vergangenen Jahrhundert gehabt, als sie gegen die feudale Monarchie kämpfte. Später dann hat sie diesen Charakter umgeformt bis hin zur Diktatur einer herrschenden Klasse. […]
Wir unterstützen jeden Beitrag, der die Selbstorganisation und die Selbstrepräsentation des Volkes zum Ziel hat; wir fördern innerhalb der eigenen Partei die Aktivitäten, die zur Selbstbstimmung führen, sei es im Bereich der täglichen Aktivitäten der Mitglieder oder in der Erarbeitung politischer Grundsatzentscheidungen. Denn die Bestimmung der politischen Leitlinien von unten her, ohne immer von der Stimme der nationalen Führung abhängig zu sein, ist auch eine Form der Selbstbestimmung im Denken und im Handeln.
Wir erwarten eine politische Organisation, die das Sektierertum bekämpft, sowohl der anderen Parteien als auch der eigenen. Eine Partei, die in der Lage ist, flexibel eine Taktik gemeinsamer Aktionen derjenigen aufzugreifen, die wirklich gegen den Imperialismus und für die demokratischen Freiheiten kämpfen. Eine Partei, die nicht gleich fürchtet, von den Dogmatikern als revisionistisch beschimpft zu werden, und die gleichzeitig, ohne schrille Töne oder schöne Floskeln, sondern mit ideologischer Sicherheit, die verschiedenen Strömungen zu unterscheiden weiß, mit denen gemeinsame Aktionen durchgeführt werden. Eine Partei also, die in der Lage ist, eine Einheitsfront der Ausgebeuteten, der Unterdrückten und der linken Organisationen, seien sie politisch oder sozial, aufzubauen. Eine Partei, die sich aber gleichzeitig bewusst ist, dass die Aufgabe der Einheitsfront nicht in erster Linie in der Anklage vermeintlicher reformistischer Bekenntnisse liegt, sondern vielmehr in der gemeinsamen Mobilisierung zur Durchsetzung der berechtigten Forderungen des Volkes. Damit kämpfen wir für eine Partei, der klar ist, dass sich die Einheitsfront nicht nur aus dem Proletariat bildet, sondern aus allen Ausgebeuteten und Unterdrückten.
Wir wollen einen revolutionären Ansatz, der die Autonomie der sozialen Bewegungen respektiert und ihr Kämpfe offen unterstützt, also nicht nur mit ihnen zusammenarbeitet, um eigene Mitglieder zu rekrutieren oder um sie zu kontrollieren.
Auch geht es darum, einen neuen Typ von Parteimitglied zu schaffen, einen, der mit seinem Volk lebt, der um seine Befindlichkeit weiß und seine kulturellen Wünsche schätzt, ohne sie zu idealisieren. Wichtig ist zu wissén, dass eine Parteimitgliedschaft in sich konfliktiv ist: man steht zwischen Ideal und Alltagsrealität, zwischen eigenem Wunsch, alles für die Sache zu geben, und den realen Möglichkeiten, es zu tun. Parteimitglied zu werden heißt, nicht nur die eigenen Ideale ins Spiel zu bringen, sondern die ganze Alltagserfahrung.

Programmatische Aktualisierung

Schließlich möchte ich noch einige Vorschläge zu einem Programm machen, das dem Kampf der sozialen Bewegungen Lateinamerikas dienen soll. Zunächst und vor allem ist die Einsicht zu nennen, dass der antiimperialistische Kampf in Amerika untrennbar mit dem antikapitalistischen verbunden ist, und zwar heute, aufgrund des fortgeschrittenen Prozesses der Transnationalisierung des Kapitals, mehr denn je. Falls sie jemals eine Basis hatte, so ist der alten Theorie der etappenweisen Revolution heute jegliche Basis verlorengegangen. Denn nicht einmal mit der Lupe wird sich ein "nationales" Bürgertum finden lassen, das bereit wäre, die demokratisch-bürgerliche Revolution gegen das ausländische Monopolkapital zu vollbringen.
Damit verbunden ist ein weiterer Schlüsselpunkt: die exorbitanten Auslandsschulden, die aktuell in Lateinamerika die Summe von 500 Milliarden US-Dollar überschreiten. Sie sind damit unbezahlbar. Deshalb reicht ein Moratorium oder Zahlungsaufschub nicht aus, denn Zinsen und Tilgungen häufen sich weiter auf. Notwendig ist ein Kampf für die Nichtbezahlung der Schulden. Dadurch erhält der nationale, antiimperialistische Kampf ein neues Profil. Die traditionellen Forderungen nach Enteignung ausländischer Unternehmen zur Rückgewinnung der durch Privatisierung verlorenen Macht gipfeln heute in der Forderung, die Auslandsschuld nicht zu zahlen. Dies ist mittlerweile Teil der nationalen Frage, die sich in Lateinamerika, Asien und Afrika anders stellt, als der Marxismus dies seit mehr als einem Jahrhundert darstellt, und zwar auf eine Weise, wie sie der Situation Europas im 19.Jahrhundert entsprach. Und auch die Frage der Landverteilung an die Campesinos muss anders angegangen werden, als es in den 60er Jahren geschah. Es gibt den damaligen, traditionellen Großgrundbesitzer nicht mehr. Der Prozess der Kapitalisierung des Agrarsektors ist fortgeschritten. Zusammen mit der Neuverteilung von Land für die armen Bauern muss programmatisch auf die Frage der transnationalen Forst-, Fruchtexport- etc.-Unternehmen eingegangen werden. Dort arbeitet die wesentlichste Kraft des Agrarsektors: die SaisonarbeiterInnen.
Die Basis der sozialen Bewegungen ist die am besten geeignete Kraft, um Vorschläge mit dem Ziel der umfassenden Reformen für die in den Gewerkschaften organisierten Arbeiterinnen und Arbeiter auszuarbeiten, nämlich Reformen im städtischen Leben, der Erziehung, Gesundheitsversorgung, Menschenrechte, Kultur, im Umgang mit Diskriminierungen von Minderheiten aufgrund ihrer Sexualität, Lebensgestaltung im Alter und vor allem der neuen, kraftvollen Jugend, die zugleich ein Kind des Neoliberalismus ist und gegen dessen Geschwüre aufbegehrt…
So wird sich das Klassenbewusstsein, das ethnische Bewusstsein, das Bewusstsein der Geschlechterverhältnisse und das ökologische Bewusstsein schärfen, wachsen und die Bedingungen für eine soziale, kulturelle, antipatriarchalische, ökologische, antikapitalistische, wirklich demokratische, multiethnische und die Menschenrechte verteidigende Revolution schaffen, die die monopolkapitalistische Herrschaft erschüttern und das Tor für eine Regierung der Arbeiterinnen und Arbeiter und der sozialen Bewegungen öffnen wird. Sie sind die einzigen, die in der Lage sind, eine alternative sozialistische, selbstbestimmte Gesellschaft aufzubauen, eben einen Sozialismus von unten. Die Form des Volksaufstands wird nicht von einer aufgeklärten, aber mit der Basis unverbundenen, paramilitärischen Elite, sondern von den fortschrittlichsten Sektoren der sozialen Bewegungen bestimmt werden. Auf jeden Fall wird er nicht unbedingt friedlich verlaufen.

Luis Vitale ist Professor an der Universidad de Chile und einer der wichtigsten marxistischen Sozialwissenschaftler Lateinamerikas. (Aus: Olaf Kaltmeier, Michael Ramminger (Hrsg.), Links von Nord und Süd, LIT-Verlag 1999.)


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