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Was ein Parteitag in der Entwicklung einer Partei bedeutet, lässt sich nicht nur am Wortlaut der
Beschlüsse ablesen. Er bekommt seine Bedeutung auch aus dem, wie die Delegierten und der Vorstand die Beschlüsse bewerten
und welche Schlussfolgerungen sie ziehen. So gesehen war der Münsteraner Parteitag ein Wendepunkt in der Geschichte der PDS.
Drei Merkmale stechen in seinem Ablauf hervor:
1. Der
Parteivorstand ist einer krassen Fehleinschätzung aufgesessen, da er sich sicher wähnte, die Mehrzahl der Delegierten werde
seinem Antrag folgen. Dabei war in den Diskussionen im Vorfeld vor Ort, vor allem in Ostdeutschland, deutlich geworden, dass der Antrag der
stellvertretenden Parteivorsitzenden und Europa-Abgeordneten Sylvia-Yvonne Kaufmann großen Zuspruch fand. Das Nein kam nicht aus
heiterem Himmel und auch nicht nur aus den Reihen der unverbesserlichen und im Vorfeld so viel gescholtenen "Dogmatiker" - es
kam aus der Mitte der Partei.
Erstaunlich ist das nicht. Schließlich ist es gerade ein Jahr her, dass
die Mitglieder und Aktiven genau gegen die Argumente - Scheinargumente - öffentlich Stellung beziehen mussten, die sie jetzt abnicken
sollten: Ein angeblicher Völkermord im Kosovo sollte einen angeblich "humanitären" Krieg rechtfertigen. Zwar hat die
PDS damals ihre Gegnerschaft gegen den Krieg vorwiegend mit völkerrechtlichen Argumenten bestritten: der Militäreinsatz sei
von der UNO nicht abgesegnet, die Souveränität Jugoslawiens verletzt. Aber es kann als sicher gelten: Die PDS hätte auch
dann Nein zum Krieg gesagt, wenn die UNO ihn mitbeschlossen und Kosovo nicht Teil Jugoslawiens gewesen wäre. Es ist schwer, eine
Mitgliedschaft, die so eindeutig Flagge gezeigt und damit auch wahlpolitischen Erfolg gehabt hat, in so kurzer Zeit zu einer entgegengesetzten
Aussage zu zwingen.
Die PDS-Mitglieder hatten auch das Beispiel der Grünen vor den
Augen: Kaum zwei Jahre ist es her, da war das Ja zu UNO-Kampfeinsätzen deren Einfallstor zum Ja zur NATO und deren Krieg. Die
Stimmung ist nicht danach, es ihnen so schnell nachzumachen. Da stellt sich die Frage: Bekommt das der Parteivorstand nicht mehr mit? Und
warum? Hat er sich wieder in einem zunehmend besser eingespielten Apparat aus Amts- und Mandatsträgern eingeigelt, der ihn von der
realen Welt abschottet?
Die Fehleinschätzung war die Ursache dafür, dass die
Parteitagsregie aus dem Ruder gelaufen ist und der Vorstand in der entscheidenden Debatte nicht präsent war.
2. Das Nein war
ein Nein zu einer isolierten Frage; die Neinsager teilen deswegen nicht notwendig weitergehende gemeinsame Einschätzungen, weder zur
UNO oder EU, noch zur Bundeswehr, noch zur Frage, ob die PDS künftig in einer Bundesregierung mit der SPD koalieren soll. In
Anbetracht der Umstände jedoch, unter denen der Punkt überhaupt auf die Tagesordnung gekommen ist, wurde unweigerlich eine
Dynamik inganggesetzt, die über den Anlass "UNO-Kampfeinsätze" hinausgeht.
Für den Parteivorstand war der Antrag ein Meilenstein auf dem Weg,
bis zum Jahr 2002 die Koalitionsfähigkeit der PDS auf Bundesbene unter Beweis zu stellen. Und was alle Parteien der Linken schon
früher erfahren mussten, wird auch die PDS dabei erfahren: Es kommt (unter den Umständen, die wir leider heute haben) keine
Partei in die Bundesregierung, die nicht uneingeschränkt Ja zur Bundeswehr, Ja zur NATO und - inzwischen - Ja zur EU sagt. Der UNO-
Antrag sollte den Weg dahin öffnen.
Dass für den Parteivorstand mit dem Antrag die Einleitung eines
Kurswechsels in Richtung Mitregieren verbunden war, zeigte nicht nur die Abschiedsrede von Gysi (s.u.), sondern auch die Tatsache, wie der
Parteivorstand auf die Ablehnung seines Antrags reagierte: im Kern getroffen und kopflos. Die Abstimmungsniederlage zog eine zwei- bis
dreistündige Krisensitzung des Vorstands nach sich, in der der Rücktritt des gesamten Vorstands erwogen worden sein soll. Da ist
mehr zu Bruch gegangen als ein Antrag zu einer einzelnen Frage, und die Vorstandsreaktionen wären gänzlich unverständlich,
wenn zuträfe, was Gysi am nächsten Tag in einem Interview im ND sagte: "Es ist doch klar, dass wir in aller Regel
Kampfeinsätze ablehnen werden, weil ich mir nur ganz wenige Fälle vorstellen kann, in denen ich sagen würde, es gibt nun
wirklich keine andere Alternative mehr." Wozu dann die Aufregung?
Vorstand und Fraktion haben noch eine andere Tür aufgemacht: Der
außenpolitische Sprecher der Bundestagsfraktion, Wolfgang Gehrcke, aber auch Gysi, haben das Ja zu UNO-Kampfeinsätzen u.a.
mit der Tendenz zu einer "unipolaren Welt" begründet - d.h. einer nur noch vom US-Imperialismus dominierten Welt; dem
müsse man mit einer "multipolaren Welt", mit dem Aufbau von Gegengewichten sozusagen, begegnen: mit der EU (und der
Stärkung Deutschlands als Kernland der EU). Da beide sich rühmen, Realpolitik machen zu wollen, kann dies nur bedeuten, dass
die PDS dem Aufbau der EU-Militärunion, der Aufrüstung der Bundeswehr und der Bereitstellung von Geldern für deren
Hochrüstung zustimmen muss - denn das ist die Voraussetzung dafür.
Die Tragweite des Parteitagsbeschlusses geht also weit über UNO-
Kampfeinsätze hinaus.
3. Die Delegierten haben es gewagt, sich an einem für die Politik in Deutschland entscheidenden
Punkt, der die zentralen Machtinteressen des deutschen Kapitals berührt, dem gesellschaftlichen Mainstream und der herrschenden Logik
zu verweigern. Sie haben sich zugleich dem herrschenden Parteikonsens verweigert, um jeden Preis in der bestehenden - kapitalistischen -
Gesellschaft anzukommen. Sie haben es gewagt, an einem für ihre Identität wesentlichen Punkt ihren Überzeugungen treu zu
bleiben und sie nicht auf dem Altar von Machtinteressen zu opfern. Der Parteikonsens ist damit gebrochen. Das ist es wohl, was Pressesprecher
Hanno Harnisch meinte, als er vor der Presse sagte: "Die Partei ist nicht mehr dieselbe wie vorher."
Die letzten elf Jahre hat die PDS damit verbracht, um ihren politischen
Platz in der bundesrepublikanischen Gesellschaft zu kämpfen. Das ist ihr gelungen - und daran hat Gysi einen großen Anteil. Jetzt
muss sie die Frage beantworten, was es bedeutet, in dieser Gesellschaft Partei der Opposition zu sein. Diese Identität ist noch nicht
gefunden. Der Parteitag von Münster hat ein Tor aufgestoßen, darüber neu zu diskutieren; er hat neue Spielräume
für linke Politik aufgemacht. Die Partei ist in eine Führungskrise geraten, die sich nicht auf den Vorstand beschränken wird;
in welche Richtungen sich der bisherige Führungskern dabei entwickelt, ist offen. Das weckt bei manchen Mitgliedern Ängste, die
Partei könne zerfallen; es bietet aber auch die Chance, gerade auch mit Hilfe der Programmdiskussion ein neues Fundament für eine
sozialistische Oppositionspartei zu entwickeln, das ein Anker für soziale Bewegungen, gesellschaftlichen Widerstand und Gegenmacht
werden kann. Es lohnt sich, darum zu kämpfen.
Angela Klein