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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.8 vom 14.03.2000, Seite 13

‘Das Gesicht der Bestie wiedergesehen‘

Protest in Chile nach Pinochets Rückkehr

Mit Aktionen gegen die Folterer von einst bemühen sich soziale Bewegungen in Chile, Pinochet doch noch vor Gericht zu bekommen und die Verbrechen des Militärs aufzudecken. Vor allem Jugendliche greifen dabei zu neuen Aktionsformen, berichtet Ivan Saldias vom "Zentrum für Arbeitsforschung und Gewerkschaftsberatung" in Santiago de Chile. Knut Rauchfuss sprach mit ihm für die SoZ.

Seit dem 3. März ist der ehemalige chilenische Diktator Augusto Pinochet wieder auf freiem Fuß. Die chilenische Regierung hat stets betont, dass Chile selbst ihm den Prozess machen müsse. Wird das nun passieren?

Ivan Saldias: Das ist eine schöne Hoffnung. Ja, wir hoffen das, aber ehrlich gesagt, nachdem das chilenische Parlament die Verfassung geändert hat, glaube ich, dass es fast unmöglich geworden ist. Jetzt hat Pinochet einen neuen Status als "ehemaliger Präsident" Chiles, den er früher nicht hatte, und der ihm eine zusätzliche Immunität verleiht. Den Status als Senator und damit seine bisherige Immunität konnte ihm der Oberste Gerichtshof aberkennen.

Gibt es in Chile bereits Aktivitäten, um Pinochet dort vor Gericht zu bringen?

Vorgestern hat z.B. eine Großdemonstration anlässlich der Verfassungsänderung stattgefunden. Auch in den Gerichten finden zahlreiche Aktivitäten statt. Mehr als sechzig Anzeigen sind erstattet worden. Ich selbst habe zusammen mit anderen ehemaligen politischen Gefangenen Anzeige erstattet.

Auch das chilenische Innenministerium hat eine Anklage vorbereitet. Was ist von dieser Initiative zu halten?

Das ist natürlich lächerlich, weil sie genau wussten, dass sie die Verfassung ändern würden. So konnten sie ihn gefahrlos anzeigen. Es ist zynisch, weil die Verfassungsänderung ja bereits letztes Jahr entschieden wurde. Das Parlament musste sie nur noch bestätigen. Sie warteten, bis Pinochet zurück in Chile ist, und dann haben sie die sinnlose Anzeige erstattet.

Ausgerechnet die USA leisten Unterstützung, Pinochet im Fall Letelier vor Gericht zu bringen. Wie bewerten Sie die derzeitigen Aktivitäten der USA?

Es scheint so, dass der Fall Letelier tatsächlich noch ein juristisches Nachspiel haben wird. Orlando Letelier war Außen- und Verteidigungsminister in der Regierung von Salvador Allende. 1976 kamen er und seine Sekretärin, eine US-amerikanische Staatsbürgerin, durch eine Autobombe in Washington ums Leben. Wegen der Staatsbürgerschaft der Sekretärin sind die USA seither an der Aufklärung interessiert.
Die USA haben ein grundsätzliches Interesse, Attentate ausländischer Geheimdienste in Washington zu unterbinden oder juristisch zu verfolgen. Aber das ist auch alles. Ein darüber hinaus gehendes Interesse braucht man nicht zu unterstellen. Immerhin waren es die USA, die den Militärputsch direkt unterstützt haben.

Pinochets Verhaftung in London hat vor anderthalb Jahren den Menschenrechtsorganisationen in Chile neuen Auftrieb gebracht. Wie sehen Sie die derzeitige Situation der Menschenrechtsbewegung?

Eine fundamentale Veränderung ergibt sich aus dem Wechsel der AkteurInnen. Die Leute, die früher gegen die Diktatur kämpften, haben das vielfach zusammen mit jenen getan, die heute die Regierung bilden. Und noch heute orientieren sie sich an diesem Bündnis, der sog. concertación. Nicht so die Jugendlichen, die heute vielfach die Basis der sozialen Bewegungen bilden. Hier hat eine Trennung entlang der Generationen stattgefunden.
Diese Jugendlichen haben keine festen Organisationsstrukturen, aber sie sind auf jeden Fall nicht in der Koalition der Regierung oder bei der Kommunistischen Partei, die mit nur 3% der Stimmen weit hinter die Erwartungen zurückgefallen ist. Und natürlich sind sie auch nicht bei der Rechten. Es handelt sich um eine neue Bewegung. Und sie kämpft auch mit neuen Aktionsformen gegen die Ungerechtigkeit.

Welche neuen Aktionsformen sind das?

Da gibt es zwei gute Beispiele: Erstens eine Bewegung, die sich funa nennt. Das bedeutet "verbrannt". Leute, die unter der Militärdiktatur Verbrechen begangen haben und bis heute inkognito in der Zivilgesellschaft leben, werden öffentlich bekannt gemacht, ihre falsche Identität fliegt auf, wird sozusagen "verbrannt". Die Öffentlichkeit muss erfahren, wer diese Leute sind und was sie damals getan haben.
Eine Gruppe von jungen Leuten sucht ehemalige Folterer und Mörder, die nie vor Gericht gestellt wurden, findet heraus, wo sie heute arbeiten oder wohnen, und macht dann eine Aktion mit bis zu 400 Leuten vor dem Haus oder der Arbeitsstelle des Verbrechers. "Wenn es kein Gericht gibt, gibt es funa", rufen sie vor dem Haus. Währenddessen wird mit Trillerpfeifen und Megafonen Krach gemacht und steckbriefähnliche Flugblätter werden verteilt. Ein kurzer Text erklärt, was die Person in der Vergangenheit war und verbrochen hat. Vier funas haben bisher stattgefunden. Ich bin selbst bei einer funa dabei gewesen. Wir waren vor dem Gebäude der Telefongesellschaft Telefonica, wo ein ehemaliger Folterer als Rechtsanwalt arbeitet.
Eine zweite Aktion ist, dass immer mehr junge Männer den Militärdienst verweigern. Sie melden sich nicht polizeilich an, damit sie nicht gezogen werden können. In Chile kann man dafür vier Jahre in den Knast gehen. Aber sie sind gut organisiert, werden von RechtsanwältInnen unterstützt und machen antimilitaristische Aktionen.
Die Jugendlichen verweigern den Dienst aus politischen Gründen. Sie wissen genau, welche Verbrechen das Militär an der Bevölkerung begangen hat. Unter ihnen gibt es auch Söhne ehemaliger politischer Gefangener. Sie wissen auch, dass die Verbrechen niemals bestraft wurden. Deshalb verweigern sie den Militärdienst, weil sie gegen das chilenische Militär sind. Das ist auch eine Reaktion der Bevölkerung gegen die Immunität des Militärs.

Über den neuen Präsidenten Chiles, Ricardo Lagos, sagen die Medien hier, er sei der erste sozialistische Präsident seit Salvador Allende...

Lagos sagte noch vor den Wahlen, dass er nicht der zweite sozialistische Präsident sein wird, sondern er bezeichnete sich damals ganz klar als den zukünftigen dritten Präsidenten der concertación. Das bedeutet, dass man ihn nicht mit Salvador Allende vergleichen kann. Das Programm der Regierung ist ein rein neoliberales Programm. Es bricht nicht mit jenen Verträgen, die die Concertación am Ende der 80er Jahre mit dem Militär und den Parteien der Rechten geschlossen hat.
Diese vier Verträge sicherten der Diktatur die Respektierung der Verfassung zu, die Fortführung des neoliberalen Wirtschaftsmodells, die Anerkennung des Amnestiegesetzes und garantierten staatlichen Schutz für die Familie Pinochets. Am Tag, als Lagos gewählt wurde, gab es eine sehr große Demonstration vor dem Präsidentenpalast La Moneda. Dort waren ca. 40000-50000 Menschen, die riefen "Juicio al Pinochet - Pinochet vor Gericht!" Aber Lagos hat nur auf die staatliche Gewaltenteilung verwiesen. Er respektiert das Urteil der Richter, die Richter respektieren das Gesetz, und das Gesetz garantiert Pinochet die Straffreiheit. Aber die Gesetze macht die Regierung. Und Lagos hat mit keinem Wort die Notwendigkeit erwähnt, die Verfassung entsprechend zu demokratisieren.
Dennoch haben ihn die Leute hochleben lassen, denn das Ergebnis war knapp. Die Rechte bekam 47,7% der Stimmen. Deshalb waren wir trotz unserer Kritik sehr zufrieden, dass Lagos gegen Lavin gewonnen hat. Ich bin auch auf der Straße gewesen, zusammen mit anderen Genossen.
Es war ein wunderbares Gefühl, die Familien auf der Straße zu beobachten, mit ihren Kindern, in einer Hand die Fahne von Lagos, in der anderen die chilenische Fahne, und sie haben gefeiert bis tief in die Nacht. Wie ein Freund von mir sagte: "Die Menschen haben das Gesicht der Bestie wiedergesehen." Es wäre möglich gewesen, dass die Faschisten über die Wahlen die Macht zurückerobert hätten. Daher die Erleichterung. Deshalb haben die Menschen Lagos gewählt und gefeiert. Ein sozialistischer Präsident ist er aber nicht.



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