Sozialistische Zeitung |
Eine schreiende junge Frau mit vor Anstrengung geschwollener Halsschlagader schwingt eine türkische
Fahne; links von ihr lesen kleine Mädchen mit Kopftüchern den Koran; rechts präsentiert eine türkische Streetgang
finster ihre Waffen. Dazu in fetten Lettern der Aufmacher: "Gefährlich fremd - Das Scheitern der multikulturellen
Gesellschaft". Mit diesem Titelbild ging der Spiegel vor zwei Jahren auf Leserfang und eröffnete damit eine kontroverse Debatte
über die Orientierungen von Migrantenjugendlichen mit türkischem Pass.
Von der mit 2,2 Millionen größten Gruppe der MigrantInnen,
nämlich der mit dem türkischen Pass, leben zwei Drittel schon zehn Jahre und länger in Deutschland. In den letzten 20 Jahren
wurden in Deutschland ca. 1,8 Millionen Kinder mit Eltern "ausländischer" Herkunft geboren, davon leben 1,2 Millionen
hier. Knapp zwei Drittel aller Migrantenkinder kamen hier auf die Welt. Die meisten der heute in der Bundesrepublik lebenden türkischen
sowie kurdischen Kinder und Jugendlichen sind ebenso hier geboren.
Dies hat mit der Zeit neue Problemfelder mit sich gebracht. So wird immer
deutlicher, dass es im Gegensatz zu den türkischen MigrantInnen der ersten Generation, die bei der Einreise in die Bundesrepublik bereits
einen Arbeitsplatz hatten, für die zweite Generation schwieriger ist, einen Arbeits- oder Ausbildungsplatz zu bekommen. Zwar bedrohte
die zunehmende Arbeitslosigkeit auch die Arbeitsplätze der früheren MigrantInnen, jedoch leidet die zweite Generation erheblich
stärker unter der schwierigen Arbeitsmarktlage.
Dieses negative Bild der alltäglichen Chancenungleichheit
lässt sich auch auf den Bildungsbereich übertragen. Die schulischen Probleme und Misserfolge von Migrantenjugendlichen mit
türkischem Pass fördern das Interesse an einer fundierten beruflichen Ausbildung. Nach offiziellen Angaben haben Ende 1996
22,1% Migrantenjugendliche eine Hauptschule, 9,5% ein Gymnasium, 8,4% eine Realschule und 5,0% eine Sonderschule besucht. Wenn im
schulischen Bereich auch positive Entwicklungen im Gegensatz zu den 80ern zu verzeichnen sind, ist in diesem Bereich dennoch
Chancenungleichheit bemerkbar.
Ferner führt die Chancenungleichheit, aber auch der gesellschaftlich-
staatlich forcierte Rassismus und die Diskriminierung sowie Isolation von Migrantenjugendlichen dazu, dass sich ein großer Teil von
türkischen Jugendlichen mehr denn je aus der Mehrheitsgesellschaft und von ihren Werten abgrenzt, zurückzieht und seine
"eigene" Welt in der ethnischen Parallelgesellschaft sucht. Ein Beispiel für diese Diskriminierung ist der Fall Muhlis Ari
alias "Mehmet", der aufgrund von wiederholten gewalttätigen Handlungen aus Bayern in die Türkei abgeschoben
wurde, obwohl er in Bayern geboren und aufgewachsen ist. Auch die kontroverse Debatte um die Änderung des
Staatsbürgerschaftsrechts und die damit verbundene gesellschaftliche Polarisierung hat den Rückzug befördert.
All diese Diskriminierungserfahrungen haben eine neue Qualität des
ethnischen Nationalismus auf bundesrepublikanischem Boden etabliert. Doch die Frage, welche Orientierungen und Organisationsstrukturen
sich hinter dieser "ethnischen Gemeinschaft" befinden oder in welcher Weise der islamische Fundamentalismus eine Verlockung
darstellt, blieb dabei immer wieder im Verborgenen.
Ethnisch-nationale Verhaltensmuster
Während im
öffentlichen Diskurs sehr lange über diese Probleme debattiert wurde und wird, haben sich gerade türkische rechtsradikale,
faschistoide und islamistisch-fundamentalistische Organisationen mit ihren politischen Zielvorstellungen in der Bundesrepublik fest verankert
und inzwischen auch einen starken Rückhalt unter MigrantInnen, gerade der zweiten und dritten Jugendgeneration, gewonnen.
Unter diesem Blickwinkel stellt sich die zentrale Frage, warum gerade
immer mehr Migrantenjugendliche der zweiten oder dritten Generation, die zum größten Teil ihren Lebensmittelpunkt in der
Bundesrepublik haben, hier geboren und aufgewachsen sind, hier Schule und Ausbildung besuchen, kaum die eigene Muttersprache ihrer Eltern
sprechen, zu ihren ethnischen Wurzeln zurückkehren und auf Identitätssuche sind.
Das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und
Gewaltforschung an der Universität Bielefeld hat 1997 eine Studie unter dem Titel Verlockender Fundamentalismus veröffentlicht,
welche von Wilhelm Heitmeyer, Joachim Müller und Helmut Schröder ausgearbeitet wurde. Die Autoren versuchen in dieser - in
der Öffentlichkeit kritisch diskutierten - empirischen Untersuchung, ansatzweise den oben aufgestellten Fragestellungen nachzugehen und
zu untersuchen, welche kulturellen sowie politischen Verhaltensweisen und Orientierungen sich unter türkischen Migrantjugendlichen
herausgebildet haben.
Befragt wurden Ende 1995 1221 türkische Jugendliche im Alter
zwischen 15 und 21 Jahren an insgesamt 63 allgemeinen und berufsbildenden Schulen in Nordrhein-Westfalen. Die Studie kam zum Ergebnis,
dass ethnisch-kulturelle Identifikationen für die individuelle wie kollektive Identität der Jugendlichen an Gewicht gewinnen.
"Dazu gehört auch, dass z.T. die traditionsvermittelte Lebensweise, ihre religiösen Ausdrucksformen, nationale
Identifikationsanker und v.a. der Rückzug in die eigenethnische ‚Wir-Gruppe u.U. jene Sicherheiten bieten sollen, die eigentlich in
modernen Gesellschaften durch universal gültige systematische Zugänge zum Arbeitsmarkt, Bildungssystem etc. erwartet
wurden."
Die "Ethnisierung sozialer Probleme", so die Autoren, ist die
logische Konsequenz einer Gesellschaft, in der das soziale Klima rauher wird und deren Vorrat an gemeinsamen Werten und
Überzeugungen jenseits des Konsums ständig abnimmt. Diese Entwicklung führt praktisch dazu, dass gerade immer mehr
Migrantenjugendliche mit türkischem Pass dieser Mehrheitsgesellschaft den Rücken kehren und in ihrer "ethnischen
Gemeinschaft" eine neue Heimat suchen.
Der Schlüsselbegriff zukünftiger gesellschaftlicher
Entwicklungen ist für die Autoren die "Desintegration": "Hinter einem überwiegend positiven Selbstbild spielen
Angst vor Ausgrenzungen, vor unsicheren Lebensläufen sowie verletzte Identität durch emotionale und soziale Ablehnung die
Rolle." Die gescheiterte Integration bzw. der Desintegrationsprozess führt andererseits jedoch zur Hinwendung zu türkisch
islamistisch-fundamentalistischen und türkisch radikal-nationalistischen Strömungen.
Von Diskriminierungserfahrungen fühlen sich die befragten
Jugendlichen im öffentlichen Raum - Behörden, Wohnung, Arbeitsplatz/Schule, Polizei - stärker betroffen als im privaten
Bereich, also in Discos, Nachbarschaft und Jugendzentren. Das ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass in den letzten Jahren die
Zahl weitgehend national oder ethnisch separierter Vereine und Jugendzentren deutlich zugenommen hat. Zwei Drittel der Jugendlichen neigen
zu den Wertorientierungen und Erziehungsstilen ihrer Eltern.
Kampf der Kulturen?
Heitmeyer, Müller und
Schröder haben zwar in der Studie herausgearbeitet, dass unter den türkischen MigrantInnen ein Desintegrationsprozess und eine
Abkehr von den Werten der Mehrheitsgesellschaft zu beobachten ist. Doch in der Frage nach den Ursachen und Faktoren für diese
Tendenz ist eine oberflächliche Bewertung zu erkennen. Auch die Frage der Desintegration bleibt ungelöst, denn eine
Desintegration setzt immer eine schon vorher vorhandene Integration voraus. Viele Migrantenjugendliche haben sich mit dem Begriff Integration
niemals identifiziert.
Allein der Titel Verlockender Fundamentalismus weist schon eine
Doppeldeutigkeit auf. Sicherlich stimmt es, dass ein Teil der türkischen Jugendlichen zu islamistischen und rechtsradikalen
türkischen Organisationsstrukturen neigt, es wäre aber falsch, alle türkischen und kurdischen Jugendlichen gleich zu
bewerten.
In der Art, in der die Ergebnisse der empirischen Untersuchung
präsentiert werden, lässt sich Oberflächlichkeit nachweisen. In diesem Zusammenhang wäre es nicht angebracht,
türkischen Migrantenjugendlichen, die sich, obwohl hier geboren und aufgewachsen, dennoch als "türkisch"
fühlen, eine islamistische oder nationalistische Orientierung zuzuschreiben. So sollte hier die Frage gestellt werden, warum sich diese
Jugendlichen trotz ihrer gesellschaftlichen Lebenslage als "türkisch" definieren.
Die öffentliche Debatte um das Phänomen "Feindbild
Islam", das von Samuel P. Huntington in The Clash of Civilizations (Der Kampf der Kulturen) zur Diskussion gestellt wurde, scheint auch
die Bielefelder Studie beeinflusst zu haben. Die Tendenz, Islam und islamische Strukturen mit Militanz und Konfliktpotenzial gleichzusetzen, ist
in fast allen Kapiteln der Studie Verlockender Fundamentalismus nachzulesen. Sicherlich haben islamistische und rechtsradikale
türkische Dachverbände einen wichtigen Einfluss innerhalb der türkischen Community in der Bundesrepublik. Die Vielzahl
von islamistischen und nationalistischen Organisationen, Strukturen, Dachverbänden und Moscheen bestätigen diese Aussage.
Doch mit welchen inhaltlichen Konzepten versuchen solche islamistisch-
nationalistischen Organisationen, türkische Jugendliche zu mobilisieren? Diese Frage wird zwar in der Studie oberflächlich
erwähnt, aber eine klare Auseinandersetzung bleibt aus. Überfällig ist aber auch die strukturelle Integration der
MigrantInnen, beginnend mit der Änderung des Staatsbürgerschaftsrechts bis hin zur Ausarbeitung von Alternativen, die das
Miteinander unter Jugendlichen aller Nationalitäten stärken.
Rechtsextreme und Islamisten machen mobil
Es ist
mit Sicherheit daran festzuhalten, dass türkische nationalistische, rechtsextreme und islamistisch-fundamentalistische Organisationen von
der gesellschaftlichen Diskriminierung sowie Ausgrenzung von MigrantInnen profitieren und diese Tatsache für ihre politischen Inhalte
instrumentalisieren. Andererseits versuchen türkische nationalistische, islamistische sowie soziale und kulturelle
Migrantenorganisationen unter Einfluss des türkischen Staates und ihrer offiziösen Vertretungen in Deutschland, ihre türkisch
orientierten Lobby-Strukturen noch mehr zu stärken und ihnen neue Funktionen zuzuordnen.
Türkische Medien, private und staatliche Fernsehsender, die auch
von der türkischen Community in der Bundesrepublik zu empfangen sind, und türkische Botschaften mobilisieren für eine
türkische Parallelgesellschaft, die sich immer mehr abschotten und einen türkischen Nationalismus etablieren soll. "Bleib
Türke, werde Deutscher" ist das klare Motto der türkischen Lobby, die die türkische Community zur Annahme der
deutschen Staatsangehörigkeit auffordert, aber mit dem Ziel, das "Türkischsein" in das Zentrum der Identität zu
setzen.
Gerade den faschistoiden "Grauen Wölfen", die mit ihrer
Partei MHP (Partei der Nationalen Bewegung) in der Türkei die Regierungspolitik mitprägen, fällt bei der Radikalisierung
des türkischen Nationalismus in Deutschland eine wichtige Aufgabe zu. Sie versuchen, mit ihren Dachverbänden, wie der
Türk-Föderation (ADÜTDF - Föderation der Idealistenvereine in Deutschland), und ihren Nebenorganisationen ein
wichtiger Treffpunkt von MigrantInnen und Migrantenjugendlichen zu sein, die auf Identitätssuche sind.
In den sog. Idealistenheimen werden Jugendliche verstärkt mit der
Logik der Notwendigkeit des "Türkischseins" und mit der als Staatsideologie etikettierten türkisch-islamischen
Synthese sowie dem aus der Türkei transportierten Konfliktpotenzial konfrontiert. Die Teilnahme an der Regierung gibt den
"Grauen Wölfen" dabei neues Knowhow, um ihre Organisationsstrukturen auch in der Bundesrepublik zu stärken und
ihre Gewalt auf bundesrepublikanischem Boden weiter auszutragen. Der Verfassungsschutz verharmlost die "Grauen Wölfe"
und lässt sie in seinen Jahresberichten aus.
Islamistisch-fundamentalistische Dachverbände wie Milli
Görüs (Nationale Sicht), die staatliche Religionseinrichtung DITIB, die islamistische Sekte VIKZ (Verband der islamischen
Kulturzentren), die rechtsextreme ATIB (Türkisch-Islamische Union) und ICCB (Verband der islamischen Gemeinden) verfügen
über ein breites Netzwerk von Strukturen, um die türkische Community für ihre politischen Inhalte zu gewinnen. Sie
versuchen, gerade Migrantenjugendliche mit türkischem Pass für ihre Zielvorstellungen anzuheuern und sie dabei für
islamistische, nationalistisch-türkische Werte zu gewinnen.
Dabei darf nicht vergessen werden, dass ein großer Teil der Linken
aus der Türkei, der mit der eigenen Exilpolitik "zu belastet" ist, den Zug verpasst. Die Tendenz, keine klare und demokratisch
partizipierte Migrationspolitik zu haben, engt die Handlungsmöglichkeiten der linken Vereinigungen weiter ein.
Doch die andere Seite der Medaille zeigt ein stärkeres Miteinander:
Immer mehr Jugendliche - unterschiedlicher Nationalitäten - kommen durch kulturelle, soziale Verknüpfungspunkte im
gesellschaftlichen Alltag, in Schule, Arbeit oder Jugendzentrum, näher zusammen und bieten ein buntes Bild des Miteinanders, was von
demokratischen Strukturen weiter gestärkt und in ein solidarisches Zusammenleben umgewandelt werden müsste.
Kemal
Bozay