Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-
Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.8 vom 14.03.2000, Beilage

Die Schwächen der russischen Arbeiterbewegung

von David Mandel*

Warum gibt es keine Revolte? Warum sind sie so passiv? Menschen, die Sympathien für die russischen Arbeiterinnen und Arbeitern hegen, stellen natürlich diese Fragen, wenn sie von Massenerwerbslosigkeit und Verarmung, nicht ausgezahlten Löhnen und vom Abbau von Sozialprogrammen, der Plünderung des Reichtums der Nation und der Zerstörung ihres menschlichen und wirtschaftlichen Potenzials sowie von einer illegitime Regierung hören, die die Missachtung des Rechts zum Eckstein ihrer Politik gemacht hat. Die russischen Arbeiterinnen und Arbeiter haben in den letzten Jahren der kapitalistischen Restauration ungeheure Verluste erlitten, auch wenn ihre Lage vorher weit von einem Ideal entfernt gewesen war. Während sie Widerstand leisteten, ist dieser Widerstand offensichtlich wirkungslos geblieben. Dies war von den meisten Beobachtern nicht erwartet worden, die Arbeiterklasse stellte ja die ungeheure Mehrzahl der Bevölkerung, war gut ausgebildet, sozial recht homogen, in riesigen Unternehmen konzentriert, massiv in Gewerkschaften organisiert, gründlich sozialistischen Ideen ausgesetzt (wenn auch nicht der Realität), und sie genoss einen Lebensstandard, der, wenngleich er weit hinter dem in den reichen kapitalistischen Ländern hinterher hinkte, in der Rückschau und vor allem unter dem Aspekt der ökonomischen Sicherheit betrachtet, nicht wirklich schlecht war.

Diese Studie präsentiert eine Analyse der russischen Arbeiterbewegung, deren wesentliche organisatorische Form heute die Gewerkschaften sind, und versucht insbesondere ihre Schwäche zu erklären. Dabei unterscheidet er, in gewisser Weise willkürlich, zwischen "objektiven" Faktoren, die hauptsächlich das Erbe der Vergangenheit und der gegenwärtigen internationalen und wirtschaftlichen Lage sind und somit relativ unabhängig von der Praxis der Arbeiterbewegung, und "subjektiven" Faktoren, im Wesentlichen die Ideologie und Praxis der Gewerkschaften. Die Studie konzentriert sich auf die Gewerkschaften in der Automobilbranche und im Sektor für landwirtschaftliche Maschinen (ASM nach der russischen Abkürzung) als konkretes Beispiel. Diese Sektoren sind weitgehend typisch und haben in anderen Ländern oft die Avantgarde der Arbeiterbewegung gestellt.

I. DIE "OBJEKTIVEN" FAKTOREN

Das historische Erbe

Ein zentrales Kennzeichen des alten Regimes war seine Unfähigkeit eine unabhängige soziale Organisation zu tolerieren, insbesondere eine der Arbeiterinnen und Arbeiter, die offiziell die gesellschaftliche Basis des Staates darstellten. Der totalitäre Charakter des Staates war erforderlich, um seine zerbrechlichen sozialen und ideologischen Grundlagen zu kompensieren. Die herrschende Bürokratie verfügte weder über Privateigentum, auf das sie ihre Macht hätte gründen können, noch über wirkliche Legitimität - offiziell war das System sozialistisch und deshalb demokratisch und egalitär, und das Regime arbeitete hart daran, diese Fassade aufrecht zu erhalten.
Die Bürokratie fürchtete die Arbeiterklasse. Arbeiterrevolten in Osteuropa und in der Sowjetunion (Nowotscherkassk 1981, die Streiks der Bergleute 1989 und 1991, der Generalstreik in Weißrussland im April 1991) demonstrierten die relative Leichtigkeit, mit der Arbeiter in diesem System spontan in großem Maßstab mobilisieren und anfängliche wirtschaftliche Unzufriedenheit in demokratische Forderungen verwandeln konnten, war erst einmal die Furcht vor der Repression überwunden. Verschiedene Faktoren begünstigten dies: der Staat als einziger Arbeitgeber, die zentralisierte Wirtschaftslenkung, die relative Homogenität der Arbeiterklasse, ihre Konzentration in riesigen Betrieben und vor allem die brüchige Legitimität des Regimes.
In diesem System waren die Gewerkschaften undemokratisch und gegenüber dem Management und dem Parteiapparat unterwürfig. Wenngleich sie nach Stalins Tod nicht mehr so sehr an der kurzen Leine gehalten wurden, agierten die Gewerkschaften hauptsächlich für die Erfüllung von Produktionszielen und damit zugunsten des Managements. Die grundlegenden Entscheidungen über Löhne, Sozialleistungen und die Rechte der Arbeitenden wurden vom zentralen Partei- und Regierungsapparat getroffen, wobei die Gewerkschaften bestenfalls eine beratende Rolle spielten. Sie hatten nur einen sehr geringen politischen Einfluss. Die Sitzungen des Zentralkomitees der Gewerkschaften folgten unmittelbar auf denen des Zentralkomitees der Partei, und sie trafen ihre Beschlüsse im Lichte der Resolutionen des letzteren. Die Gewerkschaftsbürokratie wurde als "Friedhof für Parteikader" bezeichnet, als Abladeplatz für Partei- und Staatsfunktionäre "ohne weitere Perspektive".
Auf dem Papier hatten die Gewerkschaften eine beträchtliche Macht in den Betrieben. Obgleich sie keine Löhne aushandelten, überwachten sie die Durchführung der Lohnpolitik und des Arbeitsgesetzes, beteiligten sich an der periodischen Revision der Produktionsnormen (denen sich die Arbeiter oft energisch widersetzten), verhandelten und überwachten lokale Abkommen über Gesundheit und Sicherheit, Wohnungsbau, Verpflegung usw. Sie leiteten auch das Inspektorat für Gesundheit und Sicherheit und konnten dabei Untersuchungen anstellen, verbindliche Direktiven ausgeben, Bußgelder über Einrichtungen verhängen oder sie gar schließen. Sie beteiligten sich an der Verwaltung von Sozialleistungen wie Kranken- und Mutterschaftsurlaub, Pensionen, Gesundheitsfürsorge, Urlaubsunterstützung, Kinderhorte, Freizeitaktivitäten. Sie hatten formal beträchtliche Vollmachten bei der Behandlung von Unzufriedenheit, und sie konnten sogar Funktionäre wegen Verstöße gegen kollektive Abkommen oder das Arbeitsgesetz absetzen.
Doch es ist bezeichnend für den wirklichen Status dieser Rechte, dass Exemplare des Arbeitsgesetzes praktisch für Gewerkschaftsaktivisten nicht zugänglich waren, geschweige denn für die Arbeiterinnen und Arbeiter an der Basis. Es gab einige mutige, engagierte (und nicht ehrgeizige) Gewerkschaftsführer, die bereit waren, sich den Partei- und Wirtschaftsfunktionären zu widersetzen. Doch war Unterwerfung die Norm. Der Gewerkschaftsvorsitzende im Betrieb war ein Eckpunkt des "Dreiecks", zusammen mit dem Betriebsleiter und dem Parteivorsitzenden. Als die Bergleute während ihres Streiks im Juli 1989 Verhandlungen führten, saßen die Führer der Gewerkschaft zusammen mit den Staats- und Wirtschaftsfunktionären den Vertretern der Streikenden gegenüber.
Man kann nicht sagen, dass die Gewerkschaften die Interessen der Arbeiterinnen und Arbeiter nicht verteidigten. Aber sie taten dies nur in dem Maß, wie sie nicht mit dem Management oder dem Staat in Konflikt gerieten. Anders konnte es auch nicht sein. Gewerkschaftsführer wurden - außer bisweilen auf unterster Ebene - von oben ernannt und abgesetzt. Arbeiter gegen die Verwaltung zu mobilisieren hätte bedeutet, einen Grundpfeiler des Regimes zu untergraben. Die gnadenlose Repression des Generalstreiks von Nowotscherkassk 1962 war keine Überreaktion nervöser Behörden. Streiks fanden tatsächlich in isolierten Betrieben statt, aber jeder Gewerkschaftsführer, der es gewagt hätte, einen Streik zu führen, hätte seinen Job und sein Parteibuch verloren und sich mit dem KGB auseinandersetzen müssen. Während eine der immer wiederkehrenden Kampagnen für die Belebung der Gewerkschaften, taufte die Gewerkschaftszeitung Trud diese als "zur Hälfte Verteidiger der Arbeiter"1. Selbstverständlich waren diese Kampagnen stets ein Fehlschlag.

Der paternalistische Charakter der sozialen Beziehungen

Doch der repressive Rahmen liefert nicht die ganze Erklärung für diese Unterwürfigkeit. Die Arbeitenden hatten einen Sinn für das "Wir" - die Machtlosen und Unterprivilegierten - gegen "sie", die Bosse. Aber andere Aspekte des Systems dämpften den Antagonismus und ließen die Linien der Opposition unklar werden. Zum einen war die herrschende Gruppe in einer Hierarchie der Macht und der Privilegien gegliedert, und jeder Verwalter stand unter der Knute seiner Vorgesetzten. Die Arbeiterinnen und Arbeiter konnten sich so lediglich als die unteren Sprossen einer fortlaufenden Leiter von Macht und Privilegien betrachten. Und nach ihren sozialen Ursprüngen war die Bürokratie immer noch eine relativ offene Gruppe. Wichtiger war die paternalistische Natur der gesellschaftlichen Beziehungen. Die Arbeitenden waren machtlos, aber sie genossen wichtige soziale Rechte, eine bemerkenswerte Arbeitsplatzsicherheit und einen "sozialen Lohn", der freie Gesundheitsfürsorge und Ausbildung auf allen Ebenen, Pensionen, billiges Wohnen, kommunale Dienstleistungen, Freizeit- und kulturelle Aktivitäten, öffentliche Verkehrsmittel, Grundnahrungsmittel usw. einschloss. Dies entsprach 1984 etwa zwei Drittel des in Geld ausbezahlten Lohnes.2 Von der offiziellen Propaganda abgesehen gab es daher eine materielle Grundlage dafür, dass die Werktätigen diesen Staat als einen schützenden, obschon autoritären und korrupten, Vater betrachteten. Der Vater-Staat verteidigte sie auch gegen eine feindliche kapitalistische Welt.
Der Paternalismus war auf der Ebene des Betriebs noch ausgeprägter. Hier spielte der Betriebsleiter eine Doppelrolle als Vertreter des Staates und als Lobbyist oder Verteidiger seines "Arbeitskollektivs" (der Begriff schloss das Management ein). Gewinne und Einsparungen bei den Kosten für Arbeitskräfte gehörten nicht zu den wesentlichen Erwägungen des Managements. Was zählte, waren die Produktionsziele. Diese unter den immanent unsicheren Bedingungen der "geplanten" Wirtschaft zu erfüllen erforderte relativ viele und flexible Arbeitskräfte. Um dies unter den Bedingungen chronischen Arbeitskräftemangels zu sichern, versuchte das Management die Löhne zu erhöhen und in Zeiten der Flaute bei Arbeitsplänen und -disziplin flexibel zu sein. Und in dem Maße, in dem Sonderzulagen und Sozialleistungen von der Bilanz des Unternehmens abhingen, hatten die Arbeitenden ein Interesse daran, die Planziele zu erfüllen. Wenn die Betriebsleitung, von der Gewerkschaft sekundiert, appellierte, "die Lage des Betriebs in Betracht zu ziehen" und periodisch wiederkehrenden massiven Überstunden oder Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen zuzustimmen, antworteten die Arbeiterinnen und Arbeiter im Allgemeinen darauf positiv. Die Furcht spielte eine Rolle, aber es gab auch das Gefühl, dass ihre Interessen mit denen "ihres" Betriebs verbunden waren.
Gorbatschows Liberalisierung, die politische Begleiterin seiner Marktreform, schuf Raum für eine unabhängige Arbeiterbewegung. Streiks um Löhne und Arbeitszeit wurden häufiger und ergriffen bisweilen ganze Unternehmen und dauerten mehrere Tage. Doch bis zum Generalstreik der Bergleute 1989 gab es keine Mobilisierungen, die mehrere Betriebe umfassten. Während der Streikbewegung vom Frühjahr 1991 (von Bergleuten, mit versprengter Unterstützung aus anderen Branchen und einem Generalstreik in Weißrussland) ging der Protest erneut über den isolierten Betrieb hinaus. Die Bewegung dehnte sich nach und nach aus, doch die Mehrheit der Werktätigen war noch nicht in kollektive Aktion getreten, als die Sowjetunion schließlich zusammenbrach.

Unabhängige Arbeiterorganisationen?

Gorbatschow rüffelte die Gewerkschaften öffentlich wegen ihrer Übereinstimmung mit dem Management, doch sie wurden nicht unabhängig, obwohl sie die Macht innerhalb ihrer Organisation radikal dezentralisierten. Es gab einige Ausnahmen, hauptsächlich in Betrieben, in denen es zu spontanen Mobilisierungen der Basis kam, doch sie waren selten. Nach ihrem Streik von 1989 wählten die Bergleute viele Streikführer in Gewerkschaftsposten, doch die meisten gaben diese frustriert auf. 1990 wurde die Unabhängige Bergarbeitergewerkschaft auf einer Plattform gewerkschaftlicher Unabhängigkeit gegründet. Dem folgte die Bildung anderer "alternativer" oder "freier" Gewerkschaften, die erfolgreichsten im Transportsektor (Schauermänner, Lokführer, Piloten usw.). In anderen Bereichen, vor allem in der Automobilindustrie, repräsentieren die alternativen Gewerkschaften da, wo sie existieren, kleine Minderheiten neben großen "traditionellen" Gewerkschaften. Obgleich unabhängig vom Management haben die alternativen Gewerkschaften zumindest bis vor kurzem Jelzins Regime der "Schocktherapie" unterstützt.
Als Teil seiner Reform schuf Gorbatschow auch Organe der Selbstverwaltung (STKs) mit begrenzten und ziemlich unklaren Vollmachten. Die meisten wurden leicht vom Management dominiert. Eine echte STK-Bewegung entstand nur 1990 als Antwort auf Gorbatschows Entscheidung, die Selbstverwaltung infolge seiner Hinwendung zum Kapitalismus zu beseitigen. Diese Bewegung verlangte Betriebsautonomie und die Übergabe der Macht der Betriebsleitung an die Arbeitskollektive. Doch sie erhielt niemals große Unterstützung von der Basis, noch versuchten ihre Führer diese ernsthaft zu mobilisieren.
Die STK-Bewegung stellte sich gegen das bürokratische System, doch es fehlte ihr ein eigenes Wirtschaftsprogramm - abgesehen von der Betriebsautonomie. Daher und weil sie mehr nach Unterstützung von oben strebte, war sie eine leichte Beute der liberalen Kräfte. Ihre Führer gaben Jelzin ihre Unterstützung, der Großes versprach, aber an der Macht die Wirtschaft in einer Weise privatisierte, dass die Arbeitenden praktisch von Macht und Eigentum ausgeschlossen waren. Was die Gewerkschaften betraf, so betrachteten sie die STKs als Rivalen und nahmen keine klare, unabhängige Position zur Privatisierung ein.
Trotz des realen Fortschritts, den die Arbeiterbewegung unter Gorbatschow machte, scheiterten die russischen Arbeiterinnen und Arbeiter bei der Entwicklung unabhängiger Organisationen und ihres eigenen Programms des gesellschaftlichen Wandels. Dafür gab es mehrere Gründe. Der offensichtlichste ist der, dass sie nicht genügend Zeit hatten, das Erbe eines halben Jahrhunderts totalitärer Herrschaft zu überwinden: Furcht, Zynismus, Atomisierung, Unterwürfigkeit unter eine mit Willkür regierende Autorität, Komplizenschaft mit dieser Autorität und, nicht zuletzt, ein schwach ausgeprägtes Gefühl für Rechte und Würde. Die Fähigkeit zur Selbstorganisation und Solidarität entwickelt sich durch den Kampf, aber die meisten Werktätigen waren nicht aktiv in die Bewegung hineingezogen worden. Die Dinge hätten sich schneller entwickeln können, wäre die politische Öffnung durch Kämpfe von unten gewonnen und nicht von oben gewährt worden, wenngleich die Arbeiterbewegung dabei geholfen hat, die Entwicklung über das von Gorbatschow ursprünglich Beabsichtigte hinaus zu treiben.
Die Unfähigkeit der Arbeiterbewegung, ihr eigenes Programm zu entwickeln, war teilweise ein Vermächtnis der "kommunistischen" Vergangenheit, die so viel zur Diskreditierung beigetragen hat, weniger der sozialistischen Werte - die Arbeitenden blieben ihren Idealen von Demokratie, Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit treu3 -, sondern der institutionellen Einrichtungen, die nötig sind, diese Werte zu realisieren. Nach dem bürokratischen "Sozialismus" glaubten die Arbeiterinnen und Arbeiter nicht, dass eine zentrale Planung gleich welcher Art demokratisch sein könnte. Sie waren gegenüber jeder Form des Zentralismus allergisch, was den liberalen Kräften zugute kam, die die ideologische Landschaft dominieren sollten.


Der internationale Rahmen

Die Unfähigkeit, eine unabhängige Analyse und ein unabhängiges Programm zu entwickeln, war auch durch die historische Periode beeinflusst: die Zeit eines größeren Rückzugs der Arbeiter- und sozialistischen Bewegung in der Welt. Es gab keine attraktiven sozialistischen Modelle - die "kommunistischen" Systeme stagnierten oder waren gerade dabei, den Kapitalismus wiederherzustellen - und es gab keine vorwärts schreitenden Bewegungen, die die sowjetischen Arbeiter inspirieren konnten. Sogar siegreiche Abwehrkämpfe gegen die neoliberale Flutwelle waren selten. Den Arbeitenden Russlands, die infolge der Zensur und der Reisebeschränkungen des alten Systems kaum ein Verständnis vom Kapitalismus hatten, schien, worauf die Liberalen insistierten, allein der Kapitalismus "normal".
Darüber hinaus genossen die restaurativen Kräfte in Russland die politische und finanzielle Unterstützung des internationalen Kapitals, der G7 und ihrer internationalen Finanzinstitutionen. Ohne diese Unterstützung in bedeutenden kritischen Momenten hätte die "Schocktherapie" nicht so zielstrebig und so lange durchgeführt werden können. Dagegen war die internationale Arbeiterbewegung von der russischen Bühne praktisch abwesend. Die geringe Unterstützung, die es gab, ging an Gewerkschaften, um ihnen zu helfen, sich an den Kapitalismus anzupassen, nicht um für eine Arbeiteralternative zu kämpfen. Schlimmer noch, der US-Gewerkschaftsdachverband AFL-CIO förderte die Bildung gelber Gewerkschaften und half, die militantesten Elemente der Arbeiterbewegung in das Jelzin-Lager zu überführen.


Die gegenwärtige Lage

Die grundlegende Tatsache heute ist die Depression. Die Wirtschaft ist in sieben der letzten neun Jahre rückläufig gewesen. Das Bruttosozialprodukt liegt bei 50-60% des Stands von 1990; der industrielle Ausstoß liegt bei etwa 45%.4 Im ASM-Sektor ist die Produktion landwirtschaftlicher Maschinen, von Bussen und Lkw um 90% zurückgegangen. Die Automobilproduktion liegt bei 80% des Stands vor der Depression und ist damit die herausragende Ausnahme in dem einst ausgedehnten Maschinenbau-Komplex. Die Hauptfaktoren für den Niedergang sind der Zusammenbruch der inneren Nachfrage - gegenwärtig bei einem Drittel des Stands von 19905 - und die kritische finanzielle Situation der Betriebe, die durch die Preisliberalisierung 1992 ihr operierendes Kapital verloren haben, nicht über Kredite verfügen und durch hohe Steuern und hohe Preise für Roh- und Brennstoffe belastet werden. Die Investitionen sind seit 1990 in jedem Jahr zurückgegangen. 1998 betrugen sie weniger als ein Sechstel vom Stand des Jahres 1990.6 Die Nettoinvestition ist negativ, was bedeutet, dass der Kapitalvorrat Russlands zunehmend zusammenschrumpft. Russland macht eine schnelle De-Industrialisierung durch.
Die staatliche Politik ist der Hauptfaktor hinter dieser Depression. Der Plan der Regierung bestand darin, so schnell wie möglich zu privatisieren und die Betriebe der Disziplin des Markts auszusetzen, sie schwimmen oder sinken zu lassen. Die Preise wurden über Nacht frei gegeben, Subventionen gekürzt, die Wirtschaft dem internationalen Wettbewerb ausgesetzt, der Geldzulauf eingeschränkt - all dies nach einem halben Jahrhundert einer zentral verwalteten Wirtschaft. Es ist schwierig, die Schlussfolgerung zu vermeiden, dass die Reformer die "Umstrukturierung" durch die Zerstörung eines großen Teils der bestehenden Industrie beabsichtigten, da den Betrieben keine Chance zur Anpassung gegeben wurde. Diese Politik wurde von den G7 entwickelt und gefördert und vom Jelzin-Regime bereitwillig angenommen.
Vom Standpunkt der Arbeitenden ist die einzige positive Errungenschaft dieser Periode die Bewahrung der Organisations- und Redefreiheit - keine geringe Sache, wenn man die russische Geschichte betrachtet. Die Gewerkschaften sind von Beschränkungen staatlicherseits relativ frei gewesen. Zwangsmaßnahmen wurden selbst bei Handlungen zivilen Ungehorsams wie Blockaden von Bahnlinien und Straßen nur selten angewandt, und trotz der Anstrengungen der Regierung schneidet das Arbeitsrecht beim Vergleich mit den Arbeitsgesetzen westlicher Länder gut ab - dank einiger Überbleibsel aus der sowjetischen Periode.
Doch der praktische Wert dieser Rechte steht auf einem anderen Blatt. Die neue Verfassung, die durch ein manipuliertes Referendum eingeführt wurde, gibt dem Präsidenten praktisch absolute Macht. Die blutige Unterdrückung des Obersten Sowjet 1993 war eine Warnung an alle oppositionellen Kräfte, innerhalb der Grenzen der Pseudodemokratie zu bleiben, was die Parteien und Gewerkschaften im Allgemeinen auch getan haben. Die Regierung hat in der Praxis über die Gesetzlichkeit ein Moratorium verhängt.
Jeder mit genug Macht oder Geld kann die Gesetze missachten - natürlich nur, solange er nicht den Zorn eines anderen mit mehr Macht oder mehr Geld auf sich zieht. Die Regierung gibt die Tonart vor. Die Korruption ist allgegenwärtig. Die Steuerpolitik der Regierung basiert selbst auf Diebstahl: Löhne werden monatelang einbehalten und dabei nicht an den Preisindex angepasst; Ausgaben, die der Haushalt vorsieht, werden nicht gemacht; Aufträge, die Betriebe für den Staat durchführen, werden nicht bezahlt. Die Privatisierung Russlands war wahrscheinlich der massivste Akt von Diebstahl in der Geschichte. Die Gewerkschaften haben vor Gericht keine reale Handhabe, außer bei Beschwerden individueller Beschäftigter wie bspw. bei unrechtmäßiger Entlassung, aber auch dort kann die Abhilfe Jahre dauern.
Der russische Kapitalismus legt eine Reihe besonderer Züge an den Tag. Die Eigentumsrechte sind brüchig und unklar. Die Besitzenden können nicht auf den Staat zählen, um sie zu verteidigen, und sie werden auch von der Mehrheit der Bevölkerung nicht als legitim anerkannt. Der Eigentumstitel ist oft umstritten und garantiert keine Kontrolle. Das Arbeitsgesetz bewahrt eine Vorschrift, die es den Gewerkschaften erlaubt, die Entlassung von Managern zu erzwingen. Dieser Artikel wird manchmal noch angewandt, obschon unter zunehmenden Schwierigkeiten. Wo Arbeiter vereint und entschlossen sind, haben sie die Betriebe übernommen und ihre Kontrolle über das Management errichtet, und weder der Eigentümer noch der Staat ist in der Lage gewesen, sie zu verdrängen. In den meisten Fällen übt der Betriebsleiter die absolute Macht aus, unbehindert von den Eigentümern, dem Staat, dem Gesetz oder den Beschäftigten.
Bereits 1992 konnten die Löhne in der offiziellen Ökonomie die täglichen Bedürfnisse von über zwei Fünfteln der Beschäftigten nicht mehr befriedigen, 1994 betraf dies über zwei Drittel der Lohnabhängigen. Seitdem hat sich die Lage weiter verschlechtert.7 Die Arbeit ist "frei", aber ihre Bewegung in die großen Städte, wo es mehr Jobs gibt, wird durch lokale, nicht verfassungskonforme Regeln und durch das vollständige Fehlen erschwinglichen Wohnraums behindert.
Doch der schlagendste Zug des russischen Kapitalismus ist sein Kannibalismus: er konsumiert den akkumulierten Reichtum des Landes und zerstört dessen bloße Fähigkeit, Reichtum zu produzieren. Abschreibungen machen mehr als 30% des Bruttoinlandsprodukts aus.8 Man schätzt, dass von 1993 bis 1998 136 Milliarden US-Dollar aus Russland geströmt sind, weit mehr als das Kapital, das durch ausländische Investoren und internationale Anleihen ins Land gelangt ist.9 Ausgaben für Forschung und Entwicklung sind um das 15fache gesunken, für Wissenschaft um das 50fache. Viele Wissenschaftler sind emigriert oder haben ihren Beruf aufgegeben. Die bestausgebildeten Arbeiter und Techniker waren die ersten, die die sterbenden Betriebe verließen und in den neuen privaten Sektor gingen, wo ihre Fähigkeiten selten gebraucht werden. Nur 30% der wehrpflichtigen Rekruten besitzen heute Grundkenntnisse in Mathematik, gegenüber 90% in der sowjetischen Zeit.10
Nicht nur die Fähigkeiten, sondern die Arbeitskräfte selbst werden zerstört. Dies ist ein Resultat des sinkenden Lebensstandards, der Einschnitte in das Gesundheitswesen, des durch Depression und soziale Entwurzelung hervorgerufenen Stress. Die Geburtenrate ist dramatisch gesunken und die Sterberate bei Männern ist auf dem Stand des 19.Jahrhundets. Der natürliche Bevölkerungsrückgang (d.h. abzüglich der Auswirkungen der Migration) betrug zwischen 1992 und 1997 3,5 Millionen, bei einer Bevölkerung von 148,7 Millionen.11 Laut einem prominenten amerikanischem Demografen wird das wahrscheinlichste Szenario für die nächsten fünfzig Jahre ein Bevölkerungsrückgang von 45% sein. Im Vergleich dazu wird die Bevölkerung der USA im gleichen Zeitraum um 45% zunehmen.12
In Russland kann die Unterscheidung zwischen einem legitimen und einem illegitimen Geschäft nur in der Theorie erfolgen.13 Geschäfte können nicht vollständig legal geführt werden. Wenn kriminelle Elemente die Betriebe nicht direkt kontrollieren (laut der Regierung kontrolliert die Mafia 50% des nichtstaatlichen und 60% des staatlichen Sektors14), zahlt das Management an sie oder korrupte Staatsbeamte oder stiehlt von sich aus. Meist ist es eine Kombination aus all dem.
Ein weiterer kennzeichnender Zug der Wirtschaft ist der Abbau der Geldwirtschaft - Ende 1998 wurden durchschnittlich 52% der Verkäufe durch Industriebetriebe in Naturalien bezahlt.15 Für die Beschäftigten von größter Bedeutung sind die Rückstände bei den Löhnen, die im März 1999 durchschnittlich 4,2 Monate in der Pkw- und Lkw-Produktion und 7,4 Monate im Bereich der Produktion landwirtschaftlicher Maschinen betrugen.16 Die Lohnrückstände sind faktisch von den Beschäftigten erzwungene Anleihen an das Unternehmen mit negativen Zinsraten (es erfolgt keine Anpassung an den Preisindex). Die Direktoren zitieren objektive Umstände, aber angesichts der verheerenden Korruption, wissen die Arbeiter oft nicht mehr, wen sie verantwortlich machen sollen.
Es gibt in der Arbeiterbewegung keinen Konsens über die Art der Interessen der Direktoren, aber es ist eine Tatsache, dass es fast allen Betriebsleitern besser geht als unter dem alten Regime, während fast alle Arbeiterinnen und Arbeiter schlechter dran sind. Als die Perspektive einer Änderung der Regierungspolitik und einer Erholung der Wirtschaft in weite Ferne rückte, sahen die Manager ihre Betriebe zunehmend als Quelle von Renten oder schlicht als Objekte der Ausplünderung an. Während sie sie nicht notwendigerweise einfach zerstören wollen, da sie ja Quellen persönlicher Bereicherung sind, gibt es auch wenig Anreiz für die Anstrengung, sie zu ihrer Gesundung zu führen (was wahrscheinlich sowieso vergeblich ist). Die Manager genießen eine weitgehende Freiheit von jeder Kontrolle - seitens der Eigentümer, des Staates, der Gewerkschaften. Sie sind auch relativ frei vom Einfluss marktwirtschaftlicher Kräfte, da das Bankrottgesetz "milde" und seine Anwendung hauptsächlich eine politische Entscheidung ist. Außerdem kann das Management ja, wie schon erwähnt, von den Beschäftigten Anleihen zu negativen Zinsraten erhalten. Managementfreundliche Gewerkschaften und Parteien (wie die KPRF, die "Kommunistische Partei der Russischen Föderation") zitieren die Überbeschäftigung als Beweis dafür, dass die Direktoren immer noch "rot" seien und das "Arbeitskollektiv erhalten" wollen. Doch die Kosten dieser "überschüssigen" Arbeitskräfte werden ausschließlich den Beschäftigten in Form extrem niedriger Löhne auferlegt.


Faktoren, die den Widerstand der Arbeitenden begrenzen

Zwei Elemente in der Lage der Arbeitenden schwächen insbesondere ihre Fähigkeit, Widerstand zu leisten: die akute wirtschaftliche Unsicherheit und die (in Ermangelung eines besseren Ausdrucks) wachsende soziale Desintegration der Arbeiterklasse.
Die Erwerbslosigkeit ist von 0 auf eine effektive Rate von nahezu 30% gestiegen (einschließlich der unfreiwillig nur zum Teil Beschäftigten und jener, die weniger als das Lebensminimum verdienen).17 Der ASM-Sektor hat seit 1992 70% seiner Arbeitsplätze verloren.18 Das extrem eingeschränkte soziale Sicherheitsnetz trägt nicht dazu bei, die Furcht vor dem Verlust des Arbeitsplatzes zu mindern. Und einen Job zu haben führt nicht zu vorübergehender Sicherheit. Laut dem Russischen Zentrum für die Untersuchung des Lebensstandards war 1998 der Durchschnittslohn gleich zweier Einkommen in Höhe des Lebensminimums (wörtlich genommen). Diese Zahl geht von der Voraussetzung aus, dass Löhne gezahlt werden, und sie reflektiert nur teilweise den 40%igen Sturz der Reallöhne nach der Finanzkrise von August 1998.19
In den großen Städten ergänzen manche Arbeiterinnen und Arbeiter ihre Löhne durch Zweitjobs. Aber dadurch kommen selten mehr als 15% zum ersten Lohn dazu, und es erfordert eine gute Gesundheit und gewöhnlich spezielle Fähigkeiten oder ein Auto. In kleineren Städten sind Gärten (gewöhnlich 600 m2) die hauptsächliche Methode, die Löhne aufzubessern. Pensionäre teilen manchmal die Renten mit ihren Kindern, obwohl die Pensionen durchschnittlich unter dem Lebensminimum liegen.20 Weitere wichtige Faktoren sind die immer noch recht geringen, wenngleich rasch steigenden, Kosten für Wohnung und öffentlichen Verkehr. Die medizinische Grund- und Notversorgung ist generell kostenlos, aber Medikamente, medizinische Tests, Krankenhausaufenthalte und Operationen sind sehr teuer. Die Elementarschulbildung ist auch kostenlos, aber Eltern werden zunehmend aufgefordert, zu den Kosten beizutragen. Schließlich ist das Klauen in den Betrieben, falls dort etwas Wertvolles vorhanden ist, weit verbreitet.
Die Restauration des Kapitalismus hatte einen großen Einfluss auf die Struktur und Zusammensetzung der Arbeiterklasse. Die Privatisierung eliminierte den Staat als Arbeitgeber in der Industrie und führte zu einer starken Differenzierung in der Arbeiterklasse innerhalb und zwischen den einzelnen Industriezweigen und Regionen. In der ASM-Branche bspw. bezahlt die Automobilfabrik WAS, die den größten Teil ihrer Arbeitskräfte behalten hat, sechsmal höhere Durchschnittslöhne als Rostelmasch (Fabrik für landwirtschaftliche Maschinen). Rostelmasch hat drei Viertel ihrer Beschäftigten verloren.21 Die Löhne können sogar innerhalb derselben Fabrik und bei Arbeitern mit derselben Arbeit und Ausbildung drastisch variieren, was die Solidarität der Beschäftigten untergräbt.
Von 1990 bis 1998 hat die Industrie 42% ihrer Arbeitskräfte verloren.22 Meistens dadurch, dass die Beschäftigten "auf eigenen Wunsch" den Betrieb verließen, um anderswo einen Job mit einem zum Leben ausreichenden Lohn zu suchen. Die ersten, die gingen, waren junge Arbeiter, die besser Ausgebildeten und die generell mutigeren und anpassungsfähigeren Arbeiter und Arbeiterinnen. Dies waren oftmals diejenigen, die an vorderster Front des Arbeiterwiderstands gegen Gorbatschow gestanden hatten. Die verbleibenden Beschäftigten waren im Durchschnitt relativ alt und sie neigten dazu, eher vorsichtig und unterwürfig zu sein, da sie um ihre Jobs und Pensionen fürchteten. Der unregelmäßige Arbeitsrhythmus, die Unsicherheit des Lohns und seine geringe Höhe untergräbt die Disziplin und demoralisiert die Arbeiterinnen und Arbeiter. Gartenparzellen und Nebenjobs zähren an Energie und Engagement. Vorübergehend entlassene Arbeiter sind schwer zusammenzubringen. Der von der Wirtschaftskrise hervorgerufene Stress hat besonders die Männer betroffen, unter denen Alkoholismus weit verbreitet ist.


II. DIE "SUBJEKTIVEN" FAKTOREN23

Dieser Abschnitt befasst sich mit den "traditionellen" Gewerkschaften, die zumeist der FNPR (Föderation Unabhängiger Gewerkschaften) angehören. Sie umfassen über 90% der gewerkschaftlich organisierten Arbeiterinnen und Arbeiter. 1998 gab die FNPR 40 Millionen Mitglieder an, ungefähr 90% aller Beschäftigten in Groß- und Mittelbetrieben.24 (Die neuentstandenen Betriebe des privaten Sektors sind klein und ohne gewerkschaftliche Organisierung.) Die ASM-Gewerkschaft (also im Zweig des Automobilbaus und für landwirtschaftliche Maschinen) gab 1998 800000 Mitglieder an, etwa 88,56% der Beschäftigten in dieser Branche.25 Der Rest gehört zu keiner Gewerkschaft oder zu einer "alternativen" oder anderen traditionellen (aber nicht der FNPR angeschlossenen) Gewerkschaft.

Im Folgenden analysieren wir die Praxis der traditionellen Gewerkschaften. Während es Ausnahmen gibt, auf die später eingegangen wird, sind diese noch nicht ausreichend verbreitet, um das allgemeine Bild grundlegend zu revidieren. Die Hauptprobleme der Gewerkschaften lassen sich als eine Reihe von Paradoxa formulieren:
1. Der Abbau des sowjetischen Systems und die Depression haben die materiellen Grundlagen des Paternalismus untergraben. Doch in der Praxis sind die Gewerkschaften nicht vom Management oder vom Staat unabhängig geworden.
2. Der Staat übt nicht mehr die direkte Kontrolle über das interne Leben der Gewerkschaften aus, und die Macht innerhalb der Gewerkschaften ist dezentralisiert worden. Aber die Gewerkschaften bleiben bürokratisiert und undemokratisch mit einer entfremdeten Mitgliedschaft.
3. Während der Grad der gewerkschaftlichen Organisierung immer noch hoch ist, sind die Gewerkschaften unfähig, den Arbeiterwiderstand zu vereinen und zu koordinieren. Es mangelt an Solidarität.


"Sozialpartnerschaft"

Die Ideologie und Praxis der "Sozialpartnerschaft" findet auf allen Ebenen breite Unterstützung unter Gewerkschaftsführern. Ihre Prämisse ist die Auffassung, dass die Werktätigen und das Management ein grundlegendes Interesse an der Gesundheit "ihres" Betriebs haben, wodurch eine solide Basis für ihre Zusammenarbeit geschaffen werde. Dies impliziert, dass gemeinsame Interessen mit den Beschäftigten anderer Betriebe sekundär sind. Und während die Führer ein Lippenbekenntnis zu der Notwendigkeit ablegen, stark zu sein, um als Partner akzeptiert zu werden, behandeln sie "Partnerschaft" in der Praxis als magische Formel, die die sozialen Widersprüche eliminieren kann, und sie so von der Notwendigkeit befreit, sich dem Management und dem Staat in einem Kräftemessen entgegen zu stellen. Als Folge weisen sie der Entwicklung einer engagierten, militanten Basis oder der Stärkung der Demokratie als Mittel zu diesem Zweck nur eine geringe Priorität zu.
Mit dem Übergang zum Kapitalismus begann die russische Regierung - sekundiert von Organisationen wie der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) - vehement die Ideologie und die Fallstricke der "Partnerschaft" zu fördern. Die Gewerkschaftsführer benötigten nicht viel Überzeugung, da es ihnen die neue Formel erlaubte, ihre alte Praxis in eine passende Phraseologie des "Markts" zu kleiden. Es macht kaum einen Unterschied, dass die materiellen Grundlagen des alten Paternalismus - der repressive Staat, die Lohn- und Jobsicherheit, der soziale Lohn - verschwunden oder ernstlich untergraben sind. Auch hat die offensichtlich weit verbreite Korruption des Managements daran nichts geändert.
In einem gewissen Ausmaß haben die Wirtschaftskrise und die daraus resultierende Gefährdung der Arbeitsplätze und des bloßen Überlebens der Betriebe die sozialistische Ideologie und den sozialen Lohn als Hauptargument für die Unterwürfigkeit der Gewerkschaften ersetzt. Natürlich muss jede Gewerkschaft die Drohung massiven Arbeitsplatzabbaus und sogar der Schließung des Betriebs in Rechnung stellen, wenn sie das Verlangen des Managements nach Zugeständnissen oder ihre eigenen Forderungen betrachtet. Die Gewerkschaftsführer behaupten, dass die Alternative zur "Partnerschaft" der für alle Seiten zerstörerische permanente Klassenkrieg sei. Auch die kämpferischsten Arbeiter erkennen an, dass eine Fabrik nicht ohne minimale Kooperation mit dem Management funktionieren kann. Die reale Alternative lautet nicht sozialer Frieden oder Krieg, sondern Gewerkschaftsunabhängigkeit oder Unterwerfung; eine Gewerkschaft als "Unterhändler" für die Politik des Managements oder eine Gewerkschaft, die eine Strategie vertritt, die auf einer unabhängigen Analyse der Interessen ihrer Mitglieder beruht.
Wie früher stellen sich die Gewerkschaften generell auf die Seite des Managements, wenn es von den Arbeitenden verlangt, "die Situation des Betriebs in Betracht zu ziehen", sei es, wenn es um die Verschiebung der Lohnzahlungen, die Umgehung von Sicherheitsstandards, vorübergehende Entlassungen oder um Kurzarbeit (die laut Gesetz die Zustimmung der Beschäftigten erfordert) geht. Dies gilt auch dann, wenn die Forderungen der Unternehmensleitung gegen tarifliche Abkommen oder das Arbeitsgesetz verstoßen.
Zum Beispiel führte die Gewerkschaftsführung in der WAS- Automobilfabrik 1998 und 1999 eine hartnäckige Kampagne an der Seite des Managements, um die Anpassung der Löhne an den Preisindex (die 1992 durch den Streik einer alternativen Gewerkschaft erkämpft worden war!) durch einen Profitabilitätszuschlag zu ersetzen. Gerechtfertigt wurde dies durch die ernste finanzielle Lage der Fabrik. Der Vorschlag wurde auf vielen Teilbetriebsversammlungen zurückgewiesen und ging auf der Gesamtbetriebsversammlung erst im zweiten Anlauf, nach vielem Hin und Her, durch. Manchmal gibt es nicht einmal den Anschein von gewerkschaftlicher Unabhängigkeit. Bei der Autofabrik Moskwitsch entließ der Betriebsleiter widergesetzlich einen Montagearbeiter wegen eines Defekts an der Lenkstange eines Rennwagens und gab daraufhin eine schriftliche Anweisung an den Verantwortlichen für die Produktqualität sowie an den Gewerkschaftsvorsitzenden, Versammlungen mit den Arbeitern über Fehler in der Montage zu organisieren, die das "Ansehen" der Fabrik "schädigten". Tatsächlich stellen viele ASM-Gewerkschaften, mit dem Segen der nationalen Leitung, den "Wettbewerb der Arbeit" wieder her (der früher "sozialistischer Wettbewerb" hieß), darunter auch die Verleihung von Vergütungen und Urkunden an die besten Belegschaften.


Direktoren und Arbeitende - eine Familie?

"Manch einer würde vielleicht gerne die Gewerkschaften auf der einen Seite und die Verwaltung auf der anderen Seite sehen", sagte ein Gewerkschaftsführer in der GAS-Automobilfabrik. "Aber Gott sei Dank ist das hier nicht so. Wir leben alle wie eine Familie; wir hängen alle von einander ab. Einfach gesagt, der Fabrik geht‘s gut, und das bedeutet, dass es auch ihrer Gewerkschaftsorganisation gut geht: sie kann mehr Leute in bezahlte Ferien schicken, ihnen materielle Hilfe geben usw. … Wir sind alle zusammen ein Kollektiv, und dazu gehören die Verwaltung, die Gewerkschaftsführer und die Arbeiter."26
Die traditionellen Gewerkschaften haben aus ihren Reihen leitendes Personal nicht ausgeschlossen, trotz der symbolischen Botschaft, die dies für die Arbeitenden beinhaltet, und trotz des Schadens, den ihre Anwesenheit für die Gewerkschaftsautonomie und -demokratie bedeutet. Die Präsenz von Managern auf Gewerkschaftskonferenzen ist gewöhnlich stark und erlaubt ihnen einen großen Einfluss in dieser Periode erhöhter Unsicherheit. Auf die Frage, wie Gewerkschaften Arbeiter verteidigen können, wenn das Management derselben Organisation angehört, antwortete ein FNPR- Sekretär, dass die Situation vielleicht nicht wünschenswert, aber Russland ein Land im Übergang sei. "Erstens existieren gewisse Traditionen. Zweitens gibt es keine klar definierte Schicht von Unternehmern, die ihrer Interessen bewusst sind. Viele Direktoren haben jahrzehntelang an einer Fabrik gearbeitet und fühlen sich als Teil des Arbeitskollektivs."27 Ähnlich fragt ein führender Gewerkschafter der Lkw-Fabrik in Jaroslawl: "Gibt es eine Klasse von Arbeitgebern, an die ich Forderungen stellen kann? Unser Generaldirektor ist ein Gewerkschaftsmitglied. Wir haben keine Arbeiterbewegung, weil wir keine Klasse von Arbeitgebern haben, keine wirklichen Bosse mit klaren Interessen und Vollmachten, die im Gegensatz zu unseren Interessen stehen." Diese Klage basiert auf der Vorstellung, dass Gewerkschaften in "normalen" kapitalistischen Ländern Forderungen stellen und sie durchsetzen können, weil sie "wirklichen Arbeitgebern" gegenüberstehen. Aber das Problem in Russland ist nicht das Fehlen "wirklicher Arbeitgeber". Es ist eine Wirtschaftskrise, die die Effektivität der Arbeitsverweigerung als Druckmittel untergräbt. Daraus folgt jedoch nicht notwendigerweise, dass "Partnerschaft" die passende Antwort ist.
Die Wirtschaftskrise erfordert eine koordinierte Aktion auf nationaler Ebene. Aber auch hier beruht die bisherige Gewerkschaftstaktik auf der Illusion der "Partnerschaft" statt auf einer sauberen, unabhängigen Analyse. Im Juni 1997 organisierten die drei Gewerkschaften in der Maschinenbaubranche eine Konferenz mit Direktoren, um gemeinsame Aktionen zur Überwindung der Krise zu diskutieren. Die Redner übten scharfe Kritik an der Politik der Regierung. Die Versammlung verabschiedete einstimmig eine Resolution, in der der Regierung eine Reihe von Notmaßnahmen vorgeschlagen wurde: Schutz des heimischen Markts, niedrigere Unternehmenssteuern, Zugang zu Krediten usw. Die Resolution appellierte auch an "Arbeitskollektive", die Reihen hinter diesen Vorschlägen (die Bezeichnung "Forderungen" wurde bewusst vermieden) zu schließen. "Gleichzeitig sollten die Stärkung der Disziplin und Hebung der Arbeitsproduktivität, die Einsparung materieller und technischer Ressourcen und die Senkung der Produktionskosten wichtige Faktoren zur Überwindung der Krise werden." Niemand stellte die Frage, ob die Beschäftigten und das Management in diesen Fragen dieselben Interessen teilen.
Eine zweite Resolution, "Über gemeinsame Aktionen von Arbeitgebern und Gewerkschaften", provozierte eine kurze Diskussion. Sie rief dazu auf, die "Anstrengungen" des Managements, die Branche zu retten, mit dem "Kampf" der Gewerkschaften für die Rechte und Interessen ihrer Arbeiterinnen und Arbeiter zu vereinen. Ein Betriebsleiter protestierte gegen das Wort "Kampf", und es wurde gestrichen. Tatsächlich war der schlagendste Aspekt der Konferenz ihr fast vollständiges Schweigen darüber, wie man die Regierung zwingen kann, die vorgeschlagenen Maßnahmen anzunehmen. Dementsprechend haftete dem Ganzen etwas Irreales an. Die Resolution behauptete auch, dass "sich die Teilnehmenden dieser Konferenz bei der Lösung sozialer Konflikte gegen extreme Kampfmethoden wie Streiks und Akte zivilen Ungehorsams aussprechen". Einige Gewerkschafter protestierten, aber der Punkt wurde angenommen.28
Doch der Hauptgrund, warum die Gewerkschaften diese Konferenz organisiert hatten, war die Direktoren zu drängen einen nationalen Arbeitgeberverband zu bilden, mit dem sie dann verbindliche Tarifabkommen schließen konnten. Ein Unternehmerverband wurde auch gebildet, aber er weigerte sich verbindliche Abkommen zu unterzeichnen. Sogar eine oberflächliche Analyse hätte ergeben, dass die Direktoren kein Interesse haben, sich mit einem nationalen Abkommen die Hände zu binden, wenn sie es mit schwachen Gewerkschaften zu tun haben.
Die politische Strategie der Gewerkschaften ist ebenfalls von der Idee der "Partnerschaft" geprägt und, wie das vorangegangene Beispiel zeigt, beruht sie auf einer Zusammenarbeit mit dem Management. Viele politische Aktionen der Gewerkschaften genießen tatsächlich die stillschweigende Zustimmung und bisweilen gar die offene Unterstützung des Managements. Während des Protests der FNPR im Oktober 1998 wurden die Demonstranten des Kirow-Werks zur Verblüffung vieler Arbeiter nicht nur vom Gewerkschaftsvorsitzenden und vom Vorsitzenden der St.Petersburger Gewerkschaftsföderation angeführt, sondern auch vom Generaldirektor der Fabrik und vom Gouverneur. Jelzin selbst drückte seine Sympathie für die Protestierenden aus, obwohl sie hauptsächlich seinen Rücktritt gefordert hatten. Wie gewöhnlich wurde die Forderung nicht erfüllt und von den Gewerkschaften bald vergessen.
Die politische Aktion der ASM-Gewerkschaft bestand hauptsächlich aus Lobbyarbeit, unregelmäßiger Beteiligung an Aktionen der FNPR, Protesten vor Regierungsgebäuden und der Unterstützung für "zentristische" politische Parteien, die einige Gewerkschaftsführer neben Betriebsdirektoren, Unternehmern und Berufspolitikern auf ihre Wahllisten gesetzt hatten. Versuche, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion eine sich auf die Gewerkschaften stützende demokratisch-sozialistische Partei zu schaffen, wurden von der Führung nicht unterstützt. Gegenwärtig unterstützt die ASM-Gewerkschaft die "zentristische" Partei des Moskauer Bürgermeisters Juri Lushkow. Ein Gewerkschaftsmitglied fragte den Führer des politischen Flügels der FNPR: "Gewerkschaften sind Arbeiterorganisationen. Lushkow ist ein Vertreter der jüngst gebildeten Bourgeoisie. Was können diese Gegensätze gemeinsam haben?" Die Antwort: "Wenn du darauf bestehst, in klassischen marxistischen Begriffen zu diskutieren, möchte ich dich daran erinnern, dass es vom Standpunkt des klassischen Marxismus Perioden gibt, wo die Klassiker selbst an die Arbeiter und die Bourgeoisie appellierten zusammenzuarbeiten, z.B. während einer bürgerlich-demokratischen Revolution. Das Wesen unserer aktuellen Situation besteht darin, dass die Arbeiterbewegung und das national orientierte Kapital mächtige gemeinsame Feinde haben: die bürokratische Finanzoligarchie, die ausschließlich vom Verkauf von Ressourcen lebt, und die Kräfte im Westen, die ein Interesse daran haben, Russland in eine Halbkolonie für die Förderung von Rohstoffen zu verwandeln. Wir haben auch ein gemeinsames Ziel: die wirkliche Ökonomie des Landes wiederherzustellen, den Lebensstandard der Bevölkerung zu heben, die politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit Russlands zu verteidigen. Diese Ziele schaffen die Möglichkeit eines festen und, so glaube ich, dauerhaften Bündnisses der Arbeiterbewegung mit den Unternehmern, die sich in der wirklichen Ökonomie Russlands engagieren. Und der natürliche Führer dieses Bündnisses ist nach meiner Auffassung Juri Lushkow."29


Die spezifischen Interessen der Gewerkschaftsführer

Warum dieses hartnäckige Festhalten an einer offensichtlich gescheiterten Strategie? Die "Partnerschaft" kann als Antwort auf die Schwäche betrachtet werden. Die Gewerkschaftsführer lehnen Strategien, die auf Unabhängigkeit basieren ab, weil sie nicht glauben, dass sie das Kräfteverhältnis durch die Mobilisierung ihrer Mitglieder ändern können, die passiv und furchtsam sind und denen es an Vertrauen in ihre Fähigkeit, die Dinge zu ändern, mangelt. Die Basis ist demoralisiert, aber dieses Argument ignoriert die Rolle der "Partnerschaft" bei der Verstärkung dieser Demoralisierung. Es ist extrem selten, dass Gewerkschaftsführer einen ernsthafte und nachhaltige Anstrengung unternehmen, unter den einfachen Mitgliedern eine Grundlage für unabhängige Aktionen zu schaffen. Aber es gibt Beispiele, die zeigen, dass dies zwar schwierig, doch auch unter den gegenwärtigen Bedingungen möglich ist.
Der entscheidende Grund für die Attraktivität der "Partnerschaft" ist, dass sie eine weniger riskante (und sicher weniger mühselige) Strategie vom Standpunkt der persönlichen Interessen der Führer ist. Aus ihrer Sicht funktioniert die "Partnerschaft". Unter Bedingungen von Armut, Erwerbslosigkeit und Gesetzlosigkeit verspricht die Konfrontation mit dem Management wenig persönliche Belohnung, aber beinhaltet ein großes Risiko. Die Manager verfügen über viele Möglichkeiten, die Gewerkschaftsführer nicht nur aus der Gewerkschaft, sondern auch aus der Fabrik zu treiben. Viele von ihnen sind Ingenieure, die nach Jahren gewerkschaftlicher Tätigkeit ihre berufliche Qualifikation eingebüßt haben und Schwierigkeiten hätten, anderswo einen adäquaten Job zu finden.
Andererseits bietet ein kooperatives Verhältnis zum Management eine beträchtliche Belohnung. Außer bei dem unwahrscheinlichen Fall einer spontanen Mobilisierung sichert die Unterstützung seitens der Betriebsleitung die Wiederwahl. Es ist auch nicht unüblich, dass Gewerkschaftsführer in Positionen des Spitzenmanagements aufsteigen. Der frühere nationale Führer der ASM-Gewerkschaft ist jetzt ein stellvertretender Fabrikdirektor. Neben diesen Karrieremöglichkeiten kann das Management verschiedene materielle Vorteile bieten, und direkte Korruption von Gewerkschaftsführern ist auch nicht unbekannt.
Um mit der "Partnerschaft" zu brechen, müsste ein Gewerkschaftsführer außerordentlich kühn, engagiert und prinzipienfest sein und außerdem noch gute Qualifikationen für den Arbeitsmarkt aufweisen. Oder er müsste auf der Grundlage einer mehr oder weniger spontanen Mobilisierung seitens der Basis gewählt worden sein; es hilft auch, wenn der Betrieb floriert. Doch beides ist heute in Russland selten.


Mangelnde Solidarität

Gewerkschaftsunabhängigkeit und Arbeitersolidarität sind eng verknüpft. Die Arbeiterinnen und Arbeiter bilden Gewerkschaften, weil sie sich kollektiv gegenüber dem Management in einer besseren Verhandlungsposition befinden. Die Solidarität ist somit nicht bloß ein Ideal, sondern das Wesen der Arbeiterbewegung. Aber wenn sich Gewerkschaften der "Partnerschaft" verschreiben, haben sie die Tendenz, die Solidarität auf den Betrieb zu beschränken und die elementarsten Interessen der Arbeitenden mit dem Wohlergehen "ihres" Betriebs zu verbinden. So wie der Kapitalismus funktioniert, bringt dies die Beschäftigten eines Unternehmens in Konkurrenz mit den Beschäftigten anderswo. Aus demselben Grund haben nationale Gewerkschaften, die sich der "Partnerschaft" verschrieben haben, Probleme eine wirksame Strategie zu entwickeln, denn die Verfolgung größerer gemeinsamer Ziele erfordert gewöhnlich die Opferung kurzfristiger, lokaler Interessen.
Die "Partnerschaft" lenkt auch die Aufmerksamkeit der Arbeitenden und ihre Energie von umfassenderen gemeinsamen Interessen ab. In einer Gesellschaft, die auf tausenderlei Weise den Individualismus fördert, müssen die meisten Arbeiter die Bedeutung der Solidarität erst durch die Beteiligung im Kampf lernen, wenn die Solidarität ihr fundamentales Hilfsmittel ist. Aber Gewerkschaften, die sich für die "Partnerschaft" entscheiden, bemühen sich die Konfrontation zu vermeiden. Sie versuchen die Probleme ohne die Einbeziehung der Mitgliedschaft zu lösen, durch Beratungen mit dem Management in der ruhigen Atmosphäre eines Büros. Sie betrachten das Kräfteverhältnis nicht als bedeutenden Faktor.
Der relativ geringe Rückgang des gewerkschaftlichen Organisationsgrads in Russland ist kein Zeichen für die Stärke der Gewerkschaften. Es ist ein Vermächtnis der Vergangenheit, dass weder die Unternehmer noch der Staat momentan ein Interesse haben zu verändern. Die Gewerkschaften werden nicht als Bedrohung betrachtet. Im Gegenteil, sie können als "Puffer" dienen, indem sie Protest abzuschwächen helfen oder in wenig bedrohliche Kanäle umleiten. Und dies ist die Rolle, in der die meisten Gewerkschaftsführer sich selbst sehen.
Die hohen Mitgliederzahlen der Gewerkschaften drücken sich nicht in machtvolle Gewerkschaften aus, weil die nationale ASM-Gewerkschaft (und darüber hinaus die FNPR) ihre lokalen Organisationen nicht vereinen und ihren Widerstand koordinieren kann - und dies zu einer Zeit, in der isolierte Aktionen lokaler Gewerkschaften selten effektiv sein können. Manche haben harte und lang dauernde Streiks geführt, gewöhnlich ausgelöst durch über viele Monate angehäufte Lohnrückstände. Die Streiks brachten manchmal eine teilweise Erleichterung und resultierten sogar im Sturz von Direktoren, doch die Lage verschlechterte sich bald erneut. Außerdem beruhten die begrenzten Erfolge mehr auf zivilem Ungehorsam, der Druck auf die politischen Behörden ausübte, und nicht so sehr auf direktem wirtschaftlichen Druck auf das Management.
Die radikale Dezentralisierung der Macht in der Gewerkschaft war wahrscheinlich unvermeidlich und wäre zweifellos auch heilsam gewesen, wenn die lokalen Gewerkschaften bereit gewesen wären, zumindest ein Mindestmaß von Macht und finanziellen Ressourcen auf die nationale Gewerkschaft zu übertragen. Die nationale Satzung bindet die lokalen Gewerkschaften an die Entscheidungen höherer gewählter Instanzen, doch in der Praxis können die lokalen Gewerkschaften tun, was ihnen beliebt. Ein Mangel an Disziplin und das Versäumnis, Gelder an die nationale Leitung zu überweisen, sind ständige Themen auf Kongressen und Plenartagungen des Zentralkomitees der Gewerkschaft. Aber es ändert sich nichts.


Jedes "Kollektiv" für sich?

Der Anteil der nationalen Gewerkschaft an den Einnahmen durch Beiträge beträgt bloß 4% (2,6% vor Februar 1997), aber in der Praxis erhält die nationale Gewerkschaft weniger als 2%.30 Im Vergleich dazu gehen fast 60% des Beitragsaufkommens in der kanadischen Automobilarbeitergewerkschaft an die nationale Organisation oder an von ihr verwaltete landesweite Fonds und Programme. In diesem Fall ist die Verteilung der Beitragseinnahmen ein grober Maßstab für den relativen Grad der Solidarität.
Die Armut ist ein großes Problem, aber selbst lokale Gewerkschaften, die noch über Geld verfügen, nachdem sie die gewählten Fulltimer und ihre laufenden Ausgaben bezahlt haben, geben typischerweise den Rest größtenteils (bis zur Hälfte der Beitragseinnahmen) für "materielle Unterstützung" von Mitgliedern in Not zur Bezahlung von Arzneimitteln, Operationen, Beerdigungen, Hochzeiten usw. aus sowie für sozkultbyt, den sozial-kulturellen Fonds: Ausgaben für soziale, kulturelle und sportliche Aktivitäten für Mitglieder und ihre Familien. Sogar eine relativ wohlhabende Gewerkschaft, wie die der Automobilfabrik GAS, beklagt ihre Armut und führt ihren Anteil nicht vollständig an die nationale Organisation ab. Man kann gewiss mit dem Wunsch sympathisieren, verarmte Mitglieder zu unterstützen und die Schläge abzufedern, die den Werktätigen durch die Kürzungen bei den Sozialausgaben zugefügt werden. Doch dieses kurzsichtige Herangehen bietet eine sehr maßvolle und kurzfristige Unterstützung für nur einen sehr kleinen Teil der Mitgliedschaft. Es stärkt das Ansehen und die Macht der lokalen Führer, aber es untergräbt die Fähigkeit der Gewerkschaften, die den Leiden ihrer Mitglieder zugrunde liegenden Ursachen anzugehen.
Auch wenn nur geringer finanzieller Aufwand im Spiel ist, ignorieren die lokalen Gewerkschaften oft schlichtweg das nationale Büro, bspw. wenn sie keine Berichte einsenden, nicht auf Informationsanfragen antworten usw. Das Zentralkomitee stellte im April 1999 fest, dass nur etwa ein Drittel der lokalen und regionalen Organisationen auf Informationsanfragen antwortet. Viele schicken nicht einmal Kopien der Betriebsvereinbarungen, obwohl dies die Gewerkschaftsstatuten verlangen.31 Die Monatszeitung der nationalen Gewerkschaft hat nur eine Auflage von 4000 Exemplaren, da die lokalen Gewerkschaften sie nicht finanzieren wollen.
Die nationale Gewerkschaft hat ihren Stab von 26 Personen (1992) auf 11 reduziert und ihre Dienstreisen stark eingeschränkt. Die Rhythmus der Sitzungen des Zentralkomitees, des höchsten Gremiums zwischen den Kongressen, ist um mehr als die Hälfte gekürzt worden. Die nationale Gewerkschaft kann nicht einmal einen symbolischen Streikfonds schaffen oder den lokalen Gewerkschaften Dienste wie Forschung, Rechtsberatung und Schulung anbieten. Das Resultat ist ein Teufelskreis: das nationale Büro kann keine Dienste anbieten, und die lokalen Gewerkschaften argumentieren, dass es erst einmal seinen Nutzen beweisen soll, bevor sie ihm mehr Geld geben.
Natürlich ist dieses Argument nicht ganz unbegründet, da die nationale Führung auch gemessen an ihren geringen Ressourcen schwach ist. Der Kopf des Regionalrats von Jaroslawl, dessen vier lokale Gewerkschaften begonnen haben, sich von der "Partnerschaft" zu lösen, beklagt sich: "Das Zentralkomitee hat uns kritisiert, weil wir unseren Anteil an den Mitgliedsbeiträgen nicht überweisen. Aber wir haben kein Geld. Unsere Fabriken schulden der Regierung auf allen Ebenen Geld, und ihre Konten sind eingefroren. Welche Beschwerden haben wir gegenüber dem Zentralkomitee? Seine Arbeit ist schwach. Jede Fabrik schmort in ihrem eigenen Saft. Es gibt keine kritische Analyse der Strategie der FNPR, keine Diskussion der Zukunft unserer Branche. Das Zentralkomitee hat kein Wirtschaftsprogramm. Könnte [der Vorsitzende] Abramow mehr tun? Nun, er hat kein Geld, so dass selbst ein Seminar oder eine Sitzung des Zentralkomitees schwer zu organisieren ist. Wir bezahlen selbst den größten Teil unserer Ausgaben, wenn wir zu Plenartagungen fahren. Aber er könnte mehr tun, um die Gewerkschaft zu vereinen, zumindest die Organisationen in den zentralen Regionen um Moskau. Das Problem ist, dass sie Versöhnler sind." Angesichts der geringen Kritik, die auf Tagungen des Zentralkomitees an der nationalen Führung geübt wird, ist anzunehmen, dass eine schwache nationale Führung den meisten Delegierten, die hauptsächlich aus lokalen und regionalen Vorstandsmitgliedern bestehen, gerade recht ist.
Die Schwäche der nationalen Gewerkschaft und der Mangel an Solidarität finden ihren klarsten Ausdruck in dem Branchentarifabkommen, das die minimalen Standards für lokale Vereinbarungen setzen soll. Ursprünglich gab es zwei Positionen in Bezug auf seine Rolle. Manche wollten, dass es bindend sei oder dass die Gewerkschaft es zumindest so behandelt. Andere gaben ihm nur einen empfehlenden Charakter - angesichts der sehr ungleichen wirtschaftlichen Bedingungen, die das Minimum für manche Unternehmen unerreichbar machten, für andere aber zu gering, um irgendeine Bedeutung zu haben. Die zweite Position setzte sich durch, ein Zeichen dafür, welch geringen Stellenwert die meisten lokalen Gewerkschaften der Solidarität zuweisen. Selbstverständlich verweigern die Unternehmer ein bindendes Abkommen, aber wenn eine nationale Gewerkschaft in dieser Frage prinzipiell nachgibt, leugnet sie ihre grundlegende Rolle bei der Schaffung einer vereinten, solidarischen Bewegung. (In der Ukraine und in Weißrussland versuchen die ASM-Gewerkschaften zumindest das Tarifabkommen durchzusetzen.) Die Tatsache, dass nur sehr wenige lokale Organisationen sich auch nur die Mühe machen Vorschläge für Tarifverhandlungen zu machen oder Kommentare zu Entwürfen von Vereinbarungen abzugeben, zeigt, wie gering ihr Interesse daran ist.32
Die geringe Rolle von Tarifvereinbarungen bedeutet, dass kollektive Aktionen, zumindest wenn sie nicht gegen die Regierung gerichtet sind, fast immer isoliert von den lokalen Gewerkschaften durchgeführt werden. Sogar symbolische Gesten der Unterstützung seitens anderer lokaler Gewerkschaften sind sehr selten. Die meisten Arbeiter wissen wahrscheinlich nicht einmal, dass sie einer nationalen Gewerkschaft angehören.
Derselbe Mangel an Einheit zeigt sich auch in den politischen Aktionen der Gewerkschaft, obwohl diese oft mit die gesamte Branche und oft sogar die ganze Klasse betreffenden Forderungen durchgeführt werden. Das Zentralkomitee unterstützt stets die nationalen Protestaktionen der FNPR, überlässt aber die Entscheidung über die Form der Beteiligung den lokalen Gewerkschaften, selbst wenn die FNPR ausdrücklich zum Streik aufruft. In der Praxis führt das dazu, dass keine Stellung bezogen wird, da die lokalen Gewerkschaften einfach entscheiden können, eine Versammlung in der Mittagspause abzuhalten. Man könnte einwenden, dass es ja nur demokratisch ist, jede Belegschaft entscheiden zu lassen, ob sie streiken. Aber dies sollte die nationale Gewerkschaft nicht davon abhalten, eine Empfehlung zu geben und die lokalen Gewerkschaften zu überzeugen, Solidarität zu zeigen.
Ein Teil des Problems ist eine berechtigte Skepsis gegenüber der Wirksamkeit der FNPR-Proteste, die zu rituellen Aktionen verkommen sind, um Dampf abzulassen. Doch der Hauptgrund ist, dass sich die Gewerkschaften in den Betrieben, die mehr oder weniger funktionieren, weigern zu streiken (wie lange noch?), und die meisten Mitglieder des Zentralkomitees denken, dass das auch so sein sollte.
Es ist deshalb etwas übertrieben, von einer nationalen Gewerkschaft zu sprechen. Es ist in Wirklichkeit nur wenig mehr als ein Treffpunkt für die lokalen Führer und ein Büro für die Ausgabe und Sammlung von Informationen. Sie repräsentiert zwar die Mitgliedsgewerkschaften auf internationalen Foren und in der FNPR und betreibt gegenüber der Regierung eine Lobbyarbeit für sie, aber es gibt keine nationale Strategie und keine koordinierte Aktion.
Auf der Ebene der Fabriken liegen die Dinge nicht viel besser, wo eine Werkhalle wegen nicht ausgezahlter Löhne oder drohenden Arbeitsplatzabbaus streiken kann und nicht einmal symbolische Unterstützung vom Rest des Werks erhält, einschließlich des Fabrikkomitees. Andererseits kann sich eine Teilbelegschaft aus einer den ganzen Betrieb umfassenden Aktion um den Lohn ausklinken, wenn sie erst einmal ihr Geld bekommen hat, während die anderen mit leeren Händen dastehen.
In großen Fabriken haben die Beschäftigten nur eine sehr vage Vorstellung vom Fabrikkomitee und keinen direkten Kontakt mit ihm. Die Werkstätten ignorieren oft das Ersuchen des Fabrikkomitees für Vorschläge beim Erstellen von Entwürfen für Betriebsvereinbarungen. Der Lohn für dieselbe Art kann von Abteilung zu Abteilung und sogar innerhalb einer Abteilung beträchtlich variieren - dank eines Lohnsystems, das dem Management ein beträchtliches Ausmaß an Willkür überlässt.
Man kann die geringe Solidarität nicht vollständig den Führungen anlasten. Einerseits hat, wie wir gezeigt haben, die Neigung der Führer zur "Partnerschaft" selbst objektive Ursachen. Die Armut und unsichere Lage der Beschäftigten bewirkt, dass diese individuelle Überlebensstrategien verfolgen. Aber entscheidend ist, dass die Gewerkschaftsführung eine Politik verficht, die diese Tendenz verstärkt anstatt sie zu bekämpfen.


Dezentralisierung ohne Demokratie

Das Ende der Partei- und Staatskontrolle und die Dezentralisierung der Macht innerhalb der Gewerkschaften waren notwendige Bedingungen für die Gewerkschaftsdemokratie. Doch von dieser Änderung haben hauptsächlich die Vorsitzenden in den Betrieben profitiert. Die regionalen und zentralen Komitees sind nun ihnen verantwortlich. Doch die Gewerkschaftsführer selbst sind gegenüber der Mitgliedschaft, deren Grad der Beteiligung an der Entscheidungsfindung minimal bleibt, nicht wirklich rechenschaftspflichtig.
Gewerkschaftsführer beklagen sich häufig über die Gleichgültigkeit und Passivität der Basis, ihre "Konsumentenhaltung" gegenüber der Gewerkschaft. Auf einem Gewerkschaftsseminar dichtete eine als militant geltende lokale Gewerkschaftschefin ein Gedicht, das die Gewerkschaftsbasis mit vernachlässigten Schweinen verglich, die sofort den Gedanken an Rebellion fallen ließen, sobald ihnen der Bauer etwas zu fressen gab.
Während eine solche Verachtung schockieren mag und gewiss nicht gerechtfertigt ist, ist die Passivität der Basis ein wirkliches Hindernis für die Gewerkschaftsdemokratie, die wenigstens eine bedeutende Minderheit von aktiven Mitgliedern erfordert. Es ist eine Tatsache, dass Arbeiter oft monatelang ohne Lohnauszahlung gearbeitet haben, bevor sie zu Aktionen schritten. Sie akzeptieren die Arbeit in ungeheizten Werkhallen im Winter bei Minustemperaturen. Sie tolerieren die kleinliche Tyrannei von Verwaltern, wenngleich sie sie mit relativ geringem Risiko verjagen könnten. Ineffektive, unterwürfige Gewerkschaftsführer haben im Allgemeinen keine Schwierigkeiten wiedergewählt zu werden, denn "es gibt ja keine Alternative", d.h. keine glaubwürdigen, alternativen Führer, die bereit sind, sich zur Wahl zu stellen.
Armut, Unsicherheit und das zunehmende Alter der Arbeitskräfte bedeuten, dass die Beschäftigten weniger Zeit, Energie und Neigung haben, für kollektive Ziele zu arbeiten. Die Leute sind zu ehrenamtlicher Tätigkeit nicht bereit, und die Gewerkschaften können ihre Sekretäre kaum bezahlen. Aber wichtiger sind die psychologischen Folgen der wirtschaftlichen Depression und der sich anhäufenden Niederlagen. Zynismus und ein Gefühl von Ohnmacht sind weit verbreitet. Das Gefühl für Würde, das für die Mobilisierung von Arbeiterinnen und Arbeitern stets von entscheidender Bedeutung ist, ist schwach entwickelt.
Aber dies ist nur eine Seite des Bildes. Das Folgende sind typische Äußerungen seitens der Basis: "Ich weiß nichts von dem, was das Fabrikkomitee tut. Es gibt einmal im Jahr Versammlungen. Der Vorsitzende spricht nicht mit einfachen Arbeitern. Vielleicht meint er, das ist unter seiner Würde. Oder er hat Angst." "Die Führer bleiben unter sich. Praktisch haben sie ihre eigene Organisation, getrennt von unserer. Ihre Wege kreuzen sich nur, wenn es darum geht, Beiträge zu zahlen." Von den objektiven Umständen abgesehen fördert die "Partnerschaft" eine Praxis, die Passivität und Gleichgültigkeit fördert. Selbstverständlich rechtfertigen die Führer ihre Strategie mit der Passivität der Arbeiter: ein Führer, der versucht, sich mit dem Management anzulegen, würde allein dastehen und niedergemacht werden. Da ist es schon besser, auf der guten Seite des Direktors zu stehen, damit dieser "seinen guten Willen" demonstrieren kann. Die "Partnerschaft" erfordert keine aktive Basis, weil sie keinen Zwang erfordert. Probleme werden durch rationale und moralische Überzeugung und gegenseitige Zugeständnisse gelöst.
Diese Logik kann Gewerkschaftsführer dazu führen, aktiv Aktivitäten der Basis abzuwiegeln, denn die Trumpfkarte der Gewerkschaft ist ihr Wert für das Management, als "Puffer" zu fungieren, so dass sie die Belegschaft unter Kontrolle hält. "Gott sei Dank", sagte der Gewerkschaftschef der SIL-Lkw-Fabrik, "dass wir eine soziale Explosion vermieden haben." Er war voll des Lobes für die Geduld der Arbeiter, trotz massiver Arbeitsplatzverluste und Monate ohne Lohnzahlungen. Und die Gewerkschaftsvorsitzende, die ihre Mitglieder mit Schweinen verglichen hatte, hatte den Morgen vorher damit verbracht, sie davon abzubringen, einen "wilden" (aber legalen) Streik wegen nicht gezahlter Löhne zu führen. Selbst wenn solche Führer kollektive Aktionen organisieren, so weniger um das Management zu zwingen, sondern mehr um seine "Aufmerksamkeit zu erregen" und den Arbeitern die Möglichkeit zu geben, Dampf abzulassen.
So sieht auch die Führung der FNPR ihre halbjährlichen Protestaktionen. Im Vorfeld der Aktionstage im November 1997 veröffentlichte ihre Zeitung einen Leitartikel, in dem der rituelle Charakter der Proteste zugegeben wurde: die Arbeitenden kommen heraus; die Regierung verspricht etwas zu tun; nichts ändert sich. Nennt uns naiv, so weiter der Artikel, aber hättet ihr lieber verzweifelte Arbeiter, die Straßen blockieren und Züge zum Stehen bringen (dies war im Monat vorher geschehen)? Wir, zumindest, tun unsere Pflicht und versuchen "den brüchigen sozialen Frieden in unserem zur Hälfte ruinierten Land zu retten".33 Überraschend ist nicht, dass die meisten Arbeiterinnen und Arbeiter den Aufrufen der FNPR zur Aktion nicht Folge leisten, sondern dass zehntausende dies immer noch tun! Das zeugt von einem wirklichen Mobilisierungspotenzial.
Auch wenn die Ideologie der "Partnerschaft" nicht unmittelbar Korruption bedeutet, so versetzt sie doch die Gewerkschaftsführer in eine zweideutige Lage, die nur dazu beitragen kann, sie in den Augen der Mitglieder zu kompromittieren. In einer Fabrik, in der eine dissidente Gruppe geplant hatte, für die Wahlen eine alternative Liste aufzustellen, behauptete die Gewerkschaftssekretärin, dass sie nicht beunruhigt sei: "Wenn der Generaldirektor [bei der Gewerkschaftskonferenz] vorne sitzt, werden sie nicht aufmucken." Natürlich handelte es sich nach ihrer Auffassung um verantwortungslose, selbstsüchtige Unruhestifter, die nur das gute Verhältnis der Zusammenarbeit, das sie mit dem Management aufgebaut hatte, zerstören würden. Sie zögerte nicht, gegenüber einem Außenstehenden eine solche Erklärung abzugeben. Es handelt sich um eine Gewerkschafterin, die ihre Macht auf die Unterstützung durch die Betriebsleitung gründet, und nicht auf die Mitgliedschaft, deren Aktivitäten sie nur als Bedrohung empfinden kann.


Fehlendes Interesse an der Beteiligung der Basis

Die Gewerkschaftsbudgets bestätigen den geringen Stellenwert, der der Beteiligung der Basis gegeben wird. Information ist das Lebenselixier der Demokratie, doch es wird nur wenig getan, damit es zirkuliert. Die meisten Gewerkschaften produzieren nicht einmal einen Rundbrief oder ein gelegentliches Bulletin. Und es gibt nur wenig persönlichen Kontakt. Ein Arbeiter der Kirow-Werke äußerte über einen Gewerkschaftsführer: "Vom Büro ins Auto; aus dem Auto ins Büro - er erscheint nie in den Montagehallen." Die lokalen Gewerkschaften haben die Anzahl der Fulltimer für die Werkhallen drastisch gesenkt, und viele haben die untere Position der gewählten Gruppenführer ganz abgeschafft. Als Resultat rekrutieren sich die Vorsitzenden in den Werkhallen zunehmend aus den Büroangestellten oder gar aus dem Verwaltungspersonal, da deren Jobs flexibel genug sind, dass sie minimalen gewerkschaftlichen Pflichten während der Arbeitszeit nachkommen können. Aber von den Interessen der Arbeiter sind sie weit entfernt, sie hängen vom Management ab und sie haben wenig Engagement für die Gewerkschaft. Dies ist mehr eine Frage der Prioritäten als von Armut, angesichts der Summen, die für materielle Hilfe und für sozkultbyt ausgegeben werden. Außerdem sehen die Betriebsvereinbarungen nur wenig bezahlte Zeit für die gewählten Vertreter vor, doch "angesichts der Lage der Betriebe" tun die Gewerkschaften nichts dagegen.
Wenige Anstrengungen gelten der Schulung und Mobilisierung der Mitglieder und der Diskussion über Strategien. Gewerkschaftsfunktionäre verbringen die meiste Zeit mit Routineaufgaben. Der Vorsitzende in einer Werkhalle drückte es so aus: "Es gibt eine Menge Aufgaben. Wir lösen die Probleme der Arbeiter von der Wiege bis zum Grab. Wir kümmern uns um alles, einschließlich der Beerdigung. Zu den Hauptaufgaben gehört es, das Geld für all das aufzubringen. Im Ganzen ist es die Lösung der "kleinen" Probleme, die man dem Arbeitgeber nicht anvertrauen kann, denn der ist mit der Organisierung der Produktion beschäftigt. Diese Alltagsarbeit nimmt den größten Teil meiner Zeit in Anspruch."34
Die Führer konsultieren die Mitgliedschaft nur selten zu wichtigen Fragen wie niedrige und nicht gezahlte Löhne, Entlassungen, schlechter werdende Gesundheits- und Sicherheitsstandards. Ihr Herangehen beschränkt sich auf die Routine von Verwaltungstätigkeiten. Die Klagen des Managements über die "schwierigen objektiven Bedingungen" sind das Evangelium. Wenn die Direktion Entlassungen anordnet, beschränken sich die Gewerkschaftsführer darauf zu prüfen, dass Personen aus geschützen Kategorien (z.B. schwangere Frauen) nicht auf der Liste stehen und dass die entsprechenden Entschädigungen gezahlt werden. Die Angelegenheit wird nicht der Mitgliedschaft vorgelegt. Die Vorstellung, die Gewerkschaft könnte Widerstand dagegen leisten, kommt nicht auf, obwohl manche Kämpfe gezeigt haben, dass gewerkschaftliche Aktionen die Zahl der Entlassungen reduzieren können.
Verhandlungen über Betriebsvereinbarungen sind auch von Formalismus geprägt. Ein Gewerkschafter beschrieb das Verfahren: "Wir trafen uns mit dem Direktor. Er gab eine Anweisung aus, um eine gemeinsame Kommission mit der Gewerkschaft zu organisieren. Wir nahmen das Abkommen vom letzten Jahr als Grundlage. Wir schickten es in die einzelnen Abteilungen, um Vorschläge einzuholen. Sie sollten Versammlungen abhalten. Es gab nicht viele Vorschläge. Die Leute sind passiv. Dann hielten wir eine Konferenz des Arbeitskollektivs ab. Alle Manager und Spezialisten waren anwesend. Die Vereinbarung wurde einstimmig angenommen."35 Zwischen der Anwesenheit des Managements und der Passivität der Mitgliedschaft sah er keinen Zusammenhang.
Auf den höheren Ebenen sieht es mit der Demokratie nicht besser aus. Unter den Delegierten auf Kongressen oder im Zentralkomitee gibt es nahezu keine Basisaktivisten oder zumindest Funktionäre auf der Ebene der Fabrikabteilungen. Von den 80 Delegierten des Dritten Kongresses (1997) der ASM-Gewerkschaft waren 52 Gewerkschaftsvorsitzende oder -vizevorsitzende von Fabriken und 21 regionale Führungskräfte. Nur 16 waren Frauen, obwohl diese die Hälfte der Mitgliedschaft stellen. 71 hatten eine höhere Ausbildung, was zeigt, dass unter den Delegierten fast keine Arbeiterinnen und Arbeiter waren.36 Auf regionaler Ebene sieht es genauso aus.
Insgesamt kann man sagen, dass, obwohl es tatsächlich schwerwiegende objektive Grenzen gegenüber dem gibt, was eine Gewerkschaft tun kann, um ihre Mitglieder zu verteidigen, die meisten Gewerkschaftsführer, ob bewusst oder nicht, diese Grenzen eher verstärken als zu ihrer Überwindung beizutragen.


III. DIE SCHWÄCHEN ÜBERWINDEN

Dieser Abschnitt stellt drei Beispiele von Gewerkschaften dar, die Fortschritte bei der Überwindung der oben erörterten Schwächen gemacht haben. Sie liefern eine Vorstellung sowohl von den Möglichkeiten als auch von den Grenzen gewerkschaftlicher Aktion unter den gegenwärtigen Bedingungen. Diese Beispiele sind Ausnahmen, aber sie sind nicht einzigartig.


a) Die Traktorenmontageabteilung der Kirow-Werke

Diese Abteilung ist seit den Tagen der Perestroika der militante Kern der Kirow-Werke in St.Petersburg. Die Montagebänder, die eine große Anzahl von Arbeiterinnen und Arbeitern zusammenführen, die ähnliche Aufgaben ausführen, und sie in eine strategische Lage bringen, in der sie die ganze Fabrik lahmlegen können, waren die Hauptbrutstätte der Militanz im Maschinenbausektor, bevor die Wirtschaftskrise einsetzte.
Diese Abteilung hatte einen autoritativen informellen Führer, Alexander, 1990 Mitbegründer des Arbeiterkomitees der Kirow-Werke. Es agierte außerhalb des Rahmens der bürokratisierten Gewerkschaft und führte eine Reihe erfolgreicher Kampagnen, einschließlich der Umwandlung des Lohnsystems, das die Arbeitenden für die schlampige Organisierung der Produktion aufkommen ließ. Das Arbeiterkomitee brachte Jelzin in die Fabrik, als er ein Pariah war und als linker Gegner Gorbatschows galt. 1992 streikte die Abteilung erfolgreich um die Löhne und schickte zur selben Zeit einen von allen Arbeiterinnen und Arbeitern unterzeichneten Appell an den Obersten Sowjet, um Jelzins "Schocktherapie" zu stoppen. Dies geschah zu einer Zeit, als die meisten Arbeiter von diesem Anschlag noch gelähmt waren. Die Aktiven der Abteilung unternahmen mehrere vergebliche Versuche, eine breitere Oppositionsbewegung unter den Fabriken der Stadt und des ganzen Landes zu organisieren.
Angesichts rückläufiger Aktivitäten beschloss Alexander 1992 auszuloten, was im Rahmen der Gewerkschaft erreicht werden konnte, und wurde zum Vorsitzenden der Gewerkschaft in der Abteilung gewählt. Aber der Markt für Traktoren brach bald zusammen und die Arbeitskräfte schrumpften rasch. Angesichts geringer Unterstützung außerhalb seiner Abteilung und ausgelaugt von zehn Jahren ununterbrochener Aktivität beschloss Alexander enttäuscht nicht mehr zur Wiederwahl anzutreten. Doch er wartete immer noch darauf, wie der Gewerkschaftsvorsitzende der Fabrik reagieren würde. Immerhin war er der Führer der aktivsten Abteilung des Werks. Das Fabrikkomitee machte keine Versuche, ihn zum Bleiben zu überreden - sie waren froh, diesen "weißen Raben", wie er genannt wurde, loszuwerden.
Der einzige Kandidat, der bereit war, ihn zu ersetzen, war ein Büroangestellter. Es schien, dass nun alles zur "Normalität" zurückkehren würde, aber auf der Wahlversammlung machten die Arbeiterinnen und Arbeiter nicht mit. Sie schlugen die 47-jährige Swetlana vor, eine Bandarbeiterin. Sie wehrte heftig ab: "Ich habe Kinder, ich muss arbeiten. Wann soll ich Zeit für die Gewerkschaft haben?" (Die Stellung ist ehrenamtlich.) Doch die Jahre des gemeinsamen Kampfes hatten eine Tradition des Aktivismus geschaffen, und sie gab schließlich nach.
Nach einem gescheiterten Streik um Löhne - die Produktion der Abteilung stagnierte nahezu und das Fabrikkomitee ünterstützte den Streik nicht - machte sich Swetlana an die Arbeit, einen Kern von Aktiven zu entwickeln, "all jener, die noch nicht vollständig tot sind" (hauptsächlich Frauen, wie sich herausstellte). Sie führte eine Politik der totalen Transparenz ein - alle Diskussionen des Komitees werden direkt in der Werkhalle durchgeführt und sind für alle offen, alle wichtigen Entscheidungen werden von der Vollversammlung getroffen. Jeden Morgen vor Arbeitsbeginn besuchen Swetlana und die anderen Aktiven jeden Arbeitsplatz, sprechen mit den Kolleginnen und Kollegen, informieren sie und hören ihnen zu.
In vieler Hinsicht ist die Praxis des Komitees dieser Abteilung das Gegenteil derjenigen der traditionellen Gewerkschaften. Und sie führt ebenso oft zu Konfrontationen mit dem Fabrikkomitee wie mit dem Management. Das Gewerkschaftskomitee der Abteilung gründet seine Stärke auf der aktiven Beteiligung der Mitglieder und es ist sorgfältig auf seine Autonomie bedacht. Swetlana verweigert selbst eine Einladung zum Umtrunk mit dem Management wegen der Wirkung, die das auf die Beschäftigten haben könnte.
Das Abteilungskomitee bemüht sich die Beschäftigten aktiv für ihre kollektive Verteidigung einzubeziehen. Es stellt permanent Forderungen an das Management. Dies ist kein Aktivismus um seiner selbst willen. Die Gewerkschaft hat reale Erfolge erzielt in Fragen wie Arbeitsbedingungen, Löhne und Arbeitsplatzsicherheit, wo andere Gewerkschaften passiv bleiben und die "objektiven Bedingungen" anführen. Dies sind notwendigerweise kleine und unsichere Erfolge, aber sie haben die Bindung der Arbeiterinnen und Arbeiter an die Gewerkschaft in der Abteilung gefestigt und dem Management Furcht und Respekt in einem Maße eingeflößt, das über das zahlenmäßige oder ökonomische Gewicht der Abteilung im gesamten Werk hinausgeht.
Ein typischer Konflikt betraf die Temperatur in den Montagehallen, die seit einigen Jahren in den meisten russischen Fabriken um den Gefrierpunkt schwankt. Das Management sieht dies als eine unvermeidbare kostensparende Maßnahme, und die Beschäftigten akzeptieren es als eine Tatsache des Lebens, wenngleich sie sagen, dass sie nach der Arbeit mehrere Stunden benötigen, bis sie sich wieder normal fühlen. In der Traktorenabteilung stellten die Arbeiter Stahlfässer auf, in denen sie Holz verbrannten, um sich von Zeit zu Zeit aufzuwärmen. Wegen der angeblichen Feuergefahr und der Verwendung von Fabrikeigentum als Brennstoff ordnete das Management die Entfernung der Fässer an. Die Beschäftigten schienen bereit, dies schweigend hinzunehmen, aber Swetlana konterte mit eigenen gewerkschaftlichen Forderungen, dass Temperatur und Beleuchtung den Gesundheits- und Sicherheitsnormen zu entsprechen hätten, dass das lecke Dach der Halle zu reparieren sei und dass die Betriebsleitung saubere Arbeitskleidung ausgeben solle. Alles Dinge, die den Vorschriften des Arbeitsgesetzes und/oder den Betriebsvereinbarungen entsprachen, aber vom Management ignoriert wurden. Der Abteilungschef weigerte sich sogar, den Forderungskatalog zu lesen, und bedrohte die Arbeiterinnen und Arbeiter mit Geldbußen, falls die Fässer nicht entfernt würden. Der Vorsitzende des Fabrikkomitees beschuldigte Swetlana erneut, unabhängig von der Gewerkschaft zu handeln, und drängte sie, ihm die Dinge mit dem Direktor gütlich regeln zu lassen. Doch er tat nichts. Angesichts der Weigerung der Arbeitenden, die Fässer zu entfernen, gab das Management nach. Es ließ auch das Dach reparieren und die Beleuchtung verbessern.
Diese Werkabteilung war auch die Hauptkraft im "Traktorenkrieg" von 1999. Die Gewerkschaft erfuhr aus einem Zeitungsartikel, dass die russische Regierung und US-amerikanische Unternehmen im Begriff waren, einen Vertrag zu unterzeichnen, nach dem die russische Landwirtschaft mit amerikanischer Ausrüstung im Wert von einer Milliarde US-Dollar versehen werden sollte und für weitere 7 Milliarden Dollar Wartungsstationen für die landwirtschaftlichen Maschinen vorgesehen waren. Dieses Geschäft wäre der letzte Nagel im Sarg der ganzen Branche gewesen. Sogar der Minister, der den Vertrag ausgehandelt hatte, gab zu, dass die Traktoren der Kirow-Werke fünfmal billiger waren, europäischen Standards entsprachen, an die russischen Bedingungen besser angepasst waren und bereits über ein Netzwerk von Einrichtungen zur Wartung verfügten.37 Doch die russischen Farmen sind blank und die Amerikaner boten Kredite… die die russische Regierung garantierte.
Der Druck der Abteilung zwang das Fabrikkomitee einen Aktionsplan zu entwerfen, zu dem Lobbyarbeit, eine Kampagne in den Medien, Demonstrationen und ziviler Ungehorsam gehörten. Es versuchte andere Fabriken für den Bau landwirtschaftlicher Maschinen einzubeziehen, aber deren Gewerkschaften gaben verschiedene Vorwände für ihre Weigerung. Keine fragte ihre Mitglieder nach ihrer Ansicht. Schließlich schaltete sich der Direktor der Kirow-Werke ein - eine Entwicklung, die einen mäßigenden Einfluss auf die Kampagne hatte. Der Aktionsplan sah eine Blockade vor dem Sitz des Gouverneurs (dem berühmten Smolny-Palast) mit einer Mobilisierung von Arbeitern und ihren Traktoren aus den Kirow-Werken während eines Besuchs des Ministerpräsidenten in St.Petersburg vor. Darüber beunruhigt war die Regierung einverstanden, den Landwirtschaftsminister in die Fabrik zu schicken.
Ohne Rücksprache zu halten, blies das Fabrikkomitee die Blockadeaktion am Vorabend des geplanten Termins ab. Als sich Swetlana weigerte, ihre Mitglieder zu demobilisieren, rief das Fabrikkomitee selbst die Kolleginnen und Kollegen zu Hause an, um die Aktion zu stoppen. "Wir brauchten eine Aktion", erklärte Swetlana, "ungeachtet der Versprechungen des Ministers. Die Arbeiter waren noch nie so einig - sogar aus den Ferien sind Leute gekommen; sie waren bereit zum Kampf. Sie wollten für sich sprechen, fühlen, dass sie Menschen sind, dass sie etwas bedeuten. Und die Gewerkschaft hat sie geknebelt und sie als Vogelscheuche benutzt." Nachdem der Minister sein Wort gegeben hatte, dass Traktoren vom Kirow-Typ aus dem Geschäft herausgehalten werden sollten und die Finanzierung eines Leasingprogramms für Kirow-Traktoren vorgesehen sei, stoppte das Fabrikkomitee die Kampagne. Die Traktorenproduktion ist seitdem in den Kirow-Werken wieder aufgenommen worden, doch die meisten Arbeiterinnen und Arbeiter haben das Gefühl, dass man sie mit einem Almosen abgespeist hat, um sie zum Schweigen zu bringen, während der Vertrag mit den US-Firmen geschlossen wurde und nichts wirklich geregelt ist.
Der Grenzen seiner isolierten Aktion deutlich bewusst ist das Komitee der Abteilung über die Fabrik hinaus aktiv. Es bringt regelmäßig 80% seiner Anhänger zu den Protestaktionen der
FNPR, eine bemerkenswerte Zahl heutzutage. Es gehört zu den wenigen Gewerkschaften in St.Petersburg, die das Protestcamp der Bergleute in Moskau 1998 aktiv unterstützt haben. Swetlana selbst hat sich bei allen linken Parteien umgesehen, um zu erfahren, was sie den Arbeiterinnen und Arbeitern zu bieten haben. Doch ihre Gewerkschaft der Traktorenabteilung der Kirow-Werke bleibt ziemlich isoliert, sogar innerhalb der eigenen Fabrik.


b) Die Gewerkschaft Jedinstwo in der Automobilfabrik WAS in Togliatti

Jedinstwo (Einheit) in der Autofabrik WAS in Togliatti ist die erfolgreichste der alternativen Gewerkschaften außerhalb des Kohlebergbau- und Verkehrssektors. Ihre Erfolge sind durch die wirtschaftliche Situation von WAS erleichtert worden: ein relativ starker Markt für ihre Pkw, der ihr ermöglicht hat, ihre ursprünglich 120000 Beschäftigten zu halten und ihnen relativ hohe Löhne zu zahlen. Die WAS-Aktiven waren sehr aktiv in der Bewegung für Selbstverwaltung (STK) zur Zeit der Perestroika, wenngleich keine sichtbare Spur davon übrig geblieben ist. (1992 traten die Führer der Bewegung einer mystischen Sekte bei.)
Jedinstwo entstand gegen Ende der aktiven Phase der Arbeiterbewegung während der Perestroika. Ihre Mitgliederzahl erreichte mit Hilfe einer Reihe von zumeist spontanen Teilstreiks, deren Führung Jedinstwo übernahm, bald 2000. Der letzte Streik fand 1994 beim wichtigsten Montageband wegen nicht ausgezahlter Löhne statt und traf auf einen besonders außergewöhnlich harten Widerstand des Managements, der in einer versteckten Aussperrung, Entlassungen und der vorübergehenden Stationierung von Sondereinsatzkommandos der Polizei in der Fabrik seinen Ausdruck fand. Danach und mit der zunehmenden wirtschaftlichen Depression kam das Wachstum der Gewerkschaft zum Stillstand. Kürzlich hat sie jedoch wieder einen Mitgliederzuwachs zu verzeichnen und umfasst jetzt etwa 3000 Kolleginnen und Kollegen.
Jedinstwo ist Objekt einer strengen (und illegalen) Diskriminierung seitens der Betriebsleitung, und ihre Mitglieder werden in wachsendem Maße verfolgt und schikaniert. Unter Missachtung eines Gerichtsbeschlusses weigert sich das Management, Jedinstwo zu den Verhandlungen für eine Betriebsvereinbarung zuzulassen, und wird dabei von der traditionellen Gewerkschaft unterstützt. Die Arbeiterinnen und Arbeiter, die Jedinstwo beitreten, sind daher gewöhnlich aktiv und engagiert. Während es auch in der traditionellen Gewerkschaft gute Aktivisten und einige militante Komitees in den einzelnen Abteilungen gibt, werden diese ständig durch die Handlungen des Fabrikkomitees untergraben, das dem Management gegenüber unterwürfig ist und ihm hilft, seine Forderungen an die Beschäftigten nach Zugeständnissen "zu verkaufen". Die Tatsache, dass der frühere langjährige Vorsitzende dieser Gewerkschaft jetzt Personaldirektor des Unternehmens ist, spricht für sich.
Die Korruption ist bei WAS besonders verbreitet und das Topmanagement war schon Gegenstand polizeilicher Ermittlungen. Das Unternehmen hat große Verluste durch Geschäfte mit Zwischengesellschaften erlitten, die vielfach durch Personal des Managements oder dessen Angehörige gegründet worden waren. Der Vorsitzende von Jedinstwo ist zweimal durch bewaffnete Anschläge schwer verwundet worden. Die Verbrechen wurden nicht aufgeklärt.
Das Grundprinzip der Praxis von Jedinstwo ist Unabhängigkeit bei der Verteidigung von Arbeiterinteressen. Jedinstwo führte den Widerstand gegen Versuche des Managements 1998 und 1999, die Anpassung der Löhne an den Preisindex abzuschaffen, die 1992 durch einen von Jedinstwo geführten Streik erkämpft worden war. Die traditionelle Gewerkschaft hatte bereits 1996 zugestimmt, die Lohnanpassung auf 72% zu reduzieren. Das Argument war immer dasselbe: die ernste finanzielle Situation der Fabrik, besonders ihre hohen Steuerschulden. 1998 hatte das Management erneut den Wunsch, die Lohnanpassung durch einen von der betrieblichen Leistung abhängigen Bonus zu ersetzen. Wie oben erwähnt wurde dieser Vorschlag von der Delegiertenkonferenz erst nach langem Hin und Her verabschiedet, nachdem das Management und die traditionelle Gewerkschaft unter anderem mit dem Abbau von Arbeitsplätzen gedroht hatten. Der Vorsitzende von Jedinstwo durfte auf der Konferenz nicht sprechen.
Jedinstwo argumentierte, dass die Beschäftigten in der Fabrik nichts zu sagen hätten und deshalb auch nicht für die schlechte Bilanz des Unternehmens aufkommen sollten. Die Lohnanpassung aufzugeben würde den Anreiz für das Management, den Betrieb gut zu führen, nur verringern. Jedinstwo verwies auf den nach wie vor starken Markt für Pkw, die hohen Gehälter der Manager und die durch die Korruption verursachten Verluste.
In krassem Gegensatz zur traditionellen Gewerkschaft funktioniert Jedinstwo auf offene und demokratische Weise. Sie hat nur einen Fulltimer, den Vizevorsitzenden, ein Arbeiter, der beim Streik von 1994 gefeuert worden war. Ein 10%-Votum der entsprechenden Basisgruppe kann jeden Funktionär abberufen. Die detaillierten Regeln für die zweimonatlichen Versammlungen des Fabrikkomitees werden per Anschlag und durch Flugblätter bekannt gemacht. Wenn Jedinstwo Mitglieder auswählt für die Teilnahme an Schulungsseminaren in anderen Städten oder im Ausland (organisiert von Organisationen wie TIE oder der "Schule für die Arbeiterdemokratie"), wird darüber abgestimmt und die Entscheidung und die Gründe dafür werden veröffentlicht. Wenn diese Personen zurückkommen, teilen sie ihre Erfahrungen anderen mit. Dagegen sprechen Leute, die von den traditionellen Gewerkschaften auf ähnliche Reisen geschickt werden, nach ihrer Rückkehr mit niemandem, denn ihre Kollegen betrachten (gewöhnlich zu Recht) solche Reisen als Vergnügungstouren, die die Führer ihren Lieblingen schenken. Das Budget von Jedinstwo ist auch vollständig verschieden von dem der traditionellen Gewerkschaft: 20% gehen an einen Streikfonds (die traditionelle Gewerkschaft hat keinen); 10% an den Dachverband Sozprof (die traditionelle Gewerkschaft gibt 2% an ihre nationale Organisation); und nur 20% werden für materielle Hilfe und Kultur- und Freizeitaktivitäten verwendet (bei der traditionellen Gewerkschaft die Hälfte des Budgets). Der Rest wird für die tägliche Verteidigung und Schulung der Mitglieder ausgegeben.
Die Funktionäre und Aktiven von Jedinstwo verbringen einen großen Teil ihrer Zeit mit Schulung, Agitation, Rekrutierung, Behandlung von Beschwerden und Verteidigung der Mitglieder gegen Schikanen. Sie gehen ständig gegen Verstöße gegen das Arbeitsgesetz und die Betriebsvereinbarungen vor. Ein wichtiger Teil der Arbeit ist die Informierung der Arbeiterinnen und Arbeiter über ihre Rechte, von denen sie meist nicht viel wissen, um ihnen zu zeigen, dass sie keine Willkürbehandlung hinnehmen müssen. Nachdem sich z.B. ein Jedinstwo-Aktivist geweigert hatte, sich einer Leibesvisitation am Fabriktor zu unterziehen, begann die Gewerkschaft eine Kampagne gegen diese illegale und entwürdigende Behandlung zu führen. Aber da Diebstahl ein reales Problem ist, war sie bereit, der Verwendung elektronischer Geräte zuzustimmen. In einem ihrer Flugblätter hieß es: "Warum sich die Mühe machen, moderne technologische Mittel für die Kontrolle der Ausgänge zu installieren, warum über die Rechte und die Würde des Pöbels nachdenken, wo es doch so viel einfacher ist, tausend ehrliche Arbeiter zu demütigen, um einen Dieb zu erwischen." Im heutigen Russland ist eine solche Sorge um die Menschenwürde sehr selten und von großer Bedeutung.
Wie die meisten der alternativen Gewerkschaften leidet auch Jedinstwo an einer Überbetonung der legalen Aktion. Der Vorsitzende besitzt eine juristische Ausbildung und ist ein Rechtsexperte. Doch sich auf die Gerichte zu stützen lässt die Mitglieder zu sehr außen vor und ist gewöhnlich nicht effektiv, selbst wenn der Fall gewonnen wird. In gewisser Weise wird diese Strategie von der allgemeinen Demobilisierung der Werktätigen diktiert, die auch Jedinstwo betrifft. Obwohl es der WAS-Fabrik relativ gut geht, versäumt es das Management nie, die Aufmerksamkeit der Beschäftigten auf die verheerende Lage anderswo hinzuweisen. Außerdem fürchten die Arbeitenden tatsächlich die Vergeltung der Betriebsleitung, wenn sie allzu forsch auftreten. Jedinstwo veröffentlicht ihre Aktionen vor Gericht jedoch ausführlich, so dass sie, abgesehen von den gewonnenen Verfahren, eine erzieherische Rolle spielen.
Die Mitgliedschaft von Jedinstwo ist nicht politisch homogen. Aber wie bei den anderen alternativen Gewerkschaften unterstützten die meisten ihrer führenden Leute Jelzin noch bis vor relativ kurzer Zeit. Jüngst sind sie zu Lebed umgeschwenkt. Der Vorsitzende äußerte dazu: "Das russische Volk ist nicht fähig, sich selbst zu verteidigen. Und es gibt auch die Tradition, dass das Volk seine Hoffnung in die Regierung setzt und von ihr erwartet, dass sie es verteidigt. Lebed verspricht einen starken Staat."38 Dies zeigt, dass sich eine Politik der Gewerkschaftsunabhängigkeit nicht notwendigerweise in eine Politik der Klassenunabhängigkeit umsetzt.
Die meisten Jedinstwo-Führer sind moderne Sozialdemokraten, die nicht glauben, dass der Sozialismus möglich ist. Doch gleichzeitig übt Jedinstwo Solidarität mit anderen Arbeitskämpfen - im Gegensatz zur traditionellen Gewerkschaft, deren Horizont kaum über die Fabriktore hinaus reicht (sie half allerdings, die erste und einzige Kirche in Togliatti nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zu finanzieren). Mit dem sinkenden Stern Lebeds kandidierte der Vorsitzende von Jedinstwo als unabhängiger Arbeiterkandidat bei den Parlamentswahlen im Dezember 1999 im Wahlkreis der Autofabrik und siegte mit 30% der Stimmen. Auf den zweiten Platz kam ein Unternehmer mit nur 9%.


c) Die Motorenbauer von Jaroslawl

Jaroslawl ist eine regionale Hauptstadt mit einer Bevölkerung von einer halben Million, vier Stunden von Moskau entfernt. Vor der Krise beschäftigten die vier Fabriken für den Bau von Dieselmotoren 55000 Arbeiterinnen und Arbeiter. Weniger als 40000 sind heute übrig geblieben, obwohl die Produktion drastischer gefallen ist, um über 70%.
Die Automobilarbeiter von Jaroslawl waren während der Perestroika aktiv. Die Jaroslawler Motorenfabrik, der größte Betrieb, war Schauplatz des ersten größeren Streiks des Zeitraums. Die ganze Fabrik streikte sieben Tage lang gegen die Samstagsarbeit (die gesetzliche Arbeitswoche betrug fünf Tage).39 1989 stürzten die Beschäftigten der Dieselfabrik ihren Direktor in einer großen Mobilisierung. Jaroslawl hatte die erste "Volksfront" - eine demokratische Bürgerbewegung - Russlands und war Gastgeber eines Kongresses der russischen Volksfronten. Arbeiterinnen und Arbeiter, die mit der Gleichgültigkeit der Volksfront gegenüber Arbeiterinteressen unzufrieden waren, bildeten ein kurzlebiges Arbeiterkomitee.
Doch wie in ganz Russland verfiel auch hier die Arbeiterbewegung in einen Zustand der Lethargie, als die Krise sich verschärfte und Jelzin an die Macht gelangte. Die Gewerkschaften in Jaroslawl und die meisten Werktätigen sahen passiv zu, als die "Schocktherapie" die Realeinkommen um zwei Drittel auffraß. Selbst als die Löhne anfingen auszubleiben, folgte darauf keine sofortige Reaktion - trotz der Bemühungen einiger Basisaktivisten.
Dies änderte sich 1995 mit der Streikbewegung in der Motorenfabrik von Tutajew, etwa eine Stunde außerhalb von Jaroslawl. Bei einer Bevölkerung von 49000 arbeiten 8400 in der Fabrik, und weil ihre Wohnungen unverkäuflich sind, sind sie quasi Gefangene der Stadt. 1995 waren Basisaktivisten in der Lage, die Beschäftigten wegen der Korruption der Manager sowie ausstehender Löhne zu mobilisieren (es ging um sechs Monatslöhne). Eine Delegiertenkonferenz wählte ein Streikkomitee, das in den folgenden zwei Jahren drei größere Streiks in der Fabrik durchführte, von denen einer sieben Wochen dauerte. Im Laufe dieser Streiks, zu denen auch Straßenblockaden gehörten, wurde das alte Gewerkschaftskomitee durch Leute ersetzt, die vom Streikkomitee gewählt waren, und an Stelle des Direktors trat ein Manager, der für die Beschäftigten akzeptabel war. In Bezug auf die Löhne gab es eine vorübergehende Besserung, doch das Problem trat bald erneut auf.
Die Stimmung änderte sich nach und nach auch in den anderen Fabriken. 1995 bildeten Basisaktivisten eine alternative Gewerkschaft in der Motorenfabrik. 1996 demonstrierten die Beschäftigten der vier Fabriken in Jaroslawl, streikten und führten Straßenblockaden wegen der nicht gezahlten Löhne durch. Die Streikkomitees, die auf den verschiedenen Ebenen der Fabriken gewählt worden waren, um die gemeinsamen Aktionen zu koordinieren, sind seitdem quasi zu ständigen Organen geworden, die gleichzeitig als mobilisierende Ergänzung zu den Gewerkschaftskomitees wie auch als organisierte Opposition fungieren - als Stachel im Fleisch der Gewerkschaften wie auch des Managements. Da die Jaroslawler Fabriken den geringsten Organisationsgrad im ganzen ASM-Sektor aufweisen (30-50% sind keine Gewerkschaftsmitglieder, wenngleich in jüngster Zeit der Trend wieder zu den Gewerkschaften geht), haben die Streikkomitees die zusätzliche Legitimität, Repräsentanten aller Beschäftigten zu sein. Die letzte Fabrik, die ein Streikkomitee gewählt hat, war die Motorenfabrik, deren Beschäftigten es relativ besser ging, da die Fabrik das Endprodukt herstellt, das sich leichter gegen Barzahlung verkaufen lässt.
Das Scheitern isolierter Streiks, die nur vorübergehend Erleichterung brachten, führte im Herbst 1996 zur Schaffung eines gemeinsamen Rats der Streikkomitees. Diese Initiative hatte die politische und praktische Unterstützung des Regionalkomitees der traditionellen Gewerkschaft, in dessen Büros sich der Rat trifft, und sogar der regionalen FNPR. Der Rat entwickelte einen Plan abgestufter Aktionen und Forderungen, die über das "Zahlt uns unsere Löhne" hinaus ging: Er forderte einen gemeinsamen Entwicklungsplan für die vier Fabriken und staatliche Kapitalinvestitionen, damit sie europäische Standards erreichen und so neue Märkte für ihre Motoren erschließen können.
Eine Reihe illegaler Demonstrationen und die Blockade der Wolgabrücke brachte den Gouverneur dazu, auf Moskau Druck auszuüben. Die Arbeiter bekamen, was sie wollten, zumindest auf dem Papier. Die Regierung in Moskau rückte von der gegebenen Verpflichtung, den Fabriken Investitionskredite zu gewähren, wieder ab, aber sie gewährte zumindest der Traktorenfabrik in Minsk (Weißrussland) Kredite für den Kauf von Motoren aus Jaroslawl. Die Regionalregierung ihrerseits hat angefangen, die Arbeiterinnen und Arbeiter zu fürchten und sie zu respektieren, während sie bislang ihre Interessen vollständig ignoriert hatte.
1998 standen die vier Fabriken im Zentrum der Schaffung eines regionalen Komitees zur Koordinierung kollektiver Aktionen. Vom Beispiel der Kohlebergleute in Moskau inspiriert errichteten sie ein Arbeitercamp als "Mahnwache" entlang der Jaroslawler Eisenbahnstrecke, wobei sie ständig die Eisenbahnverbindung aus nordöstlicher Richtung nach Moskau zu blockieren drohten.40 Im selben Monat rief das Regionalkomitee zu einer Konferenz von Vertretern der Betriebe in Russlands Zentralregionen auf, um einen Generalstreik vorzubereiten, der Jelzins sofortigen Rücktritt, eine Änderung der Sozial- und Wirtschaftspolitik und Verfassungsänderungen zur Beendigung des Absolutismus des Präsidenten und für eine demokratische Kontrolle der Regierung fordern sollte. Dieser Streik war sowohl von der
FNPR als auch von der KPRF für den 7.Oktober angesetzt worden, aber sie hatten sich mittlerweile der neuen "linken" Regierung angeschlossen, die Primakow nach dem Finanzkollaps vom August 1998 gebildet hatte. Das letztliche Ziel der Jaroslawler Arbeiter war ein "Ring der Wut", der von den Werktätigen der zentralen Regionen rund um Moskau gebildet werden sollte, so dass der gesamte Eisenbahnverkehr in die Hauptstadt unterbunden würde.
Am 7.Oktober blockierte eine riesige Demonstration das regionale Verwaltungsgebäude und zwang die Regionalregierung, die Forderungen der Arbeitenden nach Moskau weiterzuleiten. Die Demonstrierenden verabschiedeten eine Resolution, nach der sie die Bahnlinie am 8.Oktober für drei Stunden blockieren wollten, falls sie bis zum Morgen keine Antwort erhielten, und sie am 9.Oktober vollständig dicht machen wollten, wenn ihre Forderungen nicht erfüllt würden. Angesichts einer Einschüchterungskampagne der Medien und einer starken Polizeipräsenz kamen am 8.Oktober nur etwa 300 Werktätige zur Bahnstrecke, hauptsächlich Frauen aus Tutajew. Nach einem Appell des stellvertretenden Gouverneurs, nicht auf die Schienen zu gehen, stimmten die entschlossenen Arbeiterinnen und Arbeiter zu, es der Polizei zu erlauben, selbst für drei Stunden die Strecke zu blockieren. Die geringe Beteiligung an der Aktion in Jaroslawl (für die Resolution hatten 25000 gestimmt) und die Schwäche der Bewegung in den anderen Regionen schloss eine dauerhafte und vollständige Blockade aus.
Als Resultat ihrer Aktion zwangen die Arbeiterinnen und Arbeiter in Jaroslawl den liberalen Gouverneur und die regionale Legislative offiziell ihre Forderungen zu unterstützen. Dem koordinierenden Komitee wurden drei Vertreter mit beratender Stimme in der Regionalregierung zugestanden, und die Regierung errichtete eine Kommission mit gewerkschaftlicher Beteiligung, die ein regionales Antikrisenprogramm und ein Programm gegen die Nichtauszahlung der Löhne entwickeln sollte. Die Arbeiterbewegung war zur vorherrschenden politischen Kraft in der Region geworden.
Aber selbst in Jaroslawl war die Bewegung ungleichmäßig. Die Dinge sind in Russland insgesamt weit schlimmer. Trotz des massiven Charakters des nationalen Protests am 7.Oktober, ergaben sich für die Arbeiterinnen und Arbeiter daraus keine Resultate. Die KPRF benutzte die Hoffnungen der Leute für ihren Versuch, Jelzin abzusetzen, und versprach Massenmobilisierungen. Aber sie mobilisierte niemanden und die Angelegenheit ging praktisch unbemerkt vorüber, obwohl die Arbeiter der Motorenwerke von Jaroslawl eine Delegation nach Moskau geschickt hatten, um am Tag der Abstimmung vor der Duma eine Mahnwache abzuhalten.
Trotz der durch den Kollaps vom August 1998 hervorgerufenen weiteren Verarmung ist die Arbeiterbewegung in Russland, einschließlich in Jaroslawl, seit dem Höhepunkt dieses Sommers relativ ruhig geblieben. Ein Grund dafür ist die Abwertung des Rubels, die zwar die Reallöhne gesenkt hat, aber der heimischen Produktion einen neuen Schwung verlieh, so dass die Arbeiterinnen und Arbeiter zumindest regelmäßiger bezahlt werden. Ein weiteres Problem ist, dass die Kämpfe in Jaroslawl zum großen Teil von spontanen Mobilisierungen abhingen.
Die Gewerkschaften haben die Bedeutung der täglichen Verteidigung ihrer Mitglieder im Betrieb, die Bedeutung von Schulung und Information der Mitglieder und des persönlichen Kontakts mit ihnen zum Zweck der Festigung ihrer aktiven Basis und der Vertiefung des Engagements der Mitglieder noch nicht vollständig begriffen. Ein Teil dieses Problems ist die Armut, aber es ist auch eine Hinterlassenschaft der Vergangenheit.
Im Laufe des vergangenen Jahres haben die Gewerkschaften in Jaroslawl, und einige lokale Gewerkschaften in anderen Regionen, ihre Anstrengungen darauf verwandt, eine "Kontrolle" über das Management zu errichten, d.h. einen vollständigen Zugang zu Informationen und die Kontrolle über die finanziellen Transaktionen und den Güterverkehr zu erhalten. Dies ist auf hartnäckigen Widerstand des Managements gestoßen, aber es gibt Fortschritte, z.T. weil Eigentums- und Managementrechte ideologisch oder politisch in Russland nicht gesichert sind. Doch erstreckt sich die Kontrolle nicht auf die allgemeineren wirtschaftlichen und politischen Bedingungen, die die Hauptursache für die Nöte der Arbeitenden sind.


SCHLUSSFOLGERUNGEN

Diese Beispiele zeigen, was Gewerkschaften durch den Aufbau einer Mitgliederbasis und die Erlangung wirklicher Erfolge erreichen können. Aber sie beleuchten auch die durch ihre Isolation aufgeworfenen Grenzen. Sogar Gewerkschaften im Jaroslawler Motorenbau, die gelernt haben, ihre Kämpfe zu koordinieren (die geografische Nähe und die Produktion zusammengehörender Güter begünstigten dies), und die die ernsthaftesten Anstrengungen unternommen haben, Kontakt zu anderen Städten und Regionen aufzunehmen, bleiben ziemlich isoliert und können die fundamentaleren Verhältnisse, die die Lage ihrer Mitglieder bestimmen, nicht substanziell beeinflussen. Jedinstwo und die Montageabteilung für Traktoren bei den Kirow-Werken sind sogar innerhalb der eigenen Fabrik isoliert.
Alle gesunden Elemente der Arbeiterbewegung sind sich dieses Problems aufrichtig bewusst. Genau aus diesem Grund ist die "Mahnwache" der Bergleute im Sommer 199841, anfänglich eine gemäßigte und etwas bizarre Initiative (etwa 200 Bergleute brieten zwei Monate lang in der Sonne, ohne eine Antwort von der Regierung zu erhalten) ein so machtvoller Magnet für Aktivisten geworden. Die "Mahnwache" wurde von Delegationen lokaler Gewerkschaften aus ganz Russland sowie von einzelnen Aktivistinnen und Aktivisten besucht. Es versah die versprengten kämpferischen und unabhängigen Elemente der Arbeiterbewegung mit einem lang ersehnten Treffpunkt für den Austausch von Erfahrungen, für gegenseitige Hilfe und potenziell für praktische Koordinierung - ein Ort, den sie in den offiziellen Gewerkschaftsstrukturen nicht finden konnten. Letztere unterstützten in der Praxis diese wichtige Initiative nicht.
Aber 1998 waren die Bedingungen nicht reif. Die "Mahnwache" endete damit, dass einer langen Reihe von Verrat ein weiterer hinzugefügt wurde: die Führer der Bergleute (die alternative Unabhängige Bergleutegewerkschaft), die geschworen hatten, dass sie diesmal für die Interessen der gesamten Arbeiterklasse kämpften und von ihren politischen Forderungen nicht abkehren würden, lösten die "Mahnwache" als Gegenleistung für wirtschaftliche Zugeständnisse auf, die den anderen Branchen nichts einbrachten. Und dies nur einige Tage vor dem für den 7.Oktober geplanten Generalstreik.
Trotz des Verrats wird die Erfahrung der "Mahnwache" weitgehend positiv beurteilt. Es scheint, dass es eine langsame, mühselige Zunahme an Solidarität und eine wachsende Bereitschaft, sich dem Management entgegenzustellen, gibt. Der jüngste Polizeianschlag auf eine von Arbeitern (illegal) besetzte und verwaltete Papierfabrik hatte eine bisher in Russland nicht gekanntes Ausmaß an Unterstützung für die Arbeiter zur Folge. Aber ein wirklicher Aufschwung der Arbeiterbewegung, der fähig wäre, eine fühlbare Wirkung auf die Lage der Arbeiterinnen und Arbeiter Russlands zu haben, erfordert wahrscheinlich zumindest den Beginn einer wirtschaftlichen Erholung, obwohl diese an sich auch keine Garantie darstellt, wie die gegenwärtige Erfahrung in Nordamerika zeigt.

*David Mandel unterrichtet in Montréal an der Universität von Québec. Er ist Mitbegründer der "Schule für die Arbeiterdemokratie" (Schkola Trudowoi Demokratii), ein kanadisch-russisches Projekt der gewerkschaftlichen Bildung. Im Rahmen der SoZ Bibliothek erschien "Die Linke in Russland" (mit Poul Funder Larsen) als Beilage zur SoZ Nr.2, 1995.


Anmerkungen
1. Zitiert von W.Moshajew in: Nesawissimaja Gaseta, 11.November 1994.
2. W.Rutgaisen/J.Schewnjakow, "Raspredelenije po trudu", in: EKO, Nr.3, 1987.
3. Siehe D.Mandel, "A Market Without Thorns", in: Perestroika and the Soviet People, Montréal 1991, S.91-116.
4. S.Shenfield, "On the Threshold of Disaster: The Socio-Economic Situation in Russia", unveröffentlichter Bericht 1999 (FNPR-Webseite: <www.trud.org/
index7-4.htm>; Sowjetskaja Rossija, 4.November 1999 (Zahlen von der Staatsduma auf der Grundlage von Berichten des staatlichen Statistikkomitees [Goskomstat Rossii]).
5. Ekonomitscheskii almanach, Moskau 1997, S.97, 31; Informazija o sozialno-ekonomitscheskom poloshenii Rossii, Januar-April 1999, S.54.
6.Ekonomitscheskii almanach, Moskau 1997, S.11; Bank Austria E-W Report, Nr.1, 1999, S.22; Goskomstat Rossii <www.gks.ru/osnpok.htm>.
7. I.V.McKeehan, "Poverty or Alcoholism", David Johnsons Liste <davidjohnson@erols.com>, 18.August 1999.
8. S.Menshikov, "Russian Capitalism Today", in: Monthly Review, Juli-August 1999, S.82.
9.Financial Times, 21.August 1999.
10. S.Shenfield, a.a.O.
11. Ebd.
12. M.Feshbach, "A Comment on Recent Demographic Issues and a Forbidding Forecast", David Johnsons Liste <davidjohnson@erols.com>, 4.August 1999.
13. Financial Times, 29.August 1999.
14. Iswestija, 11.November 1999.
15. S.Menshikov, a.a.O., S.95.
16. "Bericht des Vizepräsidenten an die Elfte Plenartagung des Zentralkomitees der Gewerkschaft der ASM-Arbeiter", 15.April 1999, unveröffentlicht.
17. Laut dem größten Gewerkschaftsverband (Solidarnost, Nr.15, April 1999).
18. Golos Profsojusa, Nr.3, 1999, S.2; "Bericht des Präsidenten an den Dritten Kongress der Gewerkschaft der ASM-Arbeiter", Oktober 1997, unveröffentlicht.
19. Iswestija, 9.Juni 1999.
20. Russia Journal, Nr.31, 1999.
21. ASM-Cholding, Analititscheskii obsor, Januar-Oktober 1998, S.44-45.
22. Rossiiskii statistitscheskii jeshegodnik 1996g, Moskau 1996, S.84.
23. Wenn nicht anders gekennzeichnet beruht das Folgende zumeist auf direkten Beobachtungen, Interviews oder Diskussionen auf Gewerkschaftsseminaren.
24. Le Devoir (Montréal), 7.Oktober 1998; Informazija o sozialno- ekonomitscheskom poloshenii Rossii, Nr.4, 1999, S.60-61.
25. Golos Profsojusa, Nr.3, 1999, S.2, und Nr.2-3, 1998, S.4.
26. Golos, März-April 1996.
27. <www.trud.org/archive> (Webseite der FNPR).
28. Resolution der Gesamtrussischen Konferenz der Maschinenbauer: "Über gemeinsame Aktionen von Arbeitgebern und Gewerkschaften", 4.Juni 1997 (unveröffentlicht).
29. <www.trud.org/archive>.
30. Golos Profsojusa, Nr.2-3, 1998.
31. W.Goronkow, "Informationen über Branchentarifvereinbarungen 1998 und 1999 und der Stand der Arbeit an kollektiven Vereinbarungen", 16.März 1998 (unveröffentlicht); Golos Profsojusa, Nr.4, 1999, S.1.
32. Ebd.
33. Solidarnost, Oktober 1997.
34. B.Maximow, "Legko li byt liderom?", 1999 (unveröffentlicht).
35. Ebd.
36. Golos Profsojusa, Oktober 1997, S.1.
37. Kommersant, 23.Dezember 1998, S.8. Dies basiert auf Interviews mit S.Wassiljewa und auf B.Maximow, "Auf dem Schlachtfeldern des ‚Traktorenkriegs‘", 1999 (unveröffentlicht).
38. Bjulleten Schkoly Trudowoi Demokratii, Nr.11, 1999, S.20.
39. D.Mandel, a.a.O., S.26-29.
40. Einige Informationen über diese Ereignisse finden sich in Sowjetskaja Rossija vom 30.Juli und vom 3., 9., 19., 22. und 24.September 1998 sowie in Rabotschaja Politika, Nr.4, 1999.
41. Siehe Inprecor (Paris), Nr.427, September 1998.


zum Anfang