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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.10 vom 11.05.2000, Seite 2

Die Schamlosigkeit der Sklavenhalter

Kolumne: Jakob Moneta

Was die ehemalige Zwangsarbeiterin Rachel Grünbaum, die bei ihrer Befreiung durch die Briten ein nur noch 25 Kilo wiegendes menschliches Skelett war, im Stern (19.4.) berichtete, geht unter die Haut. Ihre Wut darüber, dass die Herren der Industrie über eine Entschädigung von Zwangsarbeitern, denen sie nie zuhörten, heute noch feilschen, wird erst wirklich verständlich, wenn man zugleich erfährt, dass
- die deutsche Reichswirtschaft während des Zweiten Weltkriegs mit rund 8 Millionen Zwangsarbeitern, auf heute hochgerechnet, knapp 60 Milliarden Gewinn machte.
- Nach dem Krieg legten die Industrieunternehmen ihre Gewinne in Grund und Sachkapital an, die den Grundstock für das "Wirtschaftswunder" bildeten.
- Ende der 50er Jahre zahlten Krupp und einige andere Unternehmen 10 Millionen Mark an jüdische KZ-Arbeiter als Wiedergutmachung. Die Zwangsarbeiter aus osteuropäischen Staaten gingen jedoch bis zur "Wiedervereinigung" leer aus.
- Weil die noch lebenden 1,2 Millionen Menschen (von 8 Millionen) mit Sammelklagen und Boykottaufrufen drohten, gründeten 1999 die 16 größten ehemaligen Zwangsarbeitgeber die Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft. Sie soll 5 Milliarden Mark für die Entschädigung der Zwangsarbeiter aufbringen. Bisher folgte jedoch nur jede 200.Firma dem schriftlichen Aufruf der Wirtschaftsverbände und sagte Zahlungen zu.
- Bisher kamen erst 2,4 Milliarden Mark zusammen. Noch 2000 Firmen müssen zahlen, wenn die Wirtschaft ihr Versprechen halten will.
- Der Gesamtumsatz des produzierenden Gewerbes in Deutschland betrug 1999 geschätzte 2,8 Billionen Mark.
Völlig aus dem Gedächtnis verdrängt werden die 70 Millionen Mark, die die DDR, mit nur einem Viertel der Einwohnerzahl von Westdeutschland, als Reparationsleistung für die ungeheuerlichen Schäden gezahlt hat, die von der Naziarmee nach dem Überfall auf die Sowjetunion angerichtet wurden. Die BRD konnte sich durch den Anschluss an den Kalten Krieg der westlichen Sieger gegen den Staat im Osten freikaufen, der unzweifelhaft die meisten Opfer im Kampf gegen Hitlers Eroberungswillen gebracht hatte.
Wenn aber deutsche Sklavenhalter noch 50 Jahre nach dem von ihnen angezettelten Weltkrieg, die Schamlosigkeit haben, sich vor Entschädigung an die noch überlebenden Menschen zu drücken, die sie durch Zwangsarbeit entmenschlichten, stellt sich die Frage nach ihrer Moral, nach ihren ethischen Maßstäben.
Können die Gewerkschaften, die sich auf ein Bündnis mit ihnen einlassen, sicher sein, dass ihre "Sozialpartner" nicht zu Wiederholungstätern werden? Im Fall einer bedrohlichen Krise könnten sie dann allerdings versuchen, ihre deutschen "Volksgenossen" ähnlich zu behandeln, wie sie mit der Zwangsarbeit umgehen.

Jakob Moneta


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