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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.10 vom 11.05.2000, Seite 5

Für Bewegungsfreiheit

Flüchtlingskongress beschließt Kampagne gegen die Residenzpflicht

Vom 20.April bis zum 1.Mai fand in Jena der erste von Flüchtlingen in Deutschland selbst organisierte Kongress "Gemeinsam gegen Abschiebung und soziale Ausgrenzung" statt. Initiiert und organisiert wurde er von der afrikanischen Flüchtlingsorganisation The Voice - Africa Forum, zusammen mit dem Bremer Menschenrechtsverein und der Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und MigrantInnen. Auf dem Kongress kamen Flüchtlinge aus über 40 Staaten zusammen, um sich über ihre gemeinsamen Probleme in der BRD - Rassismus, Abschiebungen und soziale Ausgrenzung - sowie die Situation in ihren Herkunftsländern auszutauschen. Der Kongress endete am Montag, dem 1.Mai, mit einer internationalen Demonstration.
Etwa 600 Teilnehmende zählten die Veranstalter; täglich nahmen durchschnittlich 200 bis 250 Menschen teil, von denen nach Angaben von The Voice die Hälfte Flüchtlinge waren. Sunny Omwenyeke, der Koordinator von The Voice in Niedersachsen, schätzt den Kongress als "sehr erfolgreich" ein, obwohl staatliche Stellen die Durchführung erschwerten. Aufgrund der Residenzpflicht konnte die Hälfte der Flüchtlinge nicht zum Kongress anreisen, schätzen die Veranstalter. Die Behörden hinderten viele Flüchtlinge an der Anreise, oder drohten ihnen an, eine Teilnahme könnte ihre Abschiebung beschleunigen. Das brandenburgische Innenministerium hatte seine Ausländerbehörden sogar angewiesen, die Teilnahme pauschal nicht zu gestatten.
Hagen Kopp von der Karawane-Gruppe Hanau, die den Kongress inhaltlich und organisatorisch mitvorbereitet hat, zeigte sich allerdings von der Zahl der Teilnehmenden enttäuscht. Besonders in den letzten Tagen sei die Fluktuation sehr hoch gewesen. Außer der Residenzpflicht waren seiner Ansicht nach auch organisatorische Schwächen dafür verantwortlich, dass die Beteiligung gegen Ende des Kongresses stark nachgelassen habe. Für Vorträge und und das Verlesen von Proklamationen sei in den ersten Tagen zuviel Raum gelassen worden. "Vielleicht hat das Leute abgeschreckt", vermutet Kopp, der auch kritisiert, dass es zuwenig Raum für Diskussionen gegeben habe. Folgerichtig brachte der Kongress auch keine größeren Konflikte oder inhaltliche Streitpunkte zutage. Allem Anschein nach sei die Dauer von 11 Tagen zu lang gewesen.
Die Residenzpflicht war das zentrale Thema des Kongresses, das über die ganzen elf Tage durch alle Themenblöcke hindurch behandelt wurde. Seit 1982 dürfen Flüchtlinge, die sich im Asylverfahren befinden, die Landkreise, in denen sie gemeldet sind, nur mit Zustimmung der Ausländerbehörde verlassen. Die sogenannte Residenzpflicht, die es innerhalb Europas nur in der BRD gibt, bezeichnet Omwenyeke als "politische Verfolgung": "Die Residenzpflicht ist eine Verletzung unseres Rechts auf Bewegungsfreiheit." Der Kongress hat daher eine Kampagne für die Abschaffung der Residenzpflicht ins Leben gerufen, die mit einer Unterschriftenaktion anfing und zum Tag der Wiedervereinigung am 3.Oktober mit umfangreichen Protestaktivitäten einen Höhepunkt finden soll.
Erste dezentrale Aktionen sollen bereits am 8.Juli stattfinden. Geplant sind Aktionen "zivilen Ungehorsams" vor allem vor afrikanischen Botschaften, Faxkampagnen und ein "Marsch auf Berlin". Zusätzlich ist geplant, einen "unmissverständlichen Brief an die deutsche Regierung in Berlin" zu schreiben, der die Aufhebung der Residenzpflicht fordert und darüber "informiert", dass die Karawane eine "friedliche, würdevolle, aber dennoch kräftige" Kampagne gegen die Residenzpflicht beginnt. "Überrascht" war Kopp von der starken Thematisierung der Residenzpflicht; ihm sei vorher nicht klar gewesen, dass das so ein wichtiges Thema werden würde. Vor allem The Voice und andere afrikanische Flüchtlingsorganisationen hätten dieses Thema in den Kongress getragen.
Der BRD wird eine besondere Rolle bei der Verschärfung der europäischen Politik gegenüber Flüchtlingen und MigrantInnen zugesprochen: Die deutsche Regierung führt den Kampf für ein Europa an, in dem die Grenzen für politische Flüchtlinge geschlossen werden, heißt es in der Resolution des Kongresses. Auch Omwenyeke sieht die BRD als treibende Kraft in der europäischen Migrations- und Asylpolitik: "Die geplante ‚Festung Europa‘, die wir immer angreifen, ist in Deutschland bereits Realität."
Deutschland versuche sogar, die Vorhaben von Ländern wie den Benelux-Staaten, Illegalisierten einen Aufenthaltsstatus zu verschaffen, zu verhindern und Regelungen wie die Residenzpflicht europaweit einzuführen, befürchtet Omwenyeke. Die Modelle zur Legalisierung von illegalisierten Flüchtlingen, die in anderen europäischen Ländern wie Frankreich, Spanien oder den Benelux-Staaten diskutiert werden, schätzt er "positiv" ein, in Deutschland sei es aber leider so, dass eine Legalisierung nicht auf der politischen Tagesordnung stehe. Im Gegenteil: "In Deutschland werden immer mehr Flüchtlinge kriminalisiert und illegalisiert."
An insgesamt zwei Tagen wurden die Möglichkeiten der Zusammenarbeit mit Gewerkschaften diskutiert. In einigen Ländern Europas, wie bspw. Portugal, sei die Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften schon weiter als in Deutschland, so Kopp: "Einzelne Gewerkschaften grenzen sich nicht mehr ab, sondern arbeiten mit Flüchtlingen zusammen, das ist in Deutschland ja leider anders."
Auch Omwenyeke sieht hier Handlungsbedarf. Außerdem müsse an einer besseren Zusammenarbeit mit anderen sozialen Bewegungen wie der Erwerbslosenbewegung gearbeitet werden. Augenblicklich gebe es fast nur von antifaschistischen und antirassistischen Gruppen Unterstützung. Als positives Beispiel einer Vernetzung der Kämpfe von Wohnungslosen, Illegalisierten und Erwerbslosen betrachtet Kopp die "Bewegung der Sans- Papier" in Frankreich.
Weiter beschlossen die TeilnehmerInnen des Kongresses, zum EU-Gipfel in Nizza zu mobilisieren und sich an einer geplanten Gegenkonferenz in Marseille zu beteiligen. Dort soll auch ein gemeinsames "Manifest für die Rechte der Flüchtlinge und MigrantInnen" vorgestellt werden, dessen erster Entwurf auf dem Kongress entwickelt wurde.

Patrick Hagen

Weitere, ausführliche Informationen zum Kongress finden sich im Internet unter: www.humanrights.de/congress. Hier finden sich Redebeiträge und Proklamationen in verschiedenen Sprachen.


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