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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.11 vom 25.05.2000, Seite 2

Wahl ohne Wähler

Kolumne: Jakob Moneta

Nur noch 56,7% der Wahlberechtigten unterzogen sich der Mühe, am 13.Mai in Nordrhein-Westfalen ihre Stimme abzugeben. "Das war ein einmaliger Tiefstand der Wahlbeteiligung in der Geschichte der Landtagswahlen." So die Arbeitsgruppe Wahlen Freiburg.
Gemessen an der Zahl der Berechtigten betrug der Stimmanteil für die SPD 24 Prozentpunkte, für die CDU 21, die FDP 6 und die Grünen 4 Prozentpunkte. Eine "rot-grüne" Koalition würde ihr Regierungsmandat auf gerade mal 28% der Wahlberechtigten stützen, ein sozialliberales Bündnis auf 30%, rechnen die Freiburger Wahlforscher vor. Obwohl die CDU in NRW, die weiterhin unter der 40%-Marke blieb, nur 7% verloren hat, büßte sie im Vergleich zur Vorwahl 400.000 Stimmen ein. Die SPD gab gut 500000 Stimmen an das Lager der Nichtwähler ab.
Dass die vom Spendenskandal gebeutelte CDU an ihre bürgerliche Schwesterpartei FDP 150.000 Stimmen abgab, ist verständlich. Warum aber wanderten 120.000 SPD-Wählerinnen und - Wähler zur FDP ab? Weil die SPD so großen Wert darauf legt, Partei der Mitte zu sein - da wählen viele eben lieber das FDP-Original statt der SPD-Kopie. Von den Grünen gaben diesmal 175.000 ihre Stimme der SPD und 50.000 der FDP. Infratest dimap (SPD-nah) bemerkte zu den Verlusten der Grünen: "Sie taten sich schwer mit den heterogenen Erwartungen ihrer Klientel … Der Modernisierer Clement erleichtert ihnen die Rückkehr" und: "Zur FDP gingen diejenigen, die von ihr eine bessere Koalitionspolitik erwarteten."
Das gleiche Institut gibt als Grund für die wachsende Zahl der Nichtwählenden "das schöne Wetter und die Vorstellung (an), die Wahl sei bereits entschieden". "Schwerer jedoch", fügt das Institut hinzu, "wiegt die schleichende Abnutzung durch 34 Jahre Regierungsarbeit, verbunden mit Affairen und Filz, sowie das Gefühl eines Teils der SPD-Klientel, im Land der Montanindustrie zu den Verlierern der Modernisierung zu zählen."
Konkreter drücken dies die Freiburger Wahlforscher so aus: "Trotz positiver Konjunkturdaten und erheblicher Popularitätszuwächse der SPD-Spitzenpolitiker und bei einem gleichzeitigen Stimmentief der CDU haben viele vormalige SPD-Wähler aus der unteren Hälfte der sozialen Pyramide ihre Vorbehalte gegenüber der SPD à la Schröder und Clement nicht aufgegeben."
Dass die "radikalen Parteien" keine Resonanz gefunden haben, führt Infratest darauf zurück, dass die FDP "für viele Unlustgefühle ein geeignetes Ventil" (abgab) und "zu einer Art bürgerlicher Protestpartei" geworden ist. Ihre Themen im Wahlkampf waren übrigens vor allem Bildungs- und Verkehrspolitik.
In Großbritannien versucht Tony Blair, den Weg zu einer Koalition mit den Liberalen zu ebnen, um auch bei drohenden Verlusten von Labour-Linken und Opfern der "Modernisierung" weiter regieren zu können. In der Bundesrepublik hat das Wahlergebnis von NRW eine ähnliche Option geschaffen.
Die Grünen sind in einer Zwickmühle. Sie können durch die Drohung, sie durch die FDP als Koalitionspartner zu ersetzen, erpresst werden, um auch noch die letzten schäbigen Reste an Umweltpolitik aufzugeben, die ihr einst die Stimmen einbrachten. Fügen sie sich nicht dem Druck der SPD und gehen sie in die Opposition, droht die Parteiführung durch innerparteiliche Gegner gehörig gerupft zu werden, die den Kapitulationskurs sowohl in der Frage des Kosovo-Krieges als auch in der Atomenergiepolitik ablehnt.
Dass es in einer nichtrevolutionären Situation richtig sein kann, in eine Regierungskoalition mit der SPD einzutreten, hat sogar Lenin, der geniale politische Stratege und gewiefte Taktiker, für richtig gehalten. Allerdings unter zwei Bedingungen: Es muss ein verbindliches Abkommen über Reformen getroffen werden, die in der Regierungszeit zu verwirklichen sind. Zweitens muss das Bündnis unverzüglich aufgegeben und die Öffentlichkeit mobilisiert werden, wenn die SPD sich nicht an die getroffene Vereinbarung hält. Geschieht dies nicht, entsteht ein politisches Vakuum, in dem sich rechtspopulistische und neofaschistische Kräfte breitmachen können.

Jakob Moneta


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