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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.11 vom 25.05.2000, Seite 6

Streik in Norwegen

Kampf zahlt sich aus

Am 3.Mai traten 82000 Beschäftigte des privaten Sektors in den Ausstand. Das war Norwegens größter Streik - nicht nur seit der Aussperrung von 1986, die für die Unternehmer mit einer Niederlage endete; es war auch der größte seit 1921, wenngleich 1931 am Kampf gegen die Aussperrung mehr Menschen teilgenommen haben. Am 18.Mai sind die Verhandlungen im öffentlichen Dienst abgebrochen worden, und es ist nicht ausgeschlossen, dass es zu einem größeren Streik auch unter denBeschäftigten im öffentlichen Sektor kommen wird. Besonders kampfbereit sind die Lehrerinnen und Lehrer sowie die Krankenschwestern und andere schlecht bezahlte Gruppen, die alle hauptsächlich Frauen umfassen.

Wenngleich Norwegen ein reiches Land ist, besonders dank des Erdöls, haben die norwegischen Unternehmer die defensive Lage der Arbeiterklasse in Europa ausgenutzt, um auch hierzulande Angriffe auf errungene Rechte zu starten. Kernstück dieser Angriffe ist die Suche nach einem "nationalen Abkommen" über niedrige Lohnzuwächse, die im Einklang "mit unseren wichtigsten Handelspartnern stehen", wie es offiziell heißt.
Nach einem für die abhängig Beschäftigten günstigen Abkommen 1998 setzte die Regierung eine Kommission aus Vertretern des Staates, der Gewerkschaften und der Unternehmer ein; sie sollte die Lohnpolitik festlegen. Das Ergebnis war - keineswegs überraschend -, dass die Gewerkschaftsspitze ein sehr niedriges Lohnwachstum akzeptierte. Sie behauptete, ein Teil der Lohnzuwächse von 1998 müßten als vorgezogene Leistung für das Jahr 2000 betrachtet werden.
Traditionell ist in Norwegen der Unterschied zwischen den Durchschnittslöhnen in der Industrie und den Gehältern der Spitzenmanager relativ gering im Vergleich zu den USA und dem restlichen Europa. In den 90er Jahren hat die Bourgeoisie allerdings versucht, dies zu ändern. Die Profite sind seit den frühen 90er Jahren deutlich gestiegen, die Dividenden fast um das Dreifache. Außerdem wurde 1992 das Steuersystem geändert, die Unternehmer müssen seitdem weniger Steuern zahlen.
Dies ist der Hintergrund vor dem eine überwältigende Mehrheit der Gewerkschaftsmitglieder im privaten Sektor dem Anfang April ausgehandelten mageren Lohnabkommen ihre Zustimmung versagte. Normalerweise finden die Verhandlungen alle zwei Jahre statt - diesmal war der Rhythmus um ein Jahr verlängert worden. Das Verhandlungsergebnis sah mehr Flexibilität und einen nur sehr geringen Lohnzuwachs vor - 0,75 Kronen (etwa 20 Pfennig) je Stunde. Für das Jahr 2000 sollte es keine zusätzlichen Urlaubstage geben, für 2001 einen, für 2003 drei weitere. Weil wir aber den ersten Tag einer fünften Urlaubswoche bereits vor 18 Jahren bekommen haben, waren die Leute vom Tempo der Einführung der fünften Urlaubswoche nicht gerade beeindruckt. In Dänemark gab es vor zwei Jahren einen Streik für die Einführung einer sechsten Urlaubswoche!
Die Gewerkschaftsführung unterstützte natürlich das Verhandlungsergebnis, aber sie konnten die Basis nicht überzeugen. An der Abstimmung beteiligten sich über 60% der Mitglieder - das Ergebnis waren beeindruckende 64%, die mit "Nein" stimmten. Bei 16 der 17 Gewerkschaften, die an der Abstimmung beteiligt waren, gab es eine Mehrheit für ein "Nein". Dies ist die deutlichste Ablehnung eines Verhandlungsergebnisses auf nationaler Ebene, die es seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs gegeben hat.

Sieg der Gewerkschaftslinken

Die Ablehnung war ein politischer Sieg der Gewerkschaftslinken, die sich alle zu einer der beiden Parteien links von der sozialdemokratischen Arbeiterpartei (DNA) zugehörig fühlen: zur linkssozialdemokratischen Sozialistischen Linkspartei (SV) (bzw. deren linkem Flügel) oder zur radikalen linken Roten Wahlallianz (RV). Weil die Gewerkschaftsführung das Verhandlungsergebnis befürwortet hatte, formulierte sie nun keine konkreten Forderungen, sondern meinte nur, der Unternehmerverband müsse ein neues Angebot machen. In Anbetracht dieser Passivität sah sich die Gewerkschaftslinke gezwungen, selbst einen Forderungskatalog zu entwickeln und einen Streik zu organisieren, den die Gewerkschaftsspitze nicht wollte.
Diese Schicht fortschrittlicher Gewerkschafter ist gut verankert. Viele von ihnen sind in der ML-Tradition der AKP (Kommunistische Arbeiterpartei, sie ist Bestandteil der RV) groß geworden, haben diese aber zugunsten der RV oder SV (oder auch gar nichts) verlassen. Sie bilden ein radikales Netzwerk und sind in der Lage, sich in solchen Situationen selbst zu koordinieren, außerhalb der Kontrolle von Parteien. Hinzu kommt eine neue Schicht junger Gewerkschaftsmitglieder, die zum ersten Mal einen Streik erlebt haben.
Die Gewerkschaftsführung und die Unternehmer wollten keinen langen und harten Arbeitskampf, und so endete der Streik nach acht Tagen - die Zeit reichte gerade aus, dass die Gewerkschaftsmitglieder ihre wichtigsten Forderungen aufstellen konnten, die dann auch - mit einer größeren Ausnahme - angenommen wurden: Die Laufzeit der Abkommen beträgt nun wieder zwei (statt drei Jahre); die Lohnerhöhung ist jetzt fast viermal so hoch als vorher ausgehandelt: statt 0,75 Kronen gibt es 2,50 Kronen, die Gewerkschaftslinke hatte 3 Kronen gefordert. Für unterdurchschnittliche Löhne gab es zusätzliche Steigerungen.
Die Lohnerhöhung liegt damit über der von der Regierungskommission festgelegten Höchstgrenze - das ist ein wichtiger politischer Durchbruch. Die fünfte Urlaubswoche kommt ein Jahr früher, weil im Jahr 2001 zwei Tage, im Jahr 2002 zwei weitere Tage dazukommen. In der Frage der Flexibilisierung gab es keine Änderungen, hier haben sich also die Unternehmer durchgesetzt. Doch ist ihre konkrete Umsetzung eine Sache betrieblicher Verhandlungen, sie hängt also in großem Maße von der Stärke der örtlichen Gewerkschaften ab.

Der Boden der Tatsachen

Es wurde sehr deutlich, dass die Gewerkschaftsführung den Kontakt zur Basis verloren hatte. Sie hatte nicht sehr viel getan, um die Mitgliedschaft vom ausgehandelten Ergebnis zu überzeugen. Offenkundig hielt sie dessen Annahme für eine ausgemachte Sache. Die "Stimmt-mit-Nein"-Kampagne der Gewerkschaftslinken strafte sie mit Verachtung, letztere sei nur eine "notorische Bande chronischer Nein-Sager".
Die Unternehmer reagierten auf das Abstimmungsergebnis mit der Erklärung, es sei "altmodisch", über ein Verhandlungsergebnis abzustimmen, in anderen europäischen Ländern wie bspw. Schweden gäbe es so etwas nicht. Dieser Vorstoß kam gerade zur rechten Zeit: er zeigte den Leuten, dass die Bosse eine Lektion brauchten, damit ihnen der Kopf wieder geradegerückt würde.
Andere skandinavische Gewerkschaften (vor allem die Transportarbeiter) und die deutsche IG Metall haben ihre Solidarität auf beeindruckende Art und Weise unter Beweis gestellt. Sie haben Streikbrecheraktionen in ihren Ländern verhindert und bestreikte Unternehmen boykottiert. Nach einer Woche Streik in Norwegen waren über 100000 Arbeitsplätze auf dem Kontinent davon betroffen.
Das Abstimmungsergebnis, der Streik und sein Ergebnis zeigen:
- Die politische Linke und die Gewerkschaftslinke genießt beträchtliche Unterstützung für ihre Vorschläge - sie könnte mehr erreichen, wenn sie besser organisiert wäre.
- Es gibt noch eine starke egalitäre Stimmung in der Bevölkerung.
- Der Kampf für aktive, demokratische Gewerkschaften ist von herausragender Bedeutung; ohne Recht auf Abstimmung gibt es keinen Streik, keinen neuen Optimismus, keine kollektiven Erfahrungen, nur eine Anhäufung von Frustrationen, die leicht in die Hinwendung zu rechten Alternativen münden können.
Es ist wichtig, dass die junge, Nach-68er-Generation die Kraft kennenlernt, die sich aus kollektiven Aktionen ergibt. Als der Streik im Gang und die Regale in den Supermärkten leer waren, wurde allen klar: Das ganze Gerede von der "neuen Ökonomie" hat nichts an der Tatsache geändert hat, dass es ganz realer "altmodischer" Arbeiterinnen und Arbeiter bedarf, um Brot zu backen, Bier zu brauen und es in die Geschäfte zu bringen.

Der öffentliche Dienst

Im öffentlichen Dienst gibt es noch keine Ergebnisse, aber seit dem letzten Herbst haben vor allem die Gewerkschaften der Lehrer und Krankenschwestern hohe Lohnerhöhungen gefordert - 20% über einen Zeitraum von zwei Jahren. Das war auch ein Thema bei den Parlamentswahlen im September 1999. Die SV erhielt bedeutende Stimmengewinne - ein großer Teil kam von Frauen aus dem öffentlichen Dienst. Im Allgemeinen sind diese Frauen linker als gleichaltrige Männer in derselben Einkommensgruppe.
Ein Beispiel für die kämpferische Stimmung bei den im öffentlichen Dienst Beschäftigten bieten die Krankenpflegeschülerinnen: sie weigerten sich, in den Krankenhäusern zu arbeiten, weil sie die geringen Löhne und schlechten Arbeitsbedingungen dort nicht hinnehmen wollen. Das hat die Kliniken schwer getroffen, weil sie bei der Aufstellung der Belegpläne für Wochenenden und Feiertage auf die Auszubildenden angewiesen sind.
Das ist eine neue Aktionsform, weil alle Streiks im Gesundheitswesen von der Regierung unterbunden worden sind. Angesichts des hohen Ölpreises sind Lohnerhöhungen für Krankenschwestern oder Lehrpersonal für die norwegische Bourgeoisie im Grunde eine politische Frage, eine Frage, ob sich langfristig eher eine harte Linie oder Zugeständnisse auszahlen.
Eine wesentliche Sorge der Unternehmer ist, dass die Gewährung höherer Gehälter im öffentlichen Dienst als im privaten Sektor einen Bruch mit der "goldenen Regel" darstellen würde, wonach Lohnsteigerungen im privaten Sektor die Obergrenze für solche im öffentlichen Sektor markieren.
Ein weiteres Problem ist der Umgang mit der zunehmenden Radikalisierung. Die Ablehnung des Verhandlungsergebnisses zeigt, dass es für die Vermittlung einer künstlichen Atmosphäre von Krise und Sparpolitik eine Grenze gibt.

Anders Ekeland (Oslo)


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