Sozialistische Zeitung |
Wie beurteilen Sie aus heutiger Sicht die Ereignisse vom Januar?
Die Mobilisierung im Januar war ein Kräftemessen zwischen der traditionellen politischen und ökonomischen Macht
der ecuadorianischen Rechten, unterstützt von den Imperialisten, und andererseits den alternativen Kräften der indianischen
Völker und sozialen Bewegungen Ecuadors. Wir wollten sehen, wie die einzelnen Sektoren der Rechten darauf reagieren. Angesichts des
Umschwungs der Streitkräfte, die unsere Initiative anfangs unterstützt hatten, mussten wir schließlich zurückweichen.
Aus strategischen Gründen verließen wir das Parlament und
zogen uns aus der "Provisorischen Junta der Nationalen Rettung" zurück. Wir betonen aber nach wie vor, dass die
Organisierung und der Kampf um Alternativen möglich ist: Durch den landesweiten Kampf der Massen und gut organisierter Sektoren
können wir strukturelle Veränderungen vornehmen. Wir standen vor der Möglichkeit, die gesamten Strukturen der Exekutive,
Legislative, Judikative und die aller Institutionen aufzulösen. Die Situation hatte etwas überstürztes, denn eigentlich hatten
wir überhaupt nicht damit gerechnet, dass es so leicht sein würde. Als wir an die Macht kamen, wurde uns bewusst, dass es viel zu
tun gab, und wir beschlossen die Aufgaben auf allen Ebenen anzupacken.
Die neue Regierung hatte zwar zugesagt, alle Beteiligten zu amnestieren, hat ihre Versprechen aber nicht gehalten. Wieviele
Gefangene gibt es noch aus den Januartagen?
Die Repression betraf vor allem die beteiligten Militärs. Offiziell sind noch vier Oberste inhaftiert. Hundert Offiziere, die sich am
Aufstand beteiligt hatten, sind in den Dschungel verlegt und völlig isoliert. Sie sollen mit Disziplinarverfahren aus dem
Militärdienst enfernt werden. Angeklagt sind wir von CONAIE zwar auch, haben bisher aber noch keine Haftbefehle. Die Regierung
sucht einen Weg, um uns alle zur Verantwortung zu ziehen. Das ist sicher. Schließlich haben wir ja die verfassungsmäßige
Ordnung gebrochen.
Sollten die Regierung die Repräsentanten der CONAI inhaftieren,
werden sich alle drei bis vier Millionen CONAIE-Sympathisanten für einen Haftantritt melden. Das haben wir mehrfach
angekündigt und fordern die Einstellung aller Verfahren.
Die Unterstützung eines linken Aufstandes seitens der Armee klingt recht ungewöhnlich. Was ist der Hintergrund und
welche Sektoren des Militärs unterstützen die Aufstandsbewegung?
Hier in Ecuador gibt es eine besondere Situation. Viele Militärs werden für soziale Aufgaben eingesetzt. Gerade zwischen unteren
Dienstgraden und vielen Gemeinden und armen Stadtteilen, in denen diese Militärs arbeiten, haben sich Kontakte ergeben. Die meisten
Militärs kennen die Arbeit der Basisorganisationen und wissen, wie eine Alternative aussehen kann und das sie möglich ist. Die
Verfolgung der im Januar direkt am Aufstand Beteiligten hat eine weitere Spaltung in der Armee hervorgebracht. Wir setzen uns für die
Militärs ein, die mit Basisbewegungen in Kontakt stehen.
Die Streitkräfte sind also weiterhin ein Bündnispartner?
Wir glauben an eine friedliche Revolution, die Einheit und die Beteiligung aller Sektoren. Doch auch wenn wir einen friedlichen Kampf
propagieren ist es von strategischer Bedeutung, gewisse Abkommen mit Mitgliedern der Streitkräfte zu schließen, die den Prozess
der Veränderung bedingungslos unterstützen und sich bewusst daran beteiligen.
Wie sieht diese Veränderung aus?
Wir propagieren jetzt mittels einer Volksbefragung eine Umstrukturierung des ecuadorianischen Staates, um ein demokratisches System zu
fördern. Wir wollen eine Gesellschaft, die eine gleichberechtigte Teilnahme aller Sektoren des Landes garantiert: Indianer, Schwarze,
Bauern, Stadtteile der unteren Schichten usw. Ein System, das durch alle entsteht und in dem alle vom gesellschaftlichen Produkt
profitieren.
Was ist der Inhalt der Volksbefragung?
Es geht um sechs Fragen: Erstens um die Einstellung aller Verfahren gegen die Repräsentanten der CONAIE und
Militärangehörige; zweitens um die Auflösung des Nationalkongresses und die Ausarbeitung eines neuen Wahlgesetzes;
drittens um die vollständige Umgestaltung des Obersten Gerichtshofs und des Justizsystems des Landes. Dadurch sollen die
Repräsentanten der traditionellen Interessen und Parteien aus dem Apparat entfernt werden.
Der vierte Punkt betrifft die Wirtschaft des Landes: Es geht um die
Rückgabe der durch die Mahuad-Regierung eingefrorenen Gelder, die Dollarisierung der Wirtschaft und um den Umgang mit den
Auslandsschulden. Der fünfte Punkt betrifft den Vorschlag der Modernisierung der staatlichen Unternehmen, die statt einer Privatisierung
durchgeführt werden soll.
Sechstens geht es um die Einrichtung eines US-amerikanischen
Militärstützpunkts in Ecuador. Ein Plan den wir ablehnen. Denn er beweist, dass unser Land zwar formal eine Demokratie ist,
faktisch aber von den USA beherrscht wird. Das werden wir niemals akzeptieren.
Aber die Dollarisierung der Wirtschaft wurde bereits Mitte April eingeführt. Wie ist die Situation?
Die Einführung des Dollars als offizielles Zahlungsmittel treibt die Verarmung weiter voran. Die negativen Auswirkungen sind schon
deutlich sichtbar: die Inflation beträgt bereits 10% monatlich und es sollen im Verlauf des Jahres über 100% werden,
während die Löhne natürlich niemals so stark steigen werden. Wir haben die Regierung aufgefordert, bis Juni
Gegenmaßnahmen einzuleiten. Ansonsten wissen wir nicht was passieren wird, wenn die Bevölkerung wieder auf die Straße
geht.
CONAIE befand sich in Gesprächen mit der Regierung. Warum wurden diese Ende April abgebrochen?
Nach den Ereignissen vom Januar haben wir im Februar erste Gespräche mit der Regierung geführt. Es ging einerseits um die
indianischen Völker Ecuadors und andererseits um politische, soziale und wirtschaftliche Themen, die das Land betreffen. Die Regierung
hat sich aber geweigert, über Privatisierungen, Dollarisierung und Auslandschulden zu reden und es vorgezogen, nur über die
indianischen Völker zu reden.
Wir wollten ein Abkommen erreichen, das den armen Gemeinden
Häuser, Schulen, einige Straßen usw. zugesteht. Wir setzten uns dafür ein, Schulmaterialien in den indianischen Sprachen zur
Verfügung zu stellen. Die Gespräche dauerten Wochen und die Regierung hat ständig Rechtfertigungen gesucht, um uns mit
einigen Krümeln abzuspeisen. Damit konnten wir uns nicht zufrieden geben.
Wie geht es jetzt weiter?
Wir haben die Verhandlungen abgebrochen, um die Organisierung der Basis weiter zu verstärken und so im Juni, spätestens Juli,
wieder mit aller Kraft auf die Veränderungen zu beharren, die das Land braucht.
Wir bereiten uns darauf vor, eine gerechte und interkulturelle Gesellschaft
aufzubauen, die die vorhandenen Ressourcen vernünftig und ausgewogen nutzt. Wir hoffen darauf ein Beispiel für Amerika und die
Welt zu werden, wenn uns dies gelingt.