Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-
Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.12 vom 08.06.2000, Seite 3

Die Wut der Palästinenser

Entwickelt sich in den besetzten Gebieten eine neue Intifada?

Einige Monate vor der geplanten Ausrufung eines Palästinenserstaats und während sich Israel Hals über Kopf aus dem Südlibanon zurückzieht, haben die Zusammenstöße zwischen Palästinensern und israelischen Ordnungskräften mehrere Todesopfer gekostet. Von der Regierung Barak und der Nichtdurchführung unterzeichneter Abkommen wütend gemacht, könnten die Palästinenser, die wieder deutlich gemacht haben, dass sie sich nicht grenzenlos demütigen und betrügen lassen, diese bewaffneten Zusammenstöße möglicherweise ausweiten.
Ein halbes dutzend Tote und mehrere hundert Verletzte: die Bilanz der jüngsten Zusammenstöße zwischen palästinensischen Demonstranten und israelischen Streitkräften wiegt schwer, und alles deutet darauf hin, dass die Liste nur vorläufig ist. Ist dies das einzige Mittel, die israelische wie internationale öffentliche Meinung zur Einsicht zu bringen?
Die jüngsten Zusammenstöße sind das Resultat dreier Faktoren: Zunächst und vor allem hat sich infolge der Weigerung verschiedener israelischer Regierungen, die unterzeichneten Abkommen praktisch umzusetzen und so der Besatzung ein Ende zu bereiten, eine Menge Wut angesammelt. Es ist kein Zufall, dass die Frage der Freilassung der politischen Gefangenen - die sechs Jahre nach der Unterzeichnung der Abkommen von Oslo immer noch in Haft sind - im Zentrum der ersten Proteste stand.
Des Weiteren will die palästinensische Autonomiebehörde ihren israelischen Gesprächspartnern zeigen, dass auch sie eine öffentliche Meinung berücksichtigen muss, die gerade die Geduld verliert.
Schließlich wollte die Führung der Fatah - des bedeutendsten Teils der palästinensischen Nationalbewegung - der Autonomiebehörde beweisen, dass sie ihre Fähigkeiten zur Mobilisierung sowie ihren Einfluss in der Bevölkerung bewahrt hat und dass sie ihre Stimme in den israelisch-palästinensischen Verhandlungen, aber auch in der Vorbereitung für die Zeit nach Arafat zu Gehör bringen kann. Die Demonstranten, die mit Schusswaffen gegen die israelischen Streitkräfte vorgingen, waren ausschließlich Aktivisten der Fatah.
Die massive Gewaltanwendung durch die israelische Armee und die Drohungen, den nächsten Rückzug, der in den Dörfern der Umgebung von Jerusalem vorgesehen war, auszusetzen, haben Präsident Arafat davon überzeugt, die Zusammenstöße zu stoppen, doch die Haltung der palästinensischen Sicherheitskräfte war in den verschiedenen Orten sehr unterschiedlich: während an einigen Stellen die palästinensische Polizei nicht zögerte, Gewalt anzuwenden, um die Demonstranten auseinander zu treiben, zeigte sie anderswo keinen Eifer und war selber mehr oder weniger offen an der Zuspitzung der Konfrontation beteiligt.
Genau hier zeigt sich, dass es vollständig falsch ist, die palästinensiche Autonomiebehörde als "Kollaborateure" und ihre bewaffneten Kräfte als Milizen zu betrachten. Letztere setzen sich, von der Basis bis zur Spitze, aus Patrioten zusammen, die ehrlich glauben, dass sie den nationalen Befreiungskampf mit anderen Mitteln fortsetzen.
Wenn die israelische Regierung darauf beharrt, die elementarsten Forderungen der Palästinenser zu ignorieren, und weiterhin nur Brosamen fallen lässt oder Versprechen macht, die sie gar nicht einzulösen beabsichtigt, dann läuft sie Gefahr, mit tausenden von bewaffneten Polizisten zusammenzustoßen, die sich in nichts von ihren Brüdern und Schwestern in den Städten, den Dörfern und den Lagern im Gazastreifen und im Westjordanland unterscheiden.
Die Stunde der Wahrheit naht: im September wird Yasser Arafat den Palästinenserstaat ausrufen, er hat keine andere Wahl. Israels Ministerpräsident Barak ist sich dessen bewusst und will vor dem Termin ein Rahmenabkommen zu den ungelösten Fragen abschließen: Jerusalem, die Flüchtlinge, die Siedlungen und die Grenzen zwischen Israel und dem Palästinenserstaat. Aber was Barak zuzugestehen bereit ist, ist das Gegenteil von dem, was Arafat akzeptieren kann, ohne seine Legitimität in der Bevölkerung zu verlieren.
Trotz der geheimen Verhandlungen, die derzeit in Stockholm zwischen dem Präsidenten des palästinensischen Legislativrats, Abu Ala, und dem moderatesten der israelischen Minister, Shlomo Ben Ami, geführt werden, erscheint es wenig wahrscheinlich, dass ein Abkommen zustande kommt. Die drei Nein von Barak sind ein unüberwindbares Hindernis: ein Nein zum Recht der Flüchtlinge auf Rückkehr, ein Nein zum Abbau der Siedlungen, ein Nein zu einer palästinensischen Souveränität in Jerusalem.
Der brennende Wunsch, Palästina als souveräne Nation in der UNO zu sehen, reicht nicht, wie der israelische Regierungschef zu glauben scheint, aus, damit die palästinensische Führung auf Jerusalem oder das Recht der Flüchtlinge, in ihre Heimat zurückzukehren, verzichtet. Täte sie dies, würde sie in den Augen der Mehrheit der Bevölkerung, in den autonomen Gebieten ebenso wie in der Diaspora, ihre Legitimität einbüßen.
Und dies um so mehr, als die palästinensische Jugend ihre Bewunderung für den libanesischen Widerstand nicht verbirgt, der dank eines effektiven und heroischen Kampfes nun der 15 Jahre dauernden israelischen Besatzung ein Ende bereitet hat. Die zionistische Armee ist dabei, die militärischen Stützpunkte auf libanesischem Gebiet abzubauen und die schweren Waffen, die sie den Milizen des Generals Lakhed gegeben hatte, wieder an sich zu nehmen. Dies bedeutet, dass diese Milizen dem gerechten Zorn der libanesischen Bevölkerung ausgeliefert werden oder dass ihnen in Israel Zuflucht gewährt wird.
Der israelische Rückzug findet statt unter den Angriffen der Hisbollah, was deren Popularität nuur verstärken kann. Um sich zu rächen haben die Israelis, wie stets, ihre Artillerie und ihre Luftwaffe gegen die Zivilbevölkerung gerichtet, was die Bombardierung von Dörfern in Nordisrael und den Exodus eines Teils ihrer Bewohner provoziert hat.
Im Klartext: was sich im Südlibanon abspielt ist ein wirkliches Desaster, und Barak kann nichts tun, es zu verhindern. Die Palästinenser sehen es jeden Tag im Fernsehen, und früher oder später werden viele ihre Schlüsse daraus ziehen.
Die Tatsache, dass 30.000 palästinensische Polizisten bewaffnet sind, zu denen man noch mehrere tausend politische Aktivisten aus allen Strömungen der palästinensischen nationalen Bewegung zählen kann, kann die Perspektive der "Libanisierung" des Konflikts im besetzten Palästina eröffnen. Die jüngsten Zusammenstöße und der, wenngleich begrenzte, Gebrauch von Schusswaffen lassen erahnen, dass Israel in nicht zu ferner Zukunft, wenn nicht mit einer zweiten Intifada, so doch zumindest mit dem Beginn einer neuen Guerilla konfrontiert werden könnte.

Michael Warschawski (Jerusalem)

Aus: Rouge, Nr.1877, 25.5.2000.


zum Anfang