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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.12 vom 08.06.2000, Seite 8

Expo, Biopolitik und Gentechnik

Kontrollieren, Selektieren, Manipulieren

"Deutschland hat die ganze Welt geladen - und sie kommt." Fünf Monate lang soll Hannover "Nabel der Welt" und die dort stattfindende Weltausstellung Expo 2000, die am 1.Juni eröffnet wurde, "Wiege der Zukunft" werden. Modernste Multimediainszenierungen, Erlebniswelten und Mitmachangebote beabsichtigen, die "Lust auf Zukunft" zu wecken. Das umfangreiche Kultur- und Ereignisprogramm präsentiert den Besuchern und Besucherinnen nicht bloß "Zigeunermusik", "Funsport", "Rock und Rave, Tanz und Theater", kurz: ein "Fest der Völker". Allabendlich soll sich zusätzlich ein "Flambée" ins Gedächtnis "einbrennen".

Das "Herzstück" des "Kompetenzzentrums für die Lösung der Zukunftsfragen" (Expo-Generalkommissarin Birgit Breuel) ist der Themenpark, eine futuristische Erlebnislandschaft, in dem mit omnipotentem Anspruch nichts weniger als "Lösungsbeiträge für die drängenden Menschheitsfragen" - der gängige Jargon für Hunger, Armut und Umweltzerstörung - dargestellt werden, die sich als "Bilder in den Köpfen der Menschen festsetzen" (Breuel) sollen.
Die zentrale Begegnungsstätte der Expo 2000, der Deutsche Pavillon mit seiner "Ideenwerkstatt Deutschland", steht in der Mitte des Geschehens - die Inszenierung als Wunschtraum oder schon Realität? Seit ihrer Gründung 1851 stehen Weltausstellungen in einer kolonialistischen Tradition.
Die Veranstalterin der "Visitenkarte unseres Landes", die Bundesrepublik Deutschland, und die für die Durchführung komplett privatisierte Expo GmbH, haben eine beachtliche Leistung erbracht: Ohne jede Analyse präsentieren sie einen Zukunftsentwurf, in dem alle Hinweise auf gesellschaftliche Ursachen und herrschende Politik fehlen. Und den Doktor für alle Probleme haben sie gleich mitgebracht: Das deutsche Kapital hat sich bereitwillig dieser ach so schweren Aufgabe angenommen.
Ein Quantum Fortschrittsoptimismus, eine Messerspitze Wissenschaftsglaube, eine Prise Esoterik und eine formbare Grundmasse leichtgläubiger Idioten, und fertig ist das Zukunftskonzept für Energie-, Umwelt-, Gesundheits- und Ernährungswirtschaft.
Die Expo, in der BRD das herausragende Ereignis in diesem Jahr, ist nur ein Ausdruck gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen, steht jedoch für diese an zentraler Stelle. Sie ist ein "Hightechevent" zur Inszenierung herrschender Zukunftsentwürfe, macht diese für Millionen erlebbar und beeindruckt durch ihre Größe und hervorgehobene Rolle.
Die Expo ist keine klassische Verkaufsmesse, sondern eine Imagewerbeveranstaltung mit dem Ziel, die globale Lösungskompetenz der westlichen Welt zu behaupten, Fortschrittsglauben zu verbreiten und eine Identifikation mit dem herrschendem Kulturverständnis zu fördern. Weniger die materielle als vielmehr die symbolische Basis der Reproduktion der Herrschaftsverhältnisse steht im Vordergrund.
Auf der Expo selbst wird der Reproduktionsbereich hingegen vollständig ausgeklammert. Strategie ist die Reduktion von grundlegenden gesellschaftlichen Problemen auf die Frage einer mangelnden Anwendung technischer Fachkompetenz. "Metropolen der Zukunft sollen übereinandergeschichtet werden - samt Parks, Wiesen und Seen" bei "Platzproblemen", DaimlerChrysler ist für die "Technik-Erlebniswelt für 12- bis 18- Jährige" zuständig, und der "Tag der Maschine" ästhetisiert Technik und Fortschritt. Die Technikkultur mit "Lifestyle"-Bezug und interaktiver Inszenierung ist nur ein Ausdruck des mit der Bevölkerungspolitik verbundenen Interesses an Macht, Verwertung und Kontrolle.
Die Darstellung der technisierten, herrschaftlichen Planbarkeit sozialer Prozesse findet auf der Expo ihren vorläufigen Höhepunkt. Entfesselte Technokraten und Sozialplaner sorgen für die Ausmerzung von Überraschungen jeglicher Art, für die Herstellung einer vollkommen durchschaubaren Welt.

Akzeptanzbeschaffung

Es ist keine neue Methode, mit erlebnisparkähnlichen Propagandashows Akzeptanz und emotionale Zustimmung zu einer schönen, bunten kapitalistischen Welt zu schaffen. Bei der Brüsseler Weltausstellung 1958 wurde für die Atomenergie "zum Anfassen" durch ein begehbares Atommodell (Atomium) geworben. Auf der Expo 2000 sollen Gentechnik und Hightechmedizin - als Wahrzeichen war ursprünglich eine riesige Darstellung des DNA-Strangs geplant - das Blaue vom Himmel holen.
Die offenen Integrationsangebote und ein differenziertes System von Beteiligungsmöglichkeiten der Expo "neuen Typs" stehen für ein relativ neuartiges integratives Politikmodell. Die Internationale Frauenuniversität, das DRK, Frauenhäuser, Jugendzentren, Amnesty International, der BUND und fast jede andere NGO sind irgendwie, mindestens aber als kritisches Feigenblatt, dabei. Wer nicht mitmachen will, macht sich schuldig am Elend in der Welt und hat in der neuen Mitte der wohligen Weltrettungsgemeinschaft nichts verloren.
Der Klebstoff zwischen Hightech, kapitalistischer Entwicklungslogik, Lösungskompetenz und integrativer Präsentation ist bei der Expo wie im Umweltbereich insgesamt derzeit die Ideologie der Nachhaltigkeit. Mit dem aggressiven Einfordern von Konsenslösungen, runden Tischen, Diskussionsangeboten, hippem Edutainment, modischen Modernisierungsfloskeln, einer disneylandartig umgesetzten Agenda 21 und der multimedialen Inszenierung von Hightech werden (fast) alle zu einem Teil der "Zivilgesellschaft" mit ihrer "globalen Verantwortungsethik".
Die Hightechproduktion wird nicht angetastet, dafür findet der Umbau des sozialen Herrschaftssystems durch Flexibilisierung und ökologische wie ökonomische Kostensenkung statt.
Das Motto der Expo - "Mensch - Natur - Technik. Eine neue Welt entsteht" - steht für die Idee, die Welt von morgen zu präsentieren. Es wird Politik mit der Zukunft gemacht. Man droht, falls sie verpasst wird, man verspricht Neues und Besseres. Allerorten herrscht Handlungsbedarf. Die Geschäftsgrundlage der gesellschaftlichen Zukunft ist ohne Wenn und Aber eine neue Ökonomie des genetischen Codes.
Getreu der Idee von "Auslese und Ausmerze" ergänzen Biowissenschaften und Bevölkerungskontrolle das Set an modernen Sozialtechniken: das Kranke, Hässliche und Unbrauchbare wird aus dem Volkskörper herausgeschnitten. Der "gesunde" Rest wird fit gemacht für die Verwertungszwänge der Zukunft.
Das "Zukunftslabor des Jahres 2000" erfindet hierbei keinen wesentlichen Gedankengang neu, vielmehr greift die Ausstellung einen zunehmenden Trend in herrschenden Politikmustern auf. Biowissenschaftliche "Analysen" ersetzen politische Diskussionen um Gesellschaftsentwürfe. Die soziale Frage wird zu einer biologischen verkehrt, der Mensch wird zum genetisch gesteuerten Wesen. In dieser Logik müssen nicht mehr die Verhältnisse verändert werden, sondern das Genmaterial. "Lösungen" werden folglich im Labor kreiert. Und dies geschieht keineswegs mehr nur auf einer ideologischen Ebene oder in abgeschirmten Produktionsbereichen.
Gen- und Reproduktionstechnik werden zur Alltäglichkeit. Gentests, künstliche Befruchtung und gentechnisch veränderte Nahrungsmittel sind inzwischen mehr als vereinzelte Vorboten einer Biogesellschaft geworden. Damit einher gehen neue soziale Differenzierungen und Spaltungen.
Während zum einen die medizinische Versorgung für viele eingeschränkt und im Süden die Bevölkerungszahl kontrolliert wird, wird im Norden genetisch selektiert und operiert und für wenige die kostenintensive Genmedizin angeboten.

Gentechnologie im Zentrum

1990 begann das Human Genome Project (HUGO) mit dem Ziel, bis zum Jahr 2003 die menschlichen Erbanlagen zu entschlüsseln und die DNA-Bausteine dahingehend zu analysieren, an welchem Ort welche Gene im Erbgut liegen. HUGO möchte alle Krankheiten wie Krebs oder Herzkreislaufschwächen entdecken, eventuell sogar die genetischen Grundlagen von psychischen oder altersbedingten Krankheiten.
Laut Expo-Konzept ist die "Entschlüsselung des menschlichen genetischen Codes" auf dem Weg, "Diagnostik und Behandlungsformen zu revolutionieren". Im Themenpark wird "einiges zur Genomforschung (u.a. HUGO, Gen-Chipkarte) zu sehen" sein.
Der gentechnisch beeinflussten Umdefinition des Krankheitsbegriffs liegt die Ideologie zugrunde, dass die Erbanlagen Grundlage aller Lebenserscheinungen seien. Bei der Expo GmbH heißt das dann "biologisch vorgegebene Grenzen". Die Genforschung ist beseelt von dem Gedanken, auch persönliche Merkmale bis hin zu Charaktereigenschaften aus den genetischen Informationen eines Menschen herauslesen zu können.
Die Sensationsmeldungen über neu entdeckte Gene, wie z.B. Aggressivitäts-, Homosexualitäts- oder Intelligenzgene, sorgen dafür, dass sich der Glaube an die genetische Vorbestimmtheit in den Köpfen festsetzt. Bei diesem schleichenden Bewusstseinswandel gerät allzu leicht in Vergessenheit, dass der Mensch mehr ist als die Summe seiner Gene, nämlich in erster Linie ein soziales Wesen. Mit der Allgegenwart der Gentechnik in der Medizin droht sich ein biologistisches Menschenbild in unseren Köpfen festzusetzen.

Kostenreduktion und genetische Ausgrenzung

Mit jeder neuen Entdeckung eines Gens wächst der lukrative Markt für Gentests. Erste kommerzielle Gentests für ein Routinescreening von Brust-, Eierstock- und Darmkrebs sind bereits entwickelt. Weitere für Alzheimer, Bluthochdruck und Schizophrenie sind in der Entwicklung. Da die Tests immer einfacher handhabbar und billiger werden, ist deren breite und unkontrollierte Anwendung wahrscheinlich. "Gentests für jedermann" schlägt die Expo GmbH vor.
Im Technikfolgeabschätzungsbericht des Bundestags 1994 wird das eigentliche Ziel benannt: "Eine frühzeitige Identifizierung anfälliger Personen - vor Ausbruch einer Krankheit - könnte als geeignete Strategie zur Reduktion von Kosten durch eine entsprechende Änderung des Lebenswandels der betreffenden Personen angesehen werden."
Diagnosen können direkt aus der genetischen Beschaffenheit einer Person gestellt werden, und zwar bereits bevor eine Krankheit zum Ausbruch kommt, die vielleicht auch ein Leben lang nie ausbrechen wird. Für eine Vielzahl von Krankheiten wären Ursachen und Mechanismen angebbar und damit neue Therapien und "Reparaturmöglichkeiten" in Aussicht. Die Korrektur genetischer "Defekte" direkt am genetischen Material, die Gentherapie, folgt dieser Logik auf den Schritt.
In den USA werden bereits Menschen mit einer diagnostizierten Erbkrankheit nicht mehr oder nur noch gegen überhöhte Beiträge krankenversichert. In zunehmendem Maße sind auch Menschen betroffen, die wegen eines Gendefekts als "krank" eingestuft werden, obwohl sie völlig gesund sind - sie gelten als "asymptomatische Kranke", also als Kranke ohne Symptome.
Selbst an einigen Unis ist bereits die Zulassung zum Medizinstudium von einem Gentest abhängig. Der US-Chemiekonzern Dow Chemical hat mit Hilfe eines arbeitsmedizinischen Überwachungsprogramms Angestellte ausgesondert, die als besonders "krebsanfällig" galten. Die Selektion von Menschen nach genetischen Prognosen ist die Vorhut einer nachfrageorientierten Eugenik.
Das Prinzip, ganze Belegschaften gezielt auf ihr genetisches Material hin zu untersuchen, um Anfälligkeiten für bestimmte Krankheiten zu erkennen, soll vermehrt zum Einsatz kommen. Lohnabhängige werden aufgrund genetischer Kriterien selektiert und als geeignet bzw. ungeeignet für besonders belastete Berufe eingestuft. Berufskrankheiten werden individualisiert, nicht die schlechten Arbeitsbedingungen in der Industrie sind verantwortlich, sondern einzelne Erbanlagen. Strategie ist die Minimierung sozialer Ausgaben durch Selektion.

Heute schon gescreent?

Aber nicht nur im Arbeitsleben, auch in der Versicherungsbranche spielt die Genanalyse eine Rolle. In der BRD sind Menschen, die eine private Kranken- oder Lebensversicherung abschließen, verpflichtet, alle "gefahrenerheblichen Umstände" anzuzeigen und ihren Arzt oder ihre Ärztin von der Schweigepflicht zu entbinden.
Versicherer können somit auf Ergebnisse genetischer Tests zurückgreifen und davon den Versicherungsabschluss oder die Beitragshöhe abhängig machen. Das Versicherungsprinzip, Risiken und Kosten gemeinschaftlich zu tragen, wird dadurch systematisch in Frage gestellt.
Die Folgen sind weitere Sparmaßnahmen und eine Entsolidarisierung der Versicherten bis hin zu dem Punkt, dass Versicherungsschutz eine Frage der "richtigen Gene" ist. Schleichend droht eine Stigmatisierung und Diskriminierung von Personen mit bestimmten genetischen Merkmalen.
Die Expo GmbH benennt das Problem der genetischen Diskriminierung, impliziert wird aber lediglich eine Gentherapie als Lösung, nicht etwa Möglichkeiten zur Beseitigung der Diskriminierung.
Das Datenmodell kann zur Richtschnur der Biografie werden, sich verselbständigen und ein Eigenleben entwickeln. Immer mehr Bereiche des gesellschaftlichen Lebens fallen damit in die Zuständigkeit eines Gesundheitssektors, der Informationen über biologische Merkmale eines Menschen erheben und verarbeiten darf.
Seit 1976 werden nahezu alle Neugeborenen durch Screening erfasst, d.h. in Reihenuntersuchungen auf ein genetisches Merkmal hin untersucht. Ziel ist die Ermittlung von "genetischen Risikofaktoren", die bei Kranken häufiger als bei Gesunden auftreten. Die pränatale Diagnostik soll dazu verhelfen, dass nur die fittesten und gesündesten Kinder geboren werden.

Menschen nach Maß

Der Gang zur humangenetischen Beratungsstelle gehört zunehmend zum Normalverlauf einer Schwangerschaft und die Zahl der Frauen, die sich einer Pränataldiagnostik unterziehen, steigt kontinuierlich an. Hinzu kommt, dass sich seit mehreren Jahren die Schadenersatzprozesse im Zusammenhang mit pränataler Diagnostik häufen.
Versäumt es etwa eine Ärztin oder ein Arzt, einer 38- jährigen Schwangeren zu den Untersuchungen zu raten, macht sie oder er sich, falls das Kind behindert zur Welt kommt, schadenersatzpflichtig. Denn mittlerweile haben schwangere Frauen ab 35 Jahren einen Rechtsanspruch auf Pränataldiagnostik. Der "Schaden" ist das Kind, das krank geboren wird. Der Arzt haftet also nicht, weil seinetwegen jemand gestorben ist, sondern weil jemand lebt. Indirekt bestätigt die Justiz damit als Aufgabe der Pränataldiagnostik, behindertes Leben zu verhindern.
Die deutsche Wirklichkeit lehrt bereits heute, dass Eltern mit moralischem Druck und finanziellen Nachteilen zu rechnen haben, die sich trotz Optionen auf vorgeburtliche Diagnostik und Vermeidung für behinderte Kinder entscheiden. Je einfacher es technisch wird, genetische Missbildungen des Fötus zu diagnostizieren, desto mehr "Schuld" wird den Eltern oder den Müttern zugewiesen, wenn sie behinderte Kinder zur Welt bringen, die hätten verhindert werden können.

Biodressur

Der normierende Zugriff auf den Lebenswandel ist als "Gesundheitsbewusstsein" nahezu überall präsent: ob als ballaststoffreiche Biokost, gut gemeinter Ratschlag der Krankenkasse zum "wirbelsäuleschonenden Bildschirmarbeitsplatz", optimale Biorhythmustabelle oder als vehemente Antiraucherkampagne. Krankheit erscheint immer mehr als individuelles Problem, das bei rechtzeitiger Information und entsprechendem Verhalten vermeidbar ist.
Überall sind biopolitische Ordnungssysteme als zukünftig richtungsweisend anerkannt. Weniger Medikamente, Privatisierung der Pflege, geringer stationärer Aufenthalt. Unter einer Bedingung: der eigenen konsequenten Körperdressur und biologischen Selbstkontrolle. "Eine wichtige Voraussetzung der Gesunderhaltung ist die Annahme gesundheitsrelevanter Verhaltensweisen in der Kindheit und ihre Beibehaltung bis ins hohe Alter" (Expo GmbH).
Das faktisch herrschende medizinische Präventionsmodell individualisiert Krankheit, macht die Menschen zum Objekt, deren "natürliche" Anlagen es zu entschlüsseln gilt. Prävention und Eugenik verbinden sich zu einem undurchsichtigen Geflecht.
Mit der Definitionsmacht über Normalität und mit der Macht, in Lebenszusammenhänge eingreifen zu können, bedeutet medizinisch orientierte Gesundheitsvorsorge bei genauerem Hinsehen Selektion, soziale Ausgrenzung sowie physische und psychische Gewalt.
Die Perspektiven der Prävention sind Entmündigung und Disziplinierung der Versicherten sowie die Ökonomisierung und Bürokratisierung von Krankheit und Behinderung. Die Medizin übernimmt die Rolle einer Institution sozialer Kontrolle: wer sich angepasst verhält, bekommt nach bestimmten Kriterien finanzielle und materielle Unterstützung. Der Präventionsgedanke wandelt sich in ein technokratisches Instrument der Medizin, das auf individuelle Schuldzuweisung und persönliche Verantwortung setzt und unausweichlich zur Entsolidarisierung des Sozialsystems führt.

Wunsch nach perfekten Menschen

Mit der Entwicklung eines "Schönheitssalons" im Themenpark der Expo und der Einbeziehung von "kompetenten Partnern aus der Fitnessbranche" und solchen aus "der Welt der Kosmetik und Mode" sollen die BesucherInnen "ermutigt" werden, "aktiv zu sein und ihren Körper zu kultivieren".
Gesundheit, Schönheit, Fitness und Leistungsfähigkeit sind die Grundwerte des Normalisierungsdenkens im Alltag. Wer funktioniert, wer selbst- und fremdauferlegte Anforderungen pausenlos erfüllt, gilt als gesund. Gesundheitspolitiker sprechen zunehmend in der Sprache der Ökonomie. Aus Menschen werden "molekulare Systeme", aus Krankenhäusern "Forschungsressourcen" und aus der Politik eine "Beschaffungsagentur" für Pharmakonzerne und Joint-Venture-Unternehmen, alles im Namen eines "effizienten Gesundheitsmanagement".
Die Expo GmbH zeigt Verständnis für den "Wunsch nach dem perfekten Menschen", der durch die "Möglichkeiten des Klonens in greifbare Nähe gerückt" ist. Ein Gesellschaftsentwurf, der auf Vermeidung, Verhinderung und einem Verlassen all jener basiert, die nicht der Utopie von Gesundheit und Normalität entsprechen, hat wieder Hochkonjunktur.
Wer von einer leidfreien Gesellschaft träumt, steht immer in der Gefahr, Kranke auszusondern und auszumerzen. Aus der Überbetonung des Gesunden erwächst leicht die Herrschaft der Gesunden. Das gerade vorherrschende Wertesystem einer Gesellschaft entscheidet, wer abgewertet wird. Eine Gesellschaft wird nämlich nur jene abwerten, die das Gegenteil von dem verkörpern, was der Gesellschaft wert ist.

Grenzenlose Zurichtung als Programm

Im Laufe der Medizingeschichte hat sich eine Sichtweise auf den menschlichen Körper durchgesetzt, die diesen als mehr oder weniger funktionstüchtige Maschine begreift: resistent gegen Krankheiten, kaum mehr verschleißanfällig und mit unendlicher Lebenserwartung.
Im Themenfeld "Der Mensch" der Expo werden BesucherInnen in einem überdimensionalen menschlichem Körper herumlaufen können. "Auf den Spuren der Gen- und Hirnforscher begeben sich die Besucher in eine Reise nach innen", wandern "zu einem überdimensionalen Herzen", können "in die faszinierende Welt des Gehirns eintauchen" und "zu den Geheimnissen der Menschen vordringen, tiefer als je zuvor".
"Wunschziel" der Planer: unser virtuelles Spiegelbild "nach unseren Träumen verändern". Wenn das Gewordene Mängel aufweist, dann wird es halt neu gemacht. So die Botschaft, die auf der Expo vermittelt werden soll.
Die Zähmung und Züchtung des Menschen in nicht allzu ferner Zukunft ist noch unendlich wirkungsvoller mit Methoden, die nicht am Verhalten und am Bewusstsein, sondern an der biologischen Substanz ansetzen. Im begehbaren Menschen sollen die BesucherInnen "selbst Proteine herstellen und dabei die komplexen Funktionsmechanismen des genetischen Codes kennenlernen". So begreifen sie spielend: Partizipieren heißt Mitmanipulieren.
Im Themenbereich "Die Gesundheit" wird gefragt, welchen "Beitrag" die Gentechnologie zum "Management von Krankheit und Gesundheit" leistet. Deutlich wird, wie die Ausblendung der sozialen Hintergründe von Krankheit und der Individualisierung von Verantwortlichkeiten im Zusammenhang mit medizinischen Normen und ökonomischen Verwertungskriterien biopolitisch wirkt. Eine wichtige Ursache für Krankheiten - eine krankmachende Umgebung - wird nicht benannt. Bezeichnenderweise sind gerade die Krankheiten, bei denen durch gentechnologisch durchgeführte Diagnose- und Therapieverfahren der große Durchbruch erwartet wird, fast ausschließlich Zivilisationskrankheiten wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs und Diabetes.

Genetisches Doping

Nicht nur für Models gilt: Mein Körper ist mein Kapital. Die Sichtweise auf uns selbst als besitzbares Werkzeug hat zur Folge, dass wir dieses Werkzeug absichern müssen. Die Verwertungslogik fordert zudem, im Wettbewerb diese Werkzeuge ständig zu verbessern oder vor zukünftigen Unzulänglichkeiten zu bewahren. Der Wunsch, seinen Körperbesitz zu optimieren, ist Ansatzpunkt für die Versprechungen der Gentherapeuten.
Wer bezahlen kann, konsumiert Gesundheit nach dem Einbau- /Ersatzteilmodell. Der optimal zusammengesetzte, selbstbewirtschaftete Körper wird zum individuellen Privileg und Produktionsmittel.
Gentherapie ist der Oberbegriff für eine Vielzahl von Methoden, bei denen durch Verpflanzung von Genen ein heilender Effekt auf eine Krankheit erzielt werden soll. Unterschieden werden die somatische Gentherapie - der Gentransfer in Körperzellen - und die Keimbahntherapie oder Keimbahnmanipulation. Bei letzterer erfolgt der Gentransfer in die Keimzellen, also in Eizellen oder Spermien oder in frühe Embryonalzellen. Dieser Eingriff wird an die nachfolgenden Generationen weitergegeben und verändert sämtliche Zellen des Organismus mit dem Ziel, zukünftige Generationen qualitativ zu verbessern.
Der verengte Blick auf die Gene versperrt die Sicht auf die vielen anderen Facetten des Phänomens Krankheit: Psychosoziale Faktoren, krankmachende Konsum-, Arbeits- und Lebensumstände - all diese Aspekte geraten im Zuge des molekularen Denkens zur Nebensache. Die Folge ist eine Medizin, die den Menschen als molekulare Maschine begreift, die beliebig zu steuern, zu reparieren und zu programmieren ist.
Bisher wurde noch kein Mensch durch eine Gentherapie geheilt und dennoch findet eine kontinuierliche Ausweitung der Experimente auf immer neue Krankheitsbilder statt.

Gene für den Staatsschutz

Die Genomanalyse wird nicht zuletzt auch in Strafverfahren angewandt. Das Gläserne Labor in Berlin-Buch, eines der vielen dezentralen Expo-Projekte, vermittelt das "ABC der Gentechnik". Beim "Erlebnis Genforschung" können BesucherInnen hier "in die Rolle von Genforschern schlüpfen und gemeinsam mit Wissenschaftlern grundlegende gentechnische Versuche durchführen". Die DNA wird "mit einfachen Mitteln" isoliert und bearbeitet oder am virtuellen Tatort ein "Verdächtiger" wird via DNA-Fingerprinting überführt. Experimente für Schulklassen sind ein Angebot der Museumspädagogik und ein idealer Schachzug, um Mitmachbereitschaft zu erzeugen. In Miniatur wird hier popularisiert, was bereits gesellschaftliche Realität ist.
Ebenfalls an SchülerInnen richtet sich der Arbeitsbogen der Expo GmbH, auf dem lang und breit der genetische Fingerabdruck erklärt wird. Jeder Mensch verliert ständig Haare und Hautschuppen. Mit Hilfe von genetischen Rasterfahndungen kann innerhalb einer größeren Menschengruppe nach Tätern gefahndet werden. Statt mühsam Indizien zu sammeln oder in einem zeitraubenden Prozedere Fingerabdrücke abzugleichen, genügt eine winzige Spur und eine ausreichend große Datenbank, um Straftäter zu überführen - das ist zumindest die Hoffnung.
Während der genetische Fingerabdruck als Kontrollinstrument in der Einwanderungspolitik seit 1993 angewendet wird, ordnete der damalige Innenminister Kanther im April 1998 ohne gesetzliche Grundlage die Einrichtung einer zentralen DNA-Analyse-Datei zu Fahndungszwecken beim BKA an.
Mit der Einführung des DNA-Identitätsfeststellungsgesetzes und der Änderung der Strafprozessordnung wurden inzwischen die rechtlichen Voraussetzungen für die präventive Speicherung genetischer Fingerabdrücke in der zentralen Gendatei beim Bundeskriminalamt geschaffen. Mit Hilfe dieser Datei soll künftig automatisch jede an einem Tatort gefundene genetische Information gespeichert und mit den genetischen Fingerabdrücken in der Gendatei verglichen werden.
Die DNA-Analyse kann nun auch zwangsweise durchgeführt werden - ein Eingriff in das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit -, wenn jemand einer "Straftat von erheblicher Bedeutung" beschuldigt wird.
Doch die Träume der Polizeibehörden gehen längst weiter: Die Expo GmbH zitiert das Basler Kriminalkommissariat, das es "verlockend" findet, "von jedem Neugeborenen aus rein kriminalistischen Erwägungen gleich bei der Geburt das DNA-Profil zu nehmen".

Genetische Kontrolle

Heutzutage weiß kaum jemand, welche Daten in den elektronischen Netzen, etwa der Sozialversicherung, gespeichert sind. Daten über Gene verschärfen das Problem, weil ihre Aussagekraft und Glaubwürdigkeit besonders hoch eingeschätzt wird. Zugleich schwinden die Möglichkeiten zu kontrollieren, wer welche Informationen mit gentechnischen Methoden erhebt und in wessen Hände die persönlichen Gen-Daten gelangen. Denn schon ein verlorenes Haar oder ein Blutstropfen genügen für einen Gentest. Das "Recht auf informationelle Selbstbestimmung" wird so durch die enthemmte gentechnische Entwicklung ausgehöhlt.
In Island wurde mit dem Aufbau einer nationalen Gen-Datenbank begonnen. Wenn von der vorgeburtlichen Diagnose bis zu Krankheitsbild und Medikation, von der Röntgenaufnahme bis zu Blut- und Gewebeanalyse und zum Totenschein alles gespeichert, verknüpft und abgeglichen wird, dürfte die Datenbank auch andere interessieren: etwa die Pharmakonzerne, Krankenkassen, Gesundheitsplaner, Versicherungswirtschaft und nicht zuletzt die unternehmerische Personalpolitik.
Die Gentechnik wird kommen "wie ein Naturgesetz" (Expo- Beauftragter von Siemens). Schleichend verabschiedet sich die Politik - und die gesellschaftliche Gestaltung wird dem genetischen Code überantwortet.

Andreas Hechler

Empfohlene Literatur

Anti-Expo-Reader, Teil 1 und 2, Juni und August 1999; Bezug gegen jeweils 2 Mark zzgl. Porto über Anti-Expo-AG, c/o AStA Uni Hannover, Welfengarten 2c, 30167 Hannover.
alaska, Nr.228, Oktober 1999.
BioSkop, Zeitschrift zur Beobachtung der Biowissenschaften; Bezug über: BioSkop e.V., Bochumer Landstr. 144a, 45276 Essen.


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