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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.12 vom 08.06.2000, Seite 10

Reich werden im Schlaf?

Von den hohlen Versprechungen der "Aktienkultur"

Spätestens seit dem Börsengang der Telekom versuchen interessierte Kreise auch in der BRD mit aller Kraft ein "Börsenfieber" herbeizureden und zu schreiben. Am laufenden Band werden Erfolgsstories zum Besten gegeben; es wird der Eindruck vermittelt, als ob diejenigen, die (noch) nicht an der Börse spekulieren, zurückgebliebene Dummköpfe seien, die den Zug der Zeit nicht erkannt haben.
"Geldrausch" titelt Bild. "Machen Sie Ihre erste Million", fordert das Magazin DM seine Leser auf, "fangen Sie noch heute an reich zu werden."
Tatsächlich hat die Zahl der Börsenspieler beträchtlich zugenommen. Angeblich besitzen bereits über 5 Millionen Deutsche Aktien. In jenem Kreis finden sich nicht nur die klassischen "Besserverdienenden" (leitende Angestellte, Zahnärzte, Anwälte und Steuerberater). Auch mancher Busfahrer, Schichtarbeiter und Beamter des mittleren Dienstes ist den Verheißungen vom schnellen Geld gefolgt und hat einen Teil seiner Ersparnisse in Aktien umgeschichtet.
Tatsächlich verdienen z.B. Investmentbanker im Geschäft mit Aktien eine goldene Nase. Während in den Zweigstellen der Kreditinstitute tausende von Stellen wegfallen, kassieren sie unvorstellbare Summen ein. "Insgesamt gibt es etwa ein dutzend Banker in London und New York, die 100 Millionen Dollar oder mehr im Jahr verdienen", zitiert der Spiegel den Personalberater einer Headhunter-("Kopfjäger")-Agentur.
In Deutschland müssen die Investmentbanker sich noch mit weniger bescheiden. Aber auch hier verdienen sie mittlerweile bis zu 3 Millionen Mark im Jahr. Seit 1990 haben sich in Deutschland die Einkommen in dieser Branche versiebenfacht. Auch Börsenmakler kassieren nicht schlecht. In New York haben im Jahr 1997 rund tausend Börsenhändler und Geldmanager jährlich Bonuszahlungen von mindestens einer Million Dollar eingesteckt.
Nicht zu vergessen die Manager der großen Konzerne. Die Absahner aus der Vorstandsetage von DaimlerChrysler führen gerade vor wie das geht. Offenbar fühlt sich Jürgen Schrempp mit seinen rund 5,2 Millionen Mark unterbezahlt. Schon längere Zeit schielte er neidvoll auf seinen amerikanischen (Ex-)Vorstandskollegen Robert Eaton. Denn vor seinem Absprung mit dem "goldenen Fallschirm" in den Ruhestand kam dieser dank großzügiger Aktienoptionen auf ein jährliches Einkommen von über 20 Millionen Mark.
Nun hat der DaimlerChrysler-Vorstand für sich selbst ein gigantisches Selbstbereicherungsprogramm für Führungskräfte beschlossen. Der neue Aktienoptionsplan sieht Vorzugsaktien im Wert 12 Milliarden DM für die 6500 Führungskräfte vor. 15% dieser Summe sind für den 13-köpfigen Vorstand reserviert.
Aber wie ist es um die Chancen des Schichtarbeiters zu schnellem und nachhaltigen Reichtum mittels Börsenspekulation bestellt? Zwischen all dem Wortgeklingel über Erfolgsstories findet sich darauf auch im Spiegel ein verschämter Hinweis. "Doch wenn das nötige Spielgeld fehlt für das große Börsenmonopoly, weil von seinem Gehalt als Polizeimeister oder als Busfahrer am Ende des Monats nicht viel übrig bleibt, dem nützt die beste Anlagestrategie nichts."
Manche Untersuchungen kommen zu dem Ergebnis, dass die Kleinanleger mit Aktien unter dem Strich (nach Abzug von Depotgebühren und Provisionen) eher weniger verdienen als etwa mit Bundesschatzbriefen. Das gilt um so mehr angesichts der jüngsten Börsenturbulenzen. Sie deuten darauf hin, dass der Kurs der Hightechaktien durchaus nicht immer gerade nach oben zeigt.
Von institutionellen Anlegern werden die Kleinaktionäre als "Schlachtvieh" betrachtet. Denn bis sie bei einem Kurssturz reagieren, ist das Kind schon längst in den Brunnen gefallen. Wenn normale Lohnabhängige sich dennoch für Aktien begeistern, hat das zum einen mit illusionären Hoffnungen zu tun, die von interessierter Seite bewusst angefacht werden. Ähnlich wie beim Sechser im Lotto schwingt hier die Hoffnung mit, schnell und einfach den Mühen des Berufsalltags zu entkommen.
Doch die "Aktienkultur" macht das Los der Lohnabhängigen nur noch schwerer erträglich und stürzt sie in vermeintliche Widersprüche. Zugespitzt lässt sich sagen: Damit die Aktienkurse steigen, müssen Arbeitsplätze gestrichen werden. Für Analysten, die börsennotierte Unternehmen auf ihre Rentabilität abklopfen und professionellen Anlegern detaillierte Ratschläge geben, wo sie ihr Geld möglichst gewinnbringend anlegen können, zählt nur eins: die Rendite. Personal ist für sie lediglich ein Kostenfaktor.
Massenentlassungen tauchen bei ihnen unter der Rubrik "Headcount" (Köpfe zählen) in übersichtlichen, Profit versprechenden Grafiken auf. "Unilever will Rendite durch Stellenabbau steigern - 25000 Arbeitsplätze werden gestrichen", schrieb die Financial Times Deutschland im Februar.
Auch die Siemenstochter Infineon verdankt ihren Start als Börsenstar der Liquidierung der geltenden Tarifverträge. Seither gilt für 80% der Infineon-Beschäftigten wieder die 40-Stunden-Woche. Selbst ein IGM-Vorstandsmitglied hat diesen Vorgang als "fürchterlich" und "desaströs" bezeichnet.
Die Unternehmer wissen, warum sie unter den lohnabhängig Beschäftigten die Verbreitung einer "Aktienkultur" fördern wollen. "Von der direkten Beteiligung der Mitarbeiter an der Babcock Borsig AG versprechen Vorstand und Aufsichtsrat sich zudem positive Auswirkungen auf die Motivation der Mitarbeiter und ihre Identifikation mit dem Babcock Borsig-Konzern", heißt es im Aktionärsbrief des Unternehmens.
Wenn "Mitarbeiter" wie Börsenanalysten denken, haben Unternehmer allen Grund, sich die Hände zu reiben. Wer kann und will schon für das "eigene" Unternehmen Überstunden oder Wochenendarbeit verweigern? Oder einfach Urlaub in Zeiten verlangen, wo die Auftragsbücher überquellen und der Kunde auf sein Auto wartet?
Die "Mitunternehmer" passen gleichzeitig auf die übrigen Mitarbeiter auf und werden peinlich darauf achten, dass sie auch spurten, wenn es verlangt wird. Sie werden öfters ihre Zeigefinger erheben, wenn KollegInnen eine Zigaretten- oder Pinkelpause einlegen. Dass Vati oder Mutti am Wochenende nicht dem VW-Konzern gehören - dafür werden "Mitunternehmer" kein Verständnis haben.
Auch für KollegInnen, die mit dem Produktionstempo nicht immer zurechtkommen, werden diese "Mitunternehmer" kein Verständnis zeigen. Denn ihrer Aufmerksamkeit werden sie der Entwicklung des DAX und nicht den KollegInnen widmen. Wenn die Aktien des Konzerns fallen, dann sind die KollegInnen schuld, die nicht "gut genug produzieren" oder die "viel krankfeiern" und dadurch die "Lohnnebenkosten" erhöhen.
Wo "unternehmerisches Denken" herrscht, haben Gewerkschaften keine Chance. Es ist nachvollziehbar, dass Unternehmer eine Verbreitung derartiger Denkmuster in den Belegschaften nach Kräften fördern. Auch der "Genosse der Bosse", Bundeskanzler Gerhard Schröder, lobt "Mitarbeiterbeteiligung am Unternehmen" in höchsten Tönen. Er schwadroniert von einer zivilen "Teilhabe- Gesellschaft", in der "Mitarbeiter immer öfter Mitunternehmer" werden.
Schwerer wiegt, dass jetzt auch führende Gewerkschaftsfunktionäre auf dieser Welle reiten. "Es ist sinnvoll, den Gedanken der Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand wieder zu beleben", erklärt am 1.April das DGB-Vorstandsmitglied Heinz Putzhammer in der Frankfurter Rundschau.
Das war kein Scherz, und eine Woche später sekundierte der IG- BCE-Chef Hubertus Schmoldt der Berliner Zeitung, dass es für ihn "in der Frage der Beteiligung am Produktivkapital keine ideologischen Barrieren" gebe. Schließlich verkündete der "Chef" der größten Einzelgewerkschaft, Klaus Zwickel, am 14.April im Handelsblatt, die IG Metall werde "ihre Position zur Vermögensbildung neu definieren, dazu gehören Pensionsfonds genauso wie Aktien … Diese Einstellungen zu Börse und Aktien sind eine Volksbewegung geworden."
Die Deutsche Postgewerkschaft (DPG) ist gerade dabei, die Hirngespinste von Zwickel, Schulte und Schmoldt in Tarifpolitik zu gießen. Dem Mai-Heft ihrer Mitgliederzeitung Transparent ist zu entnehmen, dass die DPG sich mit dem Management von Post, Postbank und Telekom bereits einig ist: Telekom-Beschäftigte sollen bei der dritten Tranche der T-Aktie in den Genuss von Vergünstigungen kommen; für die Beschäftigten von Post und Postbank wird es Vorzugskonditionen beim Börsengang der Post AG geben. Im Gegenzug sollen die skandalös niedrigen Entgelterhöhungen des öffentlichen Dienstes zeit- und inhaltsgleich übernommen werden.
Das kommt einem Lohnstopp, wenn nicht sogar Reallohnabbau gleich - in einer Boombranche wie der Telekommunikation. Die Beschäftigten der Telekom können nicht darauf hoffen, den Lohnstopp durch kräftige Kursgewinne bei der Telekom-Aktie zu kompensieren. Denn seit dem Minikrach im April befindet sich die T-Aktie auf Talfahrt und hat 40% ihres Werts eingebüßt - ohne dass Aussicht auf einen Kursanstieg besteht.
Alles deutet auf eine Phase der Instabilität an den Börsen hin. Zwar konnten die schlimmsten Auswirkungen des Minikrachs noch einmal abgefangen werden, die Börseneuphorie hat sich jedoch deutlich abgekühlt. Wenn es nicht zu einem erneuten Höhenflug der Börsenkurse kommt, dürfte es den Gewerkschaftsführern in Zukunft schwerer fallen, den Beschäftigten das Projekt "Aktien in Arbeitnehmerhand" schmackhaft zu machen.
Damit würde für konsequente GewerkschafterInnen im Rahmen einer Strategie gegen die "Aktienkultur" künftig die Lohnfrage eine besondere Bedeutung bekommen. Schließlich war ein wichtiger Grund für den Höhenflug der Aktienkurse der Tiefflug der Löhne und Gehälter. Gerade in der jetzigen Phase der Hochkonjunktur wäre es wichtig, dies für Forderungen nach kräftigen Lohnerhöhungen zu nutzen.
Doch die diesjährige Tarifrunde hat - wie selten zuvor - in drastischer Weise die Mängel der offiziellen Gewerkschaftspolitik bloßgelegt. Es gibt ein Missverhältnis zwischen objektiven Möglichkeiten und den Erwartungen der Aktiven in den Betrieben einerseits und den Abschlüssen ohne Reallohnsteigerung andererseits.
Bei der IG Metall ist die Stimmung an der Basis schlecht. "Mit der IG Metall ist nichts mehr los!", sei die vorherrschende Stimmung in seinem Betreuungsbereich, berichtet ein Vertrauensmann eines Stuttgarter Betriebs (zitiert in Avanti, Nr.61, Mai 2000). Nach innen kann dieser Abschluss zu einem weiteren Verfall gewerkschaftlicher Aktivität und einem weiteren Rückzug der BasisaktivistInnen führen.
Auch andernorts, in der IG BCE oder auch der DPG werden die Zweifel an der offiziellen Gewerkschaftspolitik weiter wachsen. Dort verfügen die Gewerkschaften z.T. noch über einen recht hohen Organisationsgrad, der allerdings mit wenig Basisaktivitäten unterlegt ist. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis es hier zu massiven Austritten kommt.
Erklärlich wird das Verhalten der Gewerkschaftsführungen nur, wenn man die Wirkung des sog. "Bündnisses für Arbeit und Wettbewerbsfähigkeit" in Rechnung stellt. Die Gewerkschaftsführungen, die das Comanagement zu ihrer obersten Maxime gemacht haben, wollen jetzt auch noch dem Shareholder Value positive Seiten abgewinnen. Das bedeutet, dass sie faktisch einen Lohnstopp akzeptieren müssen. Mit dieser Verzichtspolitik stellen sie aber letztlich ihre eigene Existenz in Frage. Denn Verzichten können die Kolleginnen und Kollegen alleine. Dazu brauchen sie keine Gewerkschaften.

Franz Mayer


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