Sozialistische Zeitung |
Der Aufbau Europas folgt heute dem Diktat des Marktes und der Manager - mit Demokratie hat er nichts zu tun.
Wir wollen ein demokratisches und solidarisches Europa, das die Rechte jedes und jeder Einzelnen achtet.
Wir stellen fest: Unter dem Druck der Unternehmer und ihrer
europäischen Verbände (UNICE und European Round Table of Industrialists) setzt die Europäische Union (EU) den von den
Großen Wirtschaftspolitischen Leitlinien vorgegebenen Kurs fort - das bedeutet in erster Linie schwere soziale Rückschritte.
Unsere sozialen Errungenschaften, vor allem die Systeme der sozialen Sicherung und die sozialen Rechte, werden angegriffen und sollen
beseitigt werden.
Armut und ungeschützte Beschäftigung nehmen in großem
Umfang zu. Drei Millionen Männer, Frauen und Kinder haben in den 15 Mitgliedstaaten der EU keinen festen Wohnsitz, weil ihnen der
Zugang zu elementaren Rechten wie dem Recht auf Arbeit, auf existenzsicherndes Einkommen und Wohnung verwehrt wird. 60 Millionen
Menschen leben unterhalb der Armutsgrenze. Mehr und mehr sind die EinwohnerInnen in Europa damit konfrontiert, dass sie nach Ablauf eines
Arbeitsvertrags, nach einer Kündigung oder einem Arbeitsplatzwechsel eine Senkung ihres Einkommens zu befürchten haben. Das
Solidarprinzip in der Rentenversicherung wird in Frage gestellt. Vollmundig wird uns die Wiederherstellung der Vollbeschäftigung
angekündigt, aber es kommen dabei nur Billigjobs und ein Abbau von Errungenschaften heraus, die in sozialen Kämpfen erstritten
worden sind. Unter der Hand wird ein paralleler Arbeitsmarkt errichtet, auf dem keine Tarife mehr gelten, Teilzeitarbeit erzwungen wird,
Eingliederungsmaßnahmen zum Arbeitszwang werden, nicht mehr in den ersten Arbeitsmarkt führen, und das Recht auf den Bezug
von Lohnersatzleistungen in Frage gestellt wird. Die Regierungen subventionieren die Unternehmer, damit sie unterbezahlte Jobs schaffen.
Frauen haben unter den Folgen dieser Politik noch mehr zu leiden als Männer.
Wir akzeptieren nicht, dass Erwerbslose für ihre Situation
verantwortlich gemacht werden. Wir lehnen alle Maßnahmen, die Menschen in ungewollte Arbeit zwingen (workfare), ab. Wir fordern
von der Europäischen Union, den Regierungen ihrer Mitgliedstaaten und von den Unternehmern die Anerkennung eines Rechts auf ein
garantiertes, individuelles und existenzsicherndes Einkommen, ohne Unterschied des Alters, des Geschlechts oder der Herkunft. Es muss
Schluss damit sein, dass zwar die Verordnungen für die Märkte und die Unternehmen in der EU harmonisiert werden, der
Konkurrenzdruck auf Löhne und Sozialsysteme sich aber verstärkt und damit innerhalb der EU ein beispielloses Lohn- und
Sozialdumping in Gang gesetzt wird, das durch die Osterweiterung eine weitere massive Verschärfung erfahren wird.
Die Organisationen der Erwerbslosen und Billiglöhner in den
Mitgliedstaaten der EU haben eine Einkommensgrenze festgelegt, unter die kein Einwohner und keine Einwohnerin in der EU fallen darf. Weil
die Einkommensunterschiede zwischen den Ländern so groß sind, können wir diese Untergrenze heute nicht mit einem
einzigen Betrag ausdrücken, der in allen Ländern gleichermaßen gelten soll. Dennoch brauchen wir eine gemeinsame
Forderung, und eine solche ist auch möglich.
Wir schlagen vor, die Höhe eines solchen Mindesteinkommens, das
in jedem Land gelten soll, nach Kriterien festzulegen, die die Besonderheiten der einzelnen Länder und verschiedene
Maßstäbe für eine Einkommensuntergrenze berücksichtigt:
- der gerechte Anteil am gesellschaftlichen Reichtum (der bei uns als
Bruttoinlandspodukt pro Kopf ausgedrückt wird): die Hälfte des Wohlstands - 50%;
- die Befriedigung der elementaren Bedürfnisse, nicht nur zum
Überleben, sondern zum Leben und zur vollberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft;
- die sozialen Errungenschaften in den einzelnen Ländern, hinter die
wir nicht zurückfallen dürfen.
Eine solche Untergrenze muss jedes Jahr dem Zuwachs an Reichtum in den
Mitgliedstaaten angepasst werden. Der Reichtum muss wieder von oben nach unten umverteilt werden, damit die Menschen in Würde
leben können.
Sagen wir der Abwärtsspirale in die Armut den Kampf an! Setzen
wir für alle Arten von Einkommen Untergrenzen fest, unter die niemand fallen darf:
- Sozialleistungen - wir fordern individuelle Mindestleistungen ohne
Auflagen und Bedingungen;
- Löhne - wir fordern einen gesetzlichen Mindestlohn, wo der
tarifliche nicht reicht;
- Renten - wir fordern eine Mindestrente.
"Eine Arbeit ist ein Recht, ein Einkommen eine Pflicht" - dieses
Motto der französischen Erwerbslosenbewegung muss zu einem allgemein anerkannten Grundsatz in Europa werden.
Derzeit
bereitet die EU einen Grundrechtekatalog vor, der auf dem Gipfel in Nizza verabschiedet werden soll. Wir fordern, dass die sozialen Rechte in
den neuen Vertrag aufgenommen werden, der in Nizza verhandelt wird, vor allem das Recht auf Existenzsicherheit, auf freie Wahl eines
Arbeitsplatzes, auf gewerkschaftliche Betätigung, auf Wohnung, Gesundheit, Kultur, Bildung und auf ein existenzsicherndes Einkommen.
In Biarritz und in Nizza werden wir zusammen mit den sozialen
Bewegungen und den Gewerkschaften dafür kämpfen, dass die sozialen Rechte ernst genommen werden und Gesetzeskraft erhalten.
Die Europäischen Märsche rufen die Gewerkschaften, alle kämpfenden Bewegungen und alle, die die Rechte der
Leidtragenden der neoliberalen Politik verteidigen, sich in dieser entscheidenden Phase der Revision der europäischen Verträge
zusammenzuschließen und diese Forderungen zu verbreiten und einzuklagen.
Alle gemeinsam, bauen wir Dämme, um der
neoliberalen Offensive Widerstand zu leisten!
Paris, 27./28.Mai 2000