Sozialistische Zeitung |
Auf einer bundesweiten Arbeitskonferenz diskutierten am Wochenende 120 VertreterInnen von Erwerbslosen-
und Sozialhilfeinitiativen aktuelle Entwicklungen in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Dies ist das erste gemeinsame Treffen seit dem
Amtsantritt der "rot"-grünen Bundesregierung. Die Initiatoren, der Runde Tisch der Erwerbslosenorganisationen, hatte zur
Tagung eingeladen, um den neuen Ansatz "Arbeitplätze durch Billigjobs", den man heute bei allen Regierungen in Europa
beobachten kann, kritisch unter die Lupe zu nehmen.
Die Konferenz kam zum Ergebnis, dass die Billigjobpolitik nicht geeignet
sei, die Zahl der Arbeitslosen zu dezimieren. Die staatlich geförderte Ausweitung des Niedriglohnsektors führe vermehrt zu
Einkommen unter der Armutsgrenze und zur Absenkung des Tarifgefüges.
Darüber hinaus drohe durch die Pauschalierung von Leistungen und
durch Änderungen am Regelsatz der Sozialhilfe eine Absenkung des Sozialhilfeniveaus, insbesondere zu Lasten von Kindern und
Jugendlichen. Die Zusammenlegung der Arbeitslosenhilfe mit der Sozialhilfe scheint zwar in dieser Legislaturperiode nicht spruchreif, ist aber
keineswegs zu den Akten gelegt.
Die Forderung nach einem "existenzsichernden Einkommen für
Menschen mit und ohne Erwerbsarbeit" zog sich deshalb wie ein roter Faden durch die Konferenz. Die verschiedenen Modelle, die es
dazu gibt, wurden in einem eigenen Forum untersucht. Dessen Moderator, Harald Rein von der BAG unabhängige Erwerbslosengruppen
(BAG-E), konstatierte, es habe sich etwas verändert: Anfang der 90er Jahre sei die Forderung nach einem Mindesteinkommen noch
belächelt worden, nun gebe es immerhin eine breitere Debatte in vielen Ländern Europas.
Das dokumentierte auch die Teilnahme von Vertretern der Katholischen
Arbeitnehmerbewegung und der Nationalen Armutskonferenz, die sich ebenfalls mit Modellen zum Mindesteinkommen beschäftigen.
Die BAG-E und die Bundesarbeitsgemeinschaft der Sozialhilfeinitiativen
wollen in den kommenden Monaten die Forderung in einem Flugblatt näher erläutern. Es soll die Diskussion in den Initiativen vor
Ort anregen; die Initiatoren streben einen Kongress dazu im kommenden Jahr an, zu dem auch RentnerInnen und Beschäftigte geladen
werden sollen.
Von besonderer Bedeutung war die Teilnahme eines Vertreters der
Karawane für die Rechte der Flüchtlinge. Es ist trotz einiger Ansätze nicht gelungen, die Problematik Migration und
Arbeitsmarkt in die Konferenz zu integrieren. Andererseits ist diese auch so weitläufig, dass eine gesonderte Behandlung des Problems
angebracht wäre.
Immerhin konnte auf der Konferenz das Bewusstsein geschärft
werden, dass gegen Lohn- und Sozialdumping kein Kraut gewachsen sein wird, solange Menschen illegalisiert und auf dem Arbeitsmarkt wie
Sklaven behandelt werden können.
Bewusst haben die Teilnehmenden der Konferenz in fünf
Arbeitsgruppen die verschiedenen Einkommensarten untersucht und wie sie unter Druck geraten: die Sozialhilfe, die Arbeitslosenhilfe, die
Löhne. Es würde in die Irre führen, betrachtete man jedes einzelne Problem für sich und isoliert, wo es doch gerade
darum geht, den Gesamtplan zu veranschaulichen, der hinter den vielen einzelnen Angriffen steht, den Zusammenhang klar zu machen und eine
Gesamtstrategie dagegen zu entwerfen, die all Betroffenen und Bedrohten zu einigen versteht.
Für die "Einheit der Erwerbslosen" plädierte
deshalb massiv der Sprecher des Arbeitslosenverbands (ALV) Mecklenburg-Vorpommern, der auf die positiven Erfahrungen mit
Erwerbslosenparlamenten in Mecklenburg und in Thüringen verweisen konnte, die seit 1998 das gemeinsame Handeln aller auf dem
Arbeitsmarkt Dskriminierten und davon Ausgegrenzten organisieren.
Die Gesamtstrategie, wie sie auch von der Europäischen Union
zielgenau vorangetrieben wird, erläuterte Michel Rousseau vom Europäischen Sekretariat der Europäischen Märsche
(siehe S.11). Deren Verlautbarungen benennen immer sehr deutlich den Zusammenhang zwischen der Senkung der unteren Löhne und der
Senkung des Niveaus der Sozialhilfe.
Die Konferenz war sich dessen wohl bewusst: Sie hatte eine Reihe von
GewerkschafterInnen eingeladen, die berichten sollten, wie die Gewerkschaft sich gegen die Einführung von Billiglohn (z.B. in
Callcentern) zur Wehr setzt, wie sie auch versucht, mit der Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn (die NGG fordert 2500 DM brutto
im Monat) Schwächen der gewerkschaftlichen Gegenwehr auszugleichen.
Die Gewerkschaft ÖTV erhebt inzwischen offiziell die Forderung
nach einer sozialen Grundsicherung, Die Massenarbeitslosigkeit drückt auf die Löhne, die niedrigen Löhne wiederum
drücken auf das Niveau der Sozialhilfe. Dieser Teufelskreis bringt es mit sich, dass an allen Enden zugleich angesetzt werden muss, um
ihn zu durchbrechen.
An allen Enden aber sind die Schwächen groß. Die
Gewerkschaftsvertreter mussten sich viel Kritik anhören - an den jüngsten Tarifabschlüssen, die das Lohnniveau weiter
senken, und das in Zeiten boomender Konjunktur; an ihrer Beteiligung am Bündnis für Arbeit, das die Einführung eines
Billiglohnsektors auf der Tagesordnung hatte; auch an ihrer Beteiligung an den Modellprojekten, die nun in vier Bundesländern erprobt
werden.
Die Erwerbslosen andererseits mussten selbstkritisch feststellen, dass ihre
Mobilisierungsfähigkeit ziemlich auf den Hund gekommen ist. Da ist die Suche nach Kooperation mehr wert als die Zuweisung von
Schuld.
Eine gewerkschaftliche Strategie gegen Billiglohn wäre Dreh- und
Angelpunkt einer gemeinsamen Abwehr, doch die Gewerkschaften sind noch ziemlich weit davon entfernt, eine solche zu haben oder auch nur
zu wollen. Dennoch gab es Kooperationsangebote.
Renate Knapper vom Hauptvorstand der ÖTV sprach davon, dass die
Interessengemeinschaft der Beschäftigten und der Erwerbslosen eine materielle Grundlage habe und zählte auf, wo Positionen der
Konferenz von der ÖTV unterstützt würden: Ablehnung des Kombilohns, Ablehnung der Zusammenlegung von
Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe, der Einbau einer Sockelung (Mindestsicherung) in die Sozialversicherung. Das ist mehr, als manch andere
Gewerkschaft zu bieten hat; als praktischen Ansatz für gemeinsames Handeln vor Ort nannte sie die Zusammenarbeit mit den
Beschäftigten der Arbeitsämter.
Die BAG SHI nannte die Zusammenarbeit von Betriebsräten und
Sozialhilfeinitiativen in der Beratung solcher KollegInnen, deren Lohn unterhalb des Sozialhilfeanspruchs liegt - das könnte am ehesten
von der Initiative zur Vernetzung der Gewerkschaftslinken aufgegriffen werden. Für diese erklärte Heinz Günther Lang, sie
hätte ein "offenes Ohr für Fragen, die über den Betrieb hinausgehen" und sagte die Unterstützung von
Aktionen des Runden Tischs zu.
Trotz gemeinsamem Motto und gemeinsamer Zielsetzung konnte die
Konferenz noch keine zündende Idee für eine politische Kampagne erarbeiten. So bleibt zunächst die Kärrnerarbeit vor
Ort: Information, Aufklärung und möglicherweise Proteste gegen die Modellprojekte von Bund und Ländern, gegen die
Vermittlungspraxis der Arbeitsämter, gegen die Trainingsmaßnahmen, die oft eher der Ausgrenzung aus dem Leistungsbezug als der
Integration in reguläre Beschäftigung dienen.
Um die Bewegung der Erwerbslosen auf breitere Füsse zu stellen,
kündigte der Runde Tisch für die zweite Jahreshälfte Regionalkonferenzen an, mit denen er seine Arbeit und die Forderung
nach einem Mindesteinkommen einer größeren Anzahl von Betroffenen zugänglich machen will.
Auch die Öffentlichkeit soll wieder die Stimme der Erwerbslosen zu
hören bekommen: Die Organisationen stellten ihre Teilnahme an einer Demonstration der Initiative "Aufstehen gegen eine andere
Politik" zur Halbzeit der Bundesregierung in Berlin sowie die Mobilisierung gegen den Europäischen Regierungsgipfel in Nizza in
Aussicht.
Angela Klein