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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.13 vom 22.06.2000, Seite 11

Von Lissabon nach Nizza

EU bläst zum Angriff auf den Sozialstaat

Das einzige, was in der Öffentlichkeit vom EU-Gipfel in Lissabon hängen geblieben ist, war die Ankündigung, man wolle sich künftig voll für die Entfaltung der "neuen Ökonomie" engagieren. Es klang wie eine Propagandarede, in Wirklichkeit stellt es den bislang schärfsten Angriff auf den europäischen Sozialstaat dar. Bis zum EU-Gipfel in Nizza, der einen neuen Regierungsvertrag ausarbeiten soll, werden die Weichen gestellt.
Eine "Revolution" und "historische Wende" in der Wirtschaftspolitik nannten der britische und spanische Regierungschef, Tony Blair und José María Aznar, das Ergebnis des EU- Gipfels in Lissabon. Was war auf dem Gipfel, der eigentlich als "Nichtereignis" konzipiert war, passiert? Rodríguez Rato, Spaniens Wirtschaftsminister und Chefarchitekt des Deregulierungsprogramms, umschrieb es vor einem Forum über "Neue Ökonomie" in Madrid mit folgenden Worten: "Wir haben den Menschen vermittelt, was Fortschritt ist, und sie gelehrt, dies zu unterscheiden vom falschen Fortschrittsbegriff, den andere anbieten."
Der neue, "richtige" Fortschritt heißt Handy plus PC plus CD plus Internet. Das sind nicht nur neue Konsumgüter, die einen neuen Massenmarkt eröffnet haben; sie stehen nicht nur für einen neuen Wirtschaftszweig, der der Wirtschaftsentwicklung der 90er Jahre positive Anstöße gegeben hat und von der Industrie als Basis für ein neues Wirtschaftswunder gepriesen wird. Sie stehen im Diskurs der Regierenden und der Wirtschaft für ein "neues Kulturmodell", das sich in der Jugend eine eigene soziale Basis und somit einen neuen gesellschaftlichen Konsens verschafft.
Auf diesen "Fortschritt" werden alle Erwartungen in die Senkung der Erwerbslosigkeit gerichtet.

Die Wende von Lissabon

Zwischen der Orientierung auf die "neue Ökonomie" und dem Generalangriff auf den europäischen Sozialstaat besteht ein enger Zusammenhang. Das Tandem Blair- Aznar, das im Oktober 1999 vor dem Gipfel von Helsinki zur Irritation der anderen EU-Partner erstmals ein eigenes Dokument auf den Tisch gelegt hatte und nach dem Gipfel von Lissabon eine gemeinsame Stellungnahme dazu abgab, hat sich vor dem EU-Gipfel in Santa Maria da Feira erneut mit einer Art gemeinsamem "Offenen Brief" zu Wort gemeldet.
Einer der Kernsätze darin lautet: "Um eine lange [wirtschaftliche] Expansion durchzuhalten und die notwendigen Arbeitsplätze zu schaffen, muss Europa sich das Vertrauen der Märkte erhalten. Deshalb ist es so wichtig, die koordinierte Strukturreform voranzutreiben, die in Lissabon begonnen wurde, und die bereits im Gang befindliche Strukturreform auf nationaler Ebene zu beschleunigen. Deshalb ist es so wichtig die Sorte von Steuerharmonisierung und schwerfälliger Regulierung zu vermeiden, die Investitionen und Arbeitsplätze aus Europa vertreiben könnten."
Was war in Lissabon geschehen? Neben der Entscheidung, die Finanzmärkte der EU weiter zusammenzuführen und die "Neue Ökonomie" kurzfristig mit allen notwendigen Maßnehmen zu unterstützen, war eigentlich nur ein Zeitplan für die weitere Behandlung der "Reform" der Sozialversicherungen festgelegt worden. Die beschleunigte Zusammenführung der Märkte und "die Intensivierung der Konkurrenz erfordern, dass man sich der starren europäischen Strukturen (vor allem der sozialen) entledigt. Die in Lissabon beschlossenen Reformen stellen nur einen Anfang dar", resümierte die Financial Times am 25.März das Ergebnis des Gipfels.
Tony Blair zeigte sich über dessen Ausgang ganz glücklich: "Der Gipfel hat die Sozialpolitik der 80er Jahre hinter sich gelassen; er bezeichnet damit den Übergang von einer Politik der Wahrung der Recht der Beschäftigten zu einer aktiven Beschäftigungspolitik. Die Rolle der Regierungen wird sich ändern: sie werden sich weniger um den Schutz und mehr um Investitionen in Bildung und Ausbildung für die Neue Ökonomie kümmern. Das Ziel, in den nächsten zehn Jahren 20 Millionen Arbeitsplätze zu schaffen, ist realistisch, weil es freie Stellen gibt, das Problem ist, dass die Menschen nicht dazu ausgebildet sind, sie auszufüllen." EU-Kommissionspräsident Romano Prodi hob lobend hervor, die Kommission habe ein Mandat erhalten, die "Nachhaltigkeit der Rentensysteme zu prüfen".
Zu europäisieren und koordinieren ist der Abbau des Sozialstaats in den EU-Ländern. Dies soll kurzfristig geschehen. Die in Lissabon dazu beschlossenen Maßnahmen haben es in sich:
* Eine "Gruppe hochrangiger Experten" wurde damit beauftragt, "eine Studie über die künftige langfristige Entwicklung des Sozialstaats [zu erstellen], mit besonderem Augenmerk auf der Tragfähigkeit der Rentensysteme".
* Analog zum Prozess der Umsetzung der Großen Wirtschaftspolitischen Leitlinien wird ein solcher Prozess für die Sozialpolitik festgelegt: "Der Europäische Rat (die Staats- und Regierungschefs der EU) trifft sich in jedem Frühjahr, um über wirtschaftliche und soziale Fragen zu beraten." Interessanterweise werden nicht die Sozialminister, die es eigentlich angeht, über diesen Prozess wachen, sondern die Wirtschafts- und Finanzminister (Ecofin), die dies schon für die Wirtschaftspolitischen Leitlinien tun. Andere Ministerien können daran beteiligt werden, heißt es in der EU-Erklärung nach dem Gipfel, "aber es gibt keinen Bedarf nach neuen Prozeduren".
Jeder Anlauf, die Maastricht-Kriterien oder den Stabilitätspakt in Frage zu stellen, soll im Keim erstickt werden. Die EU-Kommission wird den genannten Gremien einen bilanzierenden Bericht vorlegen. Außerdem sollen, wie vor Jahren für den Beitritt zur Währungsunion und den Euro, Kriterien für die Sozialstandards definiert werden, nach denen die Güte eines Mitgliedstaats künftig bemessen wird. In der Erklärung heißt es: Es werden:
* "besondere Zeiträume zur Realisierung der kurz-, mittel- und langfristigen Ziele festgelegt";
* "quantitative und qualitative Indikatoren und Bewertungskriterien definiert, die sich an den Weltbestleistungen (best practices) orientieren;
* "diese europäischen Richtlinien in nationale und regionale Politiken mit jeweils spezifischen Zielsetzungen" (übersetzt) und
* "die erreichten Ergebnisse begutachtet und bewertet".
So wird auf jeden EU-Staat ein starker Druck ausgeübt, diesen Kriterien zu entsprechen.
Die Beschlüsse von Lissabon, die die Gewerkschaften und die Arbeiterbewegung in Alarm versetzen müssten, reihen sich nahtlos in die Grundsätze und die Logik der EU von Maastricht und Amsterdam ein.
Das Beschäftigungskapitel im Vertrag von Amsterdam enthielt das Ziel eines hohen Beschäftigungsniveaus, aber in Einklang mit den Großen Wirtschaftspolitischen Leitlinien. Diese aber sind festgelegt auf das Ziel, "die Lohnskala nach unten zu spreizen mit einer Senkung der Lohnkosten für wenig qualifizierte Tätigkeiten um 20-30%". Schon damals wurde festgestellt, dies erfordere "eine entprechende Kürzung der Lohnersatz- und der Sozialleistungen".

Der aktive Sozialstaat

Bei der Vorbereitung des Lissabonner Gipfels hatte die Runde der Sozialminister im Februar die neue Zielsetzung der Sozialpolitik formuliert: "prekäre Beschäftigung und soziale Ausgrenzung bekämpfen"; "die soziale Fürsorge modernisieren"; "vom Wohlfahrtsstaat zum aktiven Sozialstaat übergehen". Im Einzelnen bedeutet das:
Die Sozialleistungen stehen den Betroffenen nicht mehr automatisch und auch nicht allen zu; es gibt darauf kein Recht mehr, sondern es ist eine Gegenleistung dafür zu erbringen; die Gegenleistung kann vom Staat erzwungen werden, indem angedroht wird, dass die Leistung ganz oder teilweise ausgesetzt wird. Die Leistungen gelten nicht universell, sondern sind personengebunden.
Indem die "einzelne Person aktiviert" wird, wird sie für ihre Situation verantwortlich gemacht, vor der Gesellschaft und der Arbeitswelt an den Pranger gestellt. Blair hat es zu trauriger Berühmtheit gebracht, als er nach seiner Wahl forderte, alleinerziehende Mütter müssten für ihre Sozialhilfe arbeiten gehen. Die Sozialausgaben sollen auf diese Weise drastisch reduziert, ein Teil des Sozialsystems privatisiert werden.
Dabei stehen alle Sozialkassen unter Beschuss: die Leistungen an die Erwerbslosen, die Familienförderung, die Renten, die Gesundheitssysteme. Insbesondere auf die Renten hat es das Finanzkapital abgesehen.
Alle EU-Regierungen haben seit langem Schritte in diese Richtung eingeleitet, Die OECD berichtet regelmäßig darüber und sie sind ständiger Gegenstand der Beratungen der EcoFin.
Die Hürden auf diesem Weg sind allerdings hoch, weil der Sozialstaat Ergebnis von hundert Jahren Errungenschaften der Arbeiterbewegung und nach 1945 einen globalen, universellen und normativen Charakter angenommen hat. Er ist das Ergebnis massiver Kämpfe, tief in den Organisationen der Arbeiterbewegung verankert und materielle Grundlage eines diffusen Verständnisses von sozialer Gerechtigkeit. Natürlich ist er in den jeweiligen Ländern unterschiedlich ausgeprägt - was es schwer macht, eine zugleich europäische und konkrete Alternative zu entwickeln.
Den neuen gemeinsamen Vorstoß von Blair und Aznar, den Prozess zu beschleunigen, wird man vor diesem Hintergrund als Vorpreschen von zwei Musterschülern im Rahmen eines zwischen den EU- Regierungen bestehenden Konsenses zu interpretieren haben, der allerdings noch Interpretationsspielraum lässt. Es ist kein Zufall, dass er gleichzeitig mit dem Gipfeltreffen der EU-Unternehmer erfolgt, die darauf dringen, diesen nationalen Interpretationsspielraum weiter einzuengen.
Aber auch die möglichen Adressaten des Vorstoßes, Jospin und Schröder, befinden sich auf dem besten Weg: die Bundesregierung mit ihrer Rentenreform und den Plänen, die Arbeitslosenhilfe abzuschaffen; die französische Regierung mit ihrer Einschränkung der Arbeitslosenversicherung.

François Vercammen/d.Red.


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