Sozialistische Zeitung |
Der Kölner EU-Gipfel vom Juni 1999 hatte beschlossen, eine "Charta der Grundrechte der
Europäischen Union" zu erarbeiten. Damit soll dem bisherigen Prozess europäischen Integration ein Stück
Legitimität verschafft werden, die ihr so dringend fehlt.
Umstritten blieb, wie die Charta aussehen soll. Soll sie lediglich eine
feierliche Erklärung sein oder rechtliche Bindewirkung haben? Die führenden EU-Politiker vertraten unterschiedliche Meinungen.
Die Frage wurde deshalb auf einen späteren Zeitpunkt verschoben. Stattdessen setzte der Rat ein halbes Jahr später im finnischen
Tampere einen Konvent aus Vertretern der Regierungen, der nationalen Parlamente und des Europaparlaments ein, der einen Entwurf
ausarbeiten soll. Die Charta soll bis Oktober 2000 (EU-Gipfel in Biarritz) ausgearbeitet und vereinbart sein. Sie soll vom EU-Gipfel in Nizza
bestätigt werden.
Der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) und das Forum der
Sozialen NGOs haben einen eigenen Entwurf für eine Grundrechtecharta ausgearbeitet; er liegt vor und kann unter der Adresse http://www.etuc.org/fundrights abgerufen werden. Die Unterzeichneten begründen ihren Schritt
so:
Der Amsterdamer Vertrag habe Fortschritte in der Anerkennung der
Grundrechte gebracht, weil er auf die Achtung der Europäischen Menschenrechtskonvention als eine die EU bindende Verpflichtung
pocht. Der Vertrag sieht aber nur ein politisches, kein gerichtliches Durchsetzungsverfahren für den Fall vor, dass ein Mitgliedstaat die
Grundsätze der Union schwerwiegend verletzt. Der Europäische Gerichtshof ist nur für Menschenrechtsfragen in Verbindung
mit Handlungen der Union zuständig. Es gebe deshalb immer noch keinen realen und effektiven Schutz der fundamentalen Rechte.
In ihrem Alternativentwurf heißt es: "Einige meinen, eine neue
Charta sei nicht nötig, weil es bereits die Europäische Menschenrechtskonvention und die Europäische Sozialcharta gebe.
Doch diese Dokumente sind weder umfassend genug noch ausreichend rechtlich durchsetzbar, um den ganzen Kanon bürgerlicher,
politischer, sozialer und wirtschaftlicher Rechte zu garantieren. Eine EU-Grundrechtecharta gäbe zum erstenmal allen Menschen, die in
der EU leben, einen gemeinsamen Rahmen weit gespannter durchsetzbarer Rechte in die Hand."
Der Entwurf umfasst u.a. einen weitgespannten Katalog sozialer
Grundrechte. Die Unterzeichneten fordern, dass der Europäische Rat nach Anhörung der NGOs einen Fünfjahresplan zu ihrer
Umsetzung annimmt, in dem Fristen, Verfahren und Durchsetzungsmechanismen festgelegt sind (also einen Prozess analog dem für die
Kriterien von Maastricht).
Die sozialen Grundrechte betreffen den Schutz vor Diskriminierung jeder
Art in der Arbeitswelt, das Recht auf ein angemessenes Mindesteinkommen, Schutz bei und gegen Arbeitslosigkeit, Recht auf freie Berufswahl,
auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit, Gesundheitsschutz und Sicherheit am Arbeitsplatz, Koalitionsfreiheit, Mitbestimmung. Daneben
enthält der Entwurf "verbindliche politische Rechte", deren Durchsetzung von der Durchführung politischer Programme
abhängt: Recht auf Arbeit und Vollbeschäftigung, Schutz vor Entlassungen, Recht auf Bildung, Gesundheit, Wohnen, Schutz gegen
Armut, Mindestrente, Verbraucherrechte u.a.
Gegenüber der Sozialcharta, die die Europäischen
Märsche Anfang des Jahres in Brüssel entworfen haben, gibt es nur graduelle Unterschiede. Die Charta der Märsche ist weit
weniger präzise ausgearbeitet, enthält dafür eine Reihe von Forderungen zum Schutz gegen prekäre Arbeits- und
Lebensverhältnisse: gegen erzwungene Teilzeit, ungeschützte Beschäftigung, Arbeitszwang; für das Recht auf Transport
und Kommunikation, Energie, Wasser; Freizügigkeit und Papiere für alle.
Eine wichtige gemeinsame Grundlage ist die Forderung, dass die sozialen
Rechte mit in den Grundrechtekatalog aufgenommen werden und dass die Grundrechte individuell oder kollektiv rechtlich einklagbar sind.
Während EGB und NGOs jedoch eine "Postkartenaktion"
(!) beschlossen haben, um ihre Forderungen durchzusetzen, werden die Europäischen Märsche die sozialen Grundrechte zu einem
Schwerpunkt der Mobilisierung nach Nizza machen.
Angela Klein