Sozialistische Zeitung |
Post der etwas besonderen Art erhielten Anfang Juni viele Thüringer Arbeitslose. Einmal fragte das
Landesarbeitsamt Sachsen-Anhalt/Thüringen in einem Schreiben rund 3000 erwerbslose Fachkräfte, "ob sie sich vorstellen
könnten, in Baden-Württemberg zu arbeiten". Dort würden dringend Fachkräfte gebraucht, besonders im
Maschinenbau und in der Elektrotechnik. Stellenangebote an Thüringer für einen Arbeitsplatz im fernen Baden-Württemberg
würden "passend zu ihrer Qualifikation unterbreitet", Mobilitätshilfen wie Trennungs- und Umzugkostenbeihilfe sollten
"die Arbeitsaufnahme in einem anderen Bundesland" unterstützen.
Die andere Post kam vom DGB, der Arbeitsloseninitiative Thüringen
e.V., Beschäftigungsgesellschaften und weiteren Trägern auf dem 2.Arbeitsmarkt. Sie boten keine Unterstützung an, sondern
forderten die Erwerbslosen auf, sich am 14.Juni an der Großdemonstration für Arbeit und Beschäftigung vor der Messehalle
Erfurt zu beteiligen.
In der nagelneuen ega-Messehalle fand zur gleichen Zeit eine
Arbeitsmarktkonferenz des Thüringer Wirtschaftsministeriums statt, auf der u.a. die weiteren Linien der Arbeitsmarktpolitik im Freistatt
festgezurrt und auch gleich noch belobigt werden sollten.
Zu den neuen Leitlinien gehört eine strikte Abkehr von der
Arbeitsmarktpolitik der alten CDU/SPD-Landesregierung. Die war schon nicht ausreichend gewesen; die neue CDU-Alleinregierung will sie
nun aber gänzlich opfern zugunsten einer immer rigoroseren Hinwendung zur "Förderung des 1.Arbeitsmarkts".
Rund 3000 erwerbslose Frauen und Männer, Facharbeiter und
Ingenieure, Hochschulabsolventen und Jugendliche folgten am 14.Juni dem gemeinsamen Aufruf nach Erfurt.
Mit Bussen kamen sie aus ganz Thüringen, um "ihrem"
Wirtschaftsminister Schuster (CDU), der seit den Landtagswahlen im September 1999 außer für die Wirtschaft auch noch für
den Arbeitsmarkt zuständig ist, ihre Meinung zu seiner Politik zu sagen und notwendige Veränderungen zu fordern.
Thüringens DGB-Chef Frank Spieth konstatierte angesichts
"übriggebliebener" 219000 Erwerbsloser im Freistaat ein "Ende der Thüringer Arbeitsmarktpolitik".
Während Wirtschaftsminister Schuster und seine aufgeblähte
Presseabteilung eine Erfolgsbilanz nach der anderen verkünden, rechnete Spieth vor: Allein 1999 seien in Thüringen über
35000 sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze weggefallen. Seit April 1999 seien noch dazu 43000 Arbeitsplätze im
öffentlich geförderten Arbeitsmarkt gestrichen worden.
Statt jedoch unter dem Druck der immer lauteren Rufe nach
Effektivität angesichts solcher Zahlen seine Arbeitsmarktpolitik zu überdenken, regiere im Wirtschaftsministerium die Politik des
"Weiter so!".
Die "direkte Wirtschaftsförderung" ist eine heilige Kuh,
obwohl ihre Resultate vernichtend sind: Im vergangenen Jahr wurden über die Arbeitsmarktpolitik und über Instrumente wie die
OFW-Förderung über eine Milliarde Mark in die Thüringer Wirtschaft gepumpt, die Zahl der Arbeitsplätze aber hat
sich verringert, nicht erhöht!
Der 2.Arbeitsmarkt, die vielfältigen sozialen, kulturellen und anderen
Träger geraten dabei an den Rand ihrer Existenz - und viele Erwerbslose an den Rand des sozialen Abgrunds. Für Schuster und Co.
ist das jedoch kein Thema.
Schon jetzt ist es so, dass ABM, SAM und andere arbeitsmarktpolitische
Fördermaßnahmen in Thüringen höchstens für sechs Monate bewilligt werden, die keinen Anspruch auf
Arbeitslosengeld begründen. Gleichzeitig startet das Wirtschaftsministerium mit den Arbeitsämtern und privaten Unternehmern
abgestimmte Offensiven für Billigarbeitsplätze in Call-Centern oder bei Leiharbeitsfirmen. "Klare Perspektiven zur
Beschäftigungssicherung sind das nicht", erklärte da nicht nur Frank Spieth.
Unter großem Beifall der erwerbslosen DemonstrantInnen
übergab an diesem Vormittag der Präsident des Thüringer Erwerbslosnparlaments, Hans Hermann Hoffmann, dem
Wirtschaftsminister einen Forderungskatalog.
Dieser Katalog "Für mehr soziale Sicherheit und
öffentlich geförderte Beschäftigung" wurde im Mai auf der 5.Tagung des Erwerbslosenparlaments beschlossen. Die
Erwerbslosenparlamentarier fordern darin nicht weniger als die "Aufrechterhaltung und Verstetigung einer aktiven Arbeitsmarktpolitik
auf hohem Niveau; tarifliche Entlohnung in öffentlich geförderter Beschäftigung; nachhaltige Beschäftigungsprogramme
für Menschen ab 50 Jahre".
Zusammen mit diesen Forderungen unterbreiteten die Erwerbslosen
gleichzeitig praktikable Vorschläge für einen dauerhaften zweiten Arbeitsmarkt: z.B. die Entwicklung eines
"Jobrotationsprogramms", wo Erwerbslose zeitweilig, mindestens aber zwölf Wochen, auf qualifizierte Abeitsplätze
mit tariflicher Entlohnung kommen; tarifliche Jobangebote von den Arbeitsämtern, aber auch eine "Sozialpauschale" zur
Absicherung dringend notwendiger Arbeiten im kommunalen Sozialbereich.
Mit der Forderung nach einem thüringenweiten Sozialpass für
Bedürftige und der Verabschiedung eines Thüringer Ehrenamtsgesetzes, einschließlich finanzieller Absicherung,
bekräftigte das Thüringer Erwerbslosenparlament Positionen, die seit längerem auch von der parlamentarischen Opposition
im Thüringer Landtag erhoben werden.
Michael Gerstenberger, arbeitsmarktpolitischer Sprecher in der
Landtagsfraktion der PDS, bekräftigte in seiner Rede vor der Messehalle die Forderung der Erwerbslosen, es dürften den
Unternehmern nicht Milliardengeschenke ohne jede Arbeitsplatzgarantie gemacht werden; er verlangte klare Perspektiven zur
Beschäftigungssicherung und für mehr Arbeitsplätze im Land.
Wirtschaftsminister Schuster hatte zuvor noch versucht, den 3000
Erwerbslosen wortreich seine "neue Politik" schmackhaft zu machen, indem er "bessere Möglichkeiten auf dem
1.Arbeitsmarkt durch höhere Qualifikation" anpries. In seiner Weltfremdheit hat der Westimport Schuster aber nicht begriffen, dass
der 2.Arbeitsmarkt in Ostdeutschland eben nicht in erster Linie der Überleitung in den sog. 1.Arbeitsmarkt dient, sondern durch seine
öffentliche Förderung nichtprofitorientierter Arbeitsplätze eine neue, eigene Qualität erreicht hat, die es auch aus
sozialen Gründen zu verteidigen gilt.
Michael Gerstenberger nahm vielen Demonstrierenden weitere Illusionen,
als er erzählte, was denn auf der Arbeitsmarktkonferenz drinnen in der Messehalle wirklich diskutiert wurde. Da ging es nicht so sehr
darum, in Thüringen Arbeitsplätze zu schaffen als darum, die Menschen, besonders Jugendliche mit und ohne Lehrstelle zu
ermutigen, dahin zu gehen, "wo Arbeit ist". "Die wollen euch hier raus haben, damit ihre Statistik stimmt!"
Es bleibt zu hoffen, dass diese Großdemonstration ihre Wirkung auf
die Politiker wie auf die erwerbslosen Thüringer nicht verfehlt hat. Noch ist offen, ob spätestens im Herbst noch mehr Menschen
mit ihrer Empörung auf die Straße gehen, oder ob immer mehr "ihr Glück" in anderen Regionen versuchen, wie es
im Schreiben des Arbeitsamts Sachsen-Anhalt/Thüringen heißt.
gedo