Sozialistische Zeitung |
Wer träumt nicht davon, mit dem Zug nach Nizza zu fahren, ohne auch nur einen Pfennig dafür
bezahlen zu müssen? Eine bundesweite Initiative hat sich genau diese Forderung auf ihre Fahne geschrieben. Ihr geht es allerdings nicht
um Billigurlaub, sondern um den Aufbau einer neuen sozialen Bewegung auf europäischer Ebene.
In Nizza soll am 7. und 8.Dezember 2000 der EU-Gipfel stattfinden. Schwerpunkt sollen dieses Mal die institutionelle EU-Reform und die
Beratungen über eine Charta der Menschenrechte sein. Wie bei ähnlichen Großereignissen in den vergangenen Jahren werden
auch in Nizza Proteste von Arbeitslosen und Gewerkschaftlern erwartet. Für viele ist die Anreise ein großes Problem,
gehören sie doch nicht zu den finanzkräftigsten Teilen der Bevölkerung. Doch es geht um mehr als um "Zugfahren
für Lau", wie Heiner Gebhardt von der Initiative Gratiszug aus Bielefeld betont. Mit ihm sprach Peter Nowak.
Was habt ihr mit dem Projekt Gratiszug vor?
Der Gratiszug ist eine Aktionsform, die ein freies und kostenloses Leben
proklamiert, ein Leben entgegen der kapitalistischen Verwertungslogik, die davon ausgeht, dass alles zur Ware wird und damit seinen Preis hat.
Wir wollen über den Gratiszug zuerst eine bundesweite Diskussion führen. Die Idee ist hier ja im Gegensatz zu Frankreich und
Italien völlig unbekannt. Deswegen wollen wir die Idee zuerst einer möglichst breiten Öffentlichkeit zugänglich
machen und dann für den 7./8. Dezember einen Gratiszug nach Nizza organisieren.
Dann findet dort der EU-Gipfel statt, zu dem es auch eine europaweite
Demonstration gibt. Mit einem Gratiszug nach Nizza reisen heißt, in einen Zug ohne Fahrkarte zu steigen und nach Frankreich zu fahren
ohne zu bezahlen und ohne irgendwelche Papiere zu zeigen.
Damit wird durch die Aktion proklamiert, dass jeder Mensch ein Recht auf
freie Beförderung hat, unabhängig von seinem Status, Herkunft oder Geschlecht.
Auf welche Vorbilder im In- und Ausland stützt ihr euch dabei?
Wir stützen uns vor allem auf die Praxis der Gratiszüge in Italien und Frankreich. Der erste Gratiszug, den ich erlebt habe
war der Zug der Aktivisten aus Italien. 1997 zum Amsterdamer EU-Gipfel hatten etwa 2000-3000 Menschen in Mailand den Hauptbahnhof
besetzt und einen kostenlosen Zug nach Amsterdam gefordert. Den haben sie dann schließlich auch erhalten. Seitdem gab es eine ganze
Reihe von Gratiszugaktionen in Frankreich und Italien, aber auch in den Niederlanden und Großbritannien.
Zum EU-Gipfel nach Köln etwa sind 1200 Menschen aus Paris mit
einem Gratiszug nach Köln gefahren, ohne zu bezahlen oder Papiere zu zeigen. Zu diesem Zug wurde in Frankreich ein Jahr lang
öffentlich mobilisiert. Das ist unsere Orientierung an den ausländischen Genossen. Aber auch in der BRD gab es eine Zeit, als es
ein größeres Bewusstsein dafür gab, dass das Leben unbezahlbar, also gratis ist. Ich denke hier an die Aktionen zur
kostenlosen Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln, die Hausbesetzungen und vieles mehr.
Gab es erfolgreiche Versuche?
Jeder Versuch, der das Thema in die Öffentlichkeit bringt, ist in unseren Augen ein erfolgreicher Versuch. Es geht nicht an, dass
nur diejenigen die Privilegien der Freizügigkeit, des Reisens und der Mobilität genießen können, die die
entsprechenden finanziellen Mittel und den entsprechenden Pass besitzen. Freizügigkeit ist in unseren Augen ein universelles
Menschenrecht und es wird Zeit, dass wir beginnen es durchzusetzen.
Unseres Wissens gab es seit 1997 mindestens fünf international
ausgerichtete Gratiszugaktionen in verschiedenen europäischen Ländern. Vor allem in Frankreich und in Italien ist die Praxis tiefer
verankert und hat eine breitere Basis.
In Frankreich konnten die Arbeitslosenkollektive bspw. in einigen
Regionen durchsetzen, dass Arbeitslose und Arme kostenlos die öffentlichen Verkehrsmittel nutzen können.
In Italien gab es 1999, anlässlich einer europaweiten Sans-Papiers-
Demonstration einen öffentlichen "illegalen" Grenzübertritt von albanischen Oppositionellen, der in Italien die
rassistische Festung Europa thematisiert hat. Der Zug wurde zwar an der französischen Grenze gestoppt und kam nie in Paris an, die
Festung Europa war dafür in Italien Thema und wurde durch die offiziell organisierte Einreise durchbrochen.
Wie ist die bisherige Resonanz auf euren Aufruf?
Die erste Auflage unserer Broschüre, in der wir einen Diskussionsbeitrag von uns und Beispiele von Gratiszugaktionen aus
anderen Ländern veröffentlicht haben, ist bereits vergriffen und wir planen eine zweite Auflage.
Bisher sind es noch wenige Gruppem, die sich konkret vorstellen
können, so eine Aktion mitzumachen. Bisher gab es drei bundesweite Treffen, wo sich Gruppen getroffen haben, die auch an der Aktion
mitarbeiten werden.
Wir gehen davon aus, dass sich bald noch mehr Gruppen und
Einzelpersonen an der Vorbereitung aktiv beteiligen.
Wie realistisch sind die Chancen für die Umsetzung eures Projekts?
Es hängt natürlich davon ab, wieviele Menschen sich an der Aktion beteiligen. Aber selbst wenn es wenige sind, haben wir gute
Chancen, einen solchen Zug durchzusetzen.
Wir wollen auf jeden Fall eine öffentliche Kampagne für
diesen Zug organisieren, um das Thema in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit bekannt zu machen. Was dann geschieht, werden
wir sehen, aber wir gehen davon aus, dass wir im Dezember in Nizza gegen das Europa der Ausgrenzung und Verarmung demonstrieren
werden, und wir werden mit dem Zug dorthin fahren.
Kontakt:
ak Internationalismus, Infoladen "Anschlag", Heeperstr.132,
33607 Bielefeld, Fon (0521) 171253 (donnerstags 17-19 Uhr); http://people.knup.de/~akinter.