Sozialistische Zeitung |
Viele Linke verwechseln das Gegen-den-Strom-Stellen, immer noch die wichtigste Tugend im
antikapitalistischen Kampf, mit der Verkündung von leichtfertig zusammengebastelten Theorien über angeblich völlig neue
politische Realitäten. Waren es vor fünfundzwanzig Jahren gern mal linkslastige Schnellschüsse, wie die KBW-Parolen vom
Volk, das nach "links" gehe, oder das nach "links" Drängen der SPD durch die Entrismusübungen
verschiedener Gruppen aus der Familie der Trotzki-lesenden Linken, so überwiegen heute eher die resignativen Feststellungen
über die neue Rechts-Lage in Politik und Massenbewusstsein.
So wundert es nicht, dass selbst wichtige Gruppen der sonst so besonnen
analysierenden "TrotzkistInnen", die bei unübersichtlichen Entwicklungen gern dialektische Paradoxien zur Analyse
heranzogen, wie die berühmte Formel von Lenin und Trotzki über den Doppelcharakter der SPD als "bürgerlicher
Arbeiterpartei", zurzeit von dieser Differenziertheit nichts mehr wissen wollen, sondern den - der wievielte noch mal? -
endgültigen Übergang der SPD zur Partei des Kapitals erklären.
Unverhofftes Öl auf diese Feuerchen kommt jetzt vom alten Haudegen
und Chefideologen des Handelsblatts, Hans Mundorf, der bisher unermüdlich den Klassencharakter dieser Gesellschaft aus Sicht der
herrschenden Klasse analysiert hat. Er macht sich Sorgen über seine geliebte SPD, die sonst immer seine Wünsche und
Aufträge zur Sicherstellung des sozialen Friedens und der bürgerlichen Klassenherrschaft erfüllt hat.
"Niemals war die SPD für Freund und Feind ohne ihre
sozialistische Programmatik denkbar. Sie war seit ihrem Bestehen die Partei des kleinen Mannes, die diesen gegen das Großkapital in
Schutz nahm. Deshalb wurde sie gewählt oder bekämpft. Sie war nie missverständlich." Aber jetzt, so Mundorf,
hätte die SPD ein kafkaeskes Erlebnis in umgekehrter Reihenfolge erschüttert: sie ist eines Morgens nach ihrem Wahlsieg von 1998
aufgewacht und wäre von einem "ungeheueren ideologischen Käfer in einen Handelsreisenden verwandelt, der die diversen
Waren seines Bauchladens an allen Haustüren feilbietet."
Wem diese leichte Unzucht mit Metaphern den Blick verstellt, der oder
dem listet Mundorf noch schöne Zitate aus den Programmen der SPD von 1875 in Gotha bis 1959 in Bad Godesberg auf. Abschaffung
aller indirekten Steuern und eine einzige progressive Einkommensteuer wird dort gefordert; Überführung der Großbetriebe in
Gemeineigentum und eine planmäßige Lenkung und gemeinwirtschaftliche Gestaltung. Aber 1998 sei alles anders: die große
Kapitalgesellschaft "ist der SPD liebstes Kind"; das Rentenniveau wird "drastisch gesenkt" und durch den
zusätzlichen als "privat deklarierten Beitrag" den Arbeitnehmern einseitig verteuert. Und die "Öko-Steuer"
kommt als neue große indirekte Steuer über die Einkommen der kleinen Leute.
Mundorf sieht jetzt alle Parteien als beliebig austauschbar und allein
"das Bekenntnis zum ‚politischen Nihilismus" würde die SPD unterscheiden. Hans Mundorfs Fazit ist dann allerdings
von grandiosem Nihilismus durchzogen: "Vielleicht werden eines Tages selbst die Parteien fusionieren, mit allen Synergieeffekten eines
damit verbundenen Politikerabbaus."
Zeitgleich blickt der Spiegel besorgt - "Ob das auf Dauer gut
geht?" - auf die völlige Abwesenheit einer SPD-Linken. "Nachdem wir ein Jahr gejagt worden sind, will man auch mal seine
Ruhe haben", wird dort der "Linke" Ottmar Schreiner zitiert. Wir können noch den Kölner DGB-Chef und
Bundestagabgeordneten Konny Gilges anfügen: "Wir haben nach dem Wahlsieg sechs Monate gekämpft, jetzt sind wir
müde", erklärte er auf einer Kölner Veranstaltung zum ersten Dreiviertel-Jahr der rot-grünen Regierung.
Und der "linke" Clown Oskar fordert den Oppositions-
Fraktionsvorsitzenden Merz entgeistert auf: "Wenn nämlich Rot-Grün, wie geschehen, ein CDU-FDP-Modell vorlegt,
könnten Sie und Ihre Union das staunende Publikum mit einem Vorschlag überraschen, den viele Sozialdemokraten
befürworten."
All das mag die heutige Linke begierig aufnehmen, in ihrer Suche nach
Bestätigung. Doch so wie früher die demagogische Sozialpropaganda der "sozialistischen SPD" nichts als
Nebelwerferei war, so wird heute der Blick durch grell aufgestellte Scheinwerfer "Wir sind die neue Partei des Kapitals"
gleichermaßen eingeschränkt. Die historisch-soziale Funktion der Sozialdemokratie, die unterdrückten Klassen mit dem
herrschenden System zu versöhnen, ist erheblich komplexer. Und das wirkliche soziale Verhältnis der Millionen
Lohnabhängigen zu einer solchen "reformistischen" Massenpartei entwickelt sich in langsameren Rhythmen, als es die
mediale Welt von heute wahrhaben will.
Dazu abschließend nur ein paar statistische Fundstücke der
letzten Wochen, die ohne die Existenz einer solchen "Partei mit Doppelcharakter" erheblich anders ausfallen würden:
"Gewerkschafter sorgen für Mehrheiten" stellt die Forschungsgruppe Wahlen fest. Bei den Landtagswahlen in Schleswig
Holstein hätte Rot-Grün bei den Gewerkschaftsmitgliedern eine Mehrheit von 66% erhalten, wenn nur die SPD-Gewerkschafter
gewählt hätten, wären es noch 54%. Bei den Wahlen in NRW hat die SPD 61% der Gewerkschafterstimmen erhalten. Der
gewerkschaftliche Organisationsgrad bei den WählerInnen beträgt in Schleswig-Holstein gerademal 17% und in NRW 21%.
Das Institut der deutschen Wirtschaft beklagt Bewusstseinssprünge
bei den Menschen: 21% der Menschen hätten die "soziale Marktwirtschaft" persönlich als fatal erlebt, aber Zwei
Drittel halten das Adjektiv "sozial" für völlig unangebracht; 58% halten den Interessengegensatz zwischen Kapital und
Arbeit für unversöhnlich; 68% verbinden mit Menschlichkeit eher die sozialistische Planwirtschaft als die Marktwirtschaft; 41%
halten erstere für gerechter als letztere.
Vorsicht, also, vor analytischen Schnellschüssen.
Thies
Gleiss