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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.17 vom 17.08.2000, Seite 14

Vom Käfer zum Handlungsreisenden

Viele Linke verwechseln das Gegen-den-Strom-Stellen, immer noch die wichtigste Tugend im antikapitalistischen Kampf, mit der Verkündung von leichtfertig zusammengebastelten Theorien über angeblich völlig neue politische Realitäten. Waren es vor fünfundzwanzig Jahren gern mal linkslastige Schnellschüsse, wie die KBW-Parolen vom Volk, das nach "links" gehe, oder das nach "links" Drängen der SPD durch die Entrismusübungen verschiedener Gruppen aus der Familie der Trotzki-lesenden Linken, so überwiegen heute eher die resignativen Feststellungen über die neue Rechts-Lage in Politik und Massenbewusstsein.
So wundert es nicht, dass selbst wichtige Gruppen der sonst so besonnen analysierenden "TrotzkistInnen", die bei unübersichtlichen Entwicklungen gern dialektische Paradoxien zur Analyse heranzogen, wie die berühmte Formel von Lenin und Trotzki über den Doppelcharakter der SPD als "bürgerlicher Arbeiterpartei", zurzeit von dieser Differenziertheit nichts mehr wissen wollen, sondern den - der wievielte noch mal? - endgültigen Übergang der SPD zur Partei des Kapitals erklären.
Unverhofftes Öl auf diese Feuerchen kommt jetzt vom alten Haudegen und Chefideologen des Handelsblatts, Hans Mundorf, der bisher unermüdlich den Klassencharakter dieser Gesellschaft aus Sicht der herrschenden Klasse analysiert hat. Er macht sich Sorgen über seine geliebte SPD, die sonst immer seine Wünsche und Aufträge zur Sicherstellung des sozialen Friedens und der bürgerlichen Klassenherrschaft erfüllt hat.
"Niemals war die SPD für Freund und Feind ohne ihre sozialistische Programmatik denkbar. Sie war seit ihrem Bestehen die Partei des kleinen Mannes, die diesen gegen das Großkapital in Schutz nahm. Deshalb wurde sie gewählt oder bekämpft. Sie war nie missverständlich." Aber jetzt, so Mundorf, hätte die SPD ein kafkaeskes Erlebnis in umgekehrter Reihenfolge erschüttert: sie ist eines Morgens nach ihrem Wahlsieg von 1998 aufgewacht und wäre von einem "ungeheueren ideologischen Käfer in einen Handelsreisenden verwandelt, der die diversen Waren seines Bauchladens an allen Haustüren feilbietet."
Wem diese leichte Unzucht mit Metaphern den Blick verstellt, der oder dem listet Mundorf noch schöne Zitate aus den Programmen der SPD von 1875 in Gotha bis 1959 in Bad Godesberg auf. Abschaffung aller indirekten Steuern und eine einzige progressive Einkommensteuer wird dort gefordert; Überführung der Großbetriebe in Gemeineigentum und eine planmäßige Lenkung und gemeinwirtschaftliche Gestaltung. Aber 1998 sei alles anders: die große Kapitalgesellschaft "ist der SPD liebstes Kind"; das Rentenniveau wird "drastisch gesenkt" und durch den zusätzlichen als "privat deklarierten Beitrag" den Arbeitnehmern einseitig verteuert. Und die "Öko-Steuer" kommt als neue große indirekte Steuer über die Einkommen der kleinen Leute.
Mundorf sieht jetzt alle Parteien als beliebig austauschbar und allein "das Bekenntnis zum ‚politischen Nihilismus‘" würde die SPD unterscheiden. Hans Mundorfs Fazit ist dann allerdings von grandiosem Nihilismus durchzogen: "Vielleicht werden eines Tages selbst die Parteien fusionieren, mit allen Synergieeffekten eines damit verbundenen Politikerabbaus."
Zeitgleich blickt der Spiegel besorgt - "Ob das auf Dauer gut geht?" - auf die völlige Abwesenheit einer SPD-Linken. "Nachdem wir ein Jahr gejagt worden sind, will man auch mal seine Ruhe haben", wird dort der "Linke" Ottmar Schreiner zitiert. Wir können noch den Kölner DGB-Chef und Bundestagabgeordneten Konny Gilges anfügen: "Wir haben nach dem Wahlsieg sechs Monate gekämpft, jetzt sind wir müde", erklärte er auf einer Kölner Veranstaltung zum ersten Dreiviertel-Jahr der rot-grünen Regierung.
Und der "linke" Clown Oskar fordert den Oppositions- Fraktionsvorsitzenden Merz entgeistert auf: "Wenn nämlich Rot-Grün, wie geschehen, ein CDU-FDP-Modell vorlegt, könnten Sie und Ihre Union das staunende Publikum mit einem Vorschlag überraschen, den viele Sozialdemokraten befürworten."
All das mag die heutige Linke begierig aufnehmen, in ihrer Suche nach Bestätigung. Doch so wie früher die demagogische Sozialpropaganda der "sozialistischen SPD" nichts als Nebelwerferei war, so wird heute der Blick durch grell aufgestellte Scheinwerfer "Wir sind die neue Partei des Kapitals" gleichermaßen eingeschränkt. Die historisch-soziale Funktion der Sozialdemokratie, die unterdrückten Klassen mit dem herrschenden System zu versöhnen, ist erheblich komplexer. Und das wirkliche soziale Verhältnis der Millionen Lohnabhängigen zu einer solchen "reformistischen" Massenpartei entwickelt sich in langsameren Rhythmen, als es die mediale Welt von heute wahrhaben will.
Dazu abschließend nur ein paar statistische Fundstücke der letzten Wochen, die ohne die Existenz einer solchen "Partei mit Doppelcharakter" erheblich anders ausfallen würden: "Gewerkschafter sorgen für Mehrheiten" stellt die Forschungsgruppe Wahlen fest. Bei den Landtagswahlen in Schleswig Holstein hätte Rot-Grün bei den Gewerkschaftsmitgliedern eine Mehrheit von 66% erhalten, wenn nur die SPD-Gewerkschafter gewählt hätten, wären es noch 54%. Bei den Wahlen in NRW hat die SPD 61% der Gewerkschafterstimmen erhalten. Der gewerkschaftliche Organisationsgrad bei den WählerInnen beträgt in Schleswig-Holstein gerademal 17% und in NRW 21%.
Das Institut der deutschen Wirtschaft beklagt Bewusstseinssprünge bei den Menschen: 21% der Menschen hätten die "soziale Marktwirtschaft" persönlich als fatal erlebt, aber Zwei Drittel halten das Adjektiv "sozial" für völlig unangebracht; 58% halten den Interessengegensatz zwischen Kapital und Arbeit für unversöhnlich; 68% verbinden mit Menschlichkeit eher die sozialistische Planwirtschaft als die Marktwirtschaft; 41% halten erstere für gerechter als letztere.
Vorsicht, also, vor analytischen Schnellschüssen.

Thies Gleiss


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