Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.18 vom 31.08.2000, Seite 7

Auf der Suche nach der verlorenen Zukunft

Kommune-Bewegung als alternative Lebens-/Arbeitsform

Politiker, Soziologen und GewerkschafterInnen streiten sich angesichts der zunehmenden Globalisierung, forcierten Rationalisierung und kontinuierlichen Umstrukturierungen sowie der damit verbundenen Massenerwerbslosigkeit um die Variante der Zukunft jenseits der "Arbeitsgesellschaft". Dritter Sektor, Dreischichtenmodell, Bürgerarbeit, neues Ehrenamt und Stärkung von Selbsthilfe und "alternativer Wirtschaft" jenseits oder zwischen Markt und Staat werden als Allheilmittel gegen die Erwerbslosigkeit gepriesen, oft sind sie nur alter Wein in neuen Schläuchen. Aus alternativ-ökonomischer Sicht wird Kritik an den herrschenden kapitalistischen Arbeitsbedingungen notwendig, die sich sowohl auf die bezahlt geleisteten Arbeiten in Produktion und Verwaltung, als auch auf Organisation, Struktur und Verteilung von unbezahlten Haus- und Sorgearbeiten in Familien und anderen Lebensformen richtet. Konzepte, die von dieser umfassenden Kritik ausgehen, sind noch selten. Beispiele, für gelebte Experimente, sind kommunitäre Lebens-/Arbeitsformen.
Kommunen sind die wohl radikalste Form des gemeinsamen Wirtschaftens und des anderen Lebens. In Kommunen schließen sich Menschen mit gleichen oder ähnlichen Interessen zu überschaubaren sozialen Einheiten, Lebens- und Arbeitsgemeinschaften zusammen, um gemeinsam Dinge zu tun, die sie alleine gar nicht tun können oder tun wollen, und weil sie mit anderen zusammen leben, ganzheitlich und ohne patriarchale Hierarchien solidarisch arbeiten und handeln wollen. Sie entwickeln neue Formen der Selbsthilfe und gegenseitigen Hilfe. Meist grenzen sie sich von kleinfamilialen Lebensformen ab und finden eigene Regelungen. Kommunen bilden Gegenkulturen außerhalb von institutionalisierten Betriebsverfassungen und ohne Heiratsurkunden.
Historisch gesehen sind Kommunen keine neue Erfindung. Kommunen gibt es mindestens solange, wie unsere Industriegesellschaft besteht. Man denke an die Utopien von Owen, Fourier u.a. . Die PionierInnen der Kommunebewegung kämpften gegen abstrakten Individualismus, gegen Atomisierung und gegen den Verlust des sozialen Kontextes in der Betrachtung der Individuen. Damit forderten sie auch eine Abkehr von der Konkurrenzgesellschaft hin zu einer fürsorgenden Gemeinschaft zwischen Frauen und Männern und Kindern.
In Westdeutschland machte die aus den Protestaktionen der Studierendenbewegung entstandene Kommunebewegung Ende der 60er Jahre von sich Reden. Kommunen gaben an vielen Orten den Impuls, die Idee des befreiten Menschen und der humanen Gesellschaft in subkulturellen Milieus zu verwirklichen. In der Zwischenzeit sind die Inseln des alternativen Lebens beinahe in Vergessenheit geraten. Und doch gab und gibt es sie weiter. Seit den 90er Jahren scheint das Interesse wieder groß. Nicht mehr nur ganz junge Leute schließen sich in Gruppen zusammen und stellen die Frage nach dem Sinn des Lebens und des Arbeitens in einer neoliberalen profitorientierten Ellbogengesellschaft. Einheitliche Konzepte für kommunitäre Lebensformen gibt es freilich nicht. Auch die KommunardInnen selbst haben vielfältige Definitionen für ihre Lebensform. Allen gemeinsam ist sicherlich: "Mehrere Personen, zumeist nicht miteinander blutsverwandt, schließen sich zusammen, um gemeinsam zu arbeiten und zu leben" (Rolf Schwendter).
Marxisten und andere Linke haben die Kommunebewegung oft als unpolitische Flucht vor der gesellschaftlichen Verantwortung gegeißelt. Sie warfen den AktivistInnen vor, am Rande des kapitalistischen Patriarchats ihre utopischen Inseln aufzubauen, um ihre Träume von einer besseren Welt ohne Angst und Unterdrückung zu verwirklichen, aber ohne etwas gegen die Unterdrücker zu unternehmen. Selbst AutorInnen, die sich mit alternativer Wirtschaft auseinandersetzen, kritisieren, dass die Kommunebetriebe Teil des patriarchalischen kapitalistischen Umfelds sind und die Entfremdung der Arbeit durch oder in Kommunen nicht grundsätzlich aufgehoben wird. Sie tun dies, ohne nach den Ansprüchen und Möglichkeiten der jeweiligen Kommune zu fragen.
Das beschriebene Reibungsverhältnis ist alt, mindestens so alt wie die Kommunebewegung. Freilich kann das Problem der fortschreitenden Entfremdung, Rationalisierung, Technisierung und Mediatisierung unserer Lebens- und Arbeitswelt weder durch Selbstversorgung auf einem Bauernhof noch durch Selbstverwaltung in einer Unternehmung gelöst werden. Dennoch können die Kommunen und Lebensgemeinschaften als Beispiele für gelebte Utopien eines sinnvollen selbstbestimmten, antipatriarchalischen, kollektiv-organisierten Arbeitslebens dienen.
Kommunen sind Suchbewegungen und Versuche gegen die fortschreitende Zerstörung der menschlichen Mit- und Umwelt, gegen die Ausgrenzung von Andersdenkenden und gegen die sozialen und die geschlechterspezifischen Ungleichheiten. Kommunen sind keine einheitlichen Gebilde. Sie haben viele Gesichter. Viele der Menschen, die dort leben und arbeiten, sind unermüdlich, stellen sich den Herausforderungen der GrenzgängerInnen und versuchen aus Träumen Leben werden zu lassen. Und das, obwohl heute utopisches Denken nicht gerade hoch im Kurs steht.
In Veröffentlichungen wird immer wieder kritisiert, dass es überwiegend AkademikerInnen sind, die an solchen "gesellschaftlichen Nischenexperimenten" teilhaben. Heute gibt es aber auch HandwerkerInnenkommunen, die zum großen Teil aus FacharbeiterInnen bestehen (z.B. die Kommune Buchhagen).

Kommune Niederkaufungen

Das Beispiel der seit 1986 bestehenden links-alternativen Kommune Niederkaufungen zeigt, dass politische Zielvorstellungen keineswegs aufgegeben sind. Wer dort lebt, hat sich mit den Grundsätzen, die sich die Kommune selbst gegeben hat, einverstanden erklärt. Diese sind:
1. Die gemeinsame Ökonomie: "Gemeinsame Ökonomie" bezeichnet selbstbestimmtes wirtschaftliches Handeln zur Absicherung der materiellen Bedürfnisse der an ihr beteiligten Menschen. Die Einnahmen kommen aus den Betrieben, landwirtschaftlicher Produktion, aus Marktverkäufen sowie aus der Subsistenzarbeit. Gemeinsame Ökonomie schließt Besitzunterschiede und individuelle Rücklagen aus, heißt auch, dass Erbschaften Gemeineigentum werden. "Gemeinsame Ökonomie" ist die Umsetzung der sozialistischen Forderung nach Abschaffung des Privateigentums.
2. Gemeinsam leben und kollektiv arbeiten: Allein von Subsistenzwirtschaft könnten die KommunardInnen nicht überleben. Zum glücklichen Leben gehört auch ein bißchen Geld für Nahrung, Kleidung, Um- und Ausbau der Häuser und Anschaffungen.
3. Nachhaltig wirtschaften: Die (meisten) KommunardInnen haben von vornherein nicht den Anspruch, alleine von Selbstversorgung zu leben. Sie betrachten Geld als ein Tauschmittel. Alle Werkzeuge und Maschinen gehören den KollektivistInnen gemeinsam und niemand kann einen anderen für sich arbeiten lassen. "Nachbarschaftshilfe" und Tauschgeschäfte sind meist selbstverständlich. Die zur Kommune gehörenden Betriebe überlegen sorgfältig, mit welchen Materialien sie arbeiten und wem die erstellten Produkte zugute kommen.
4. Entscheidungsfindung im Konsens: Alle Entscheidungen werden im Konsens getroffen. Das erfordert einen oft aufwendigen Diskussionsprozess, der während der wöchentlich (mitunter auch öfter) stattfindenden Plenumssitzungen geführt wird. Es wird versucht, sie in kollektiven Lernprozessen zu bearbeiten. Die Kompetenzen, die für solche Lernprozesse notwendig sind, müssen sich die KommunardInnen teilweise erst aneignen, denn sie werden (bis heute) weder in der Schule noch in der Ausbildung gelernt.
5. Abbau kleinfamiliärer Strukturen: Durch das Zusammensein unterschiedlicher Menschen in der Gruppe, erfahren sie die Summierung verschiedener Fähigkeiten, Ideen und Fantasien. Viele, auch einige der in der Kommune aufgewachsenen Jugendlichen, können sich kleinfamiliäre Lebensweisen nicht mehr vorstellen.
6. Gemeinsame Kindererziehung: Die Kommune Niederkaufungen betreibt eine "sozial-integrative Kindertagesstätte". Sie arbeitet altersgemischt, mit Kindern, die zwischen ein und sieben Jahren alt sind, und integrativ, d.h. mit Behinderten und Nichtbehinderten. In anderen Kommunen ermöglicht die übersichtliche Gruppenstärke vielschichtige soziale und emotionale Kontakte. Das kommt vor allem der Selbständigkeit der Kinder zugute. Es löst die Fixierung auf die eigene Mutter.
7. Abbau geschlechtshierarchischer Strukturen: In den meisten Kommunen beweisen sich die Männer ebenso kompetent in der Leistung von Haus- und Sorgearbeiten, Kindererziehung und Betreuung von alten und kranken KommunardInnen, wie die meisten Frauen das tun. Und in den Werkstätten arbeiten Frauen genau so selbstverständlich wie Männer. Manche Kommunardinnen sehen dennoch auch, dass die Ansprüche der ebenbürtigen Arbeitsverteilung schwer durchzusetzen sind.
8. Linkes Politikverständnis: Die Anliegen der Kommune, die Herrschaft von Menschen über Menschen abzubauen, Zentralisierung von Macht zu vermeiden und keine geschlechterhierarchischen Diskriminierungen zuzulassen, sind ebenso wie die Versuche der (Wieder-)Herstellung von Lebens- und Erfahrungszusammenhängen, der neuen Formen des Zusammenlebens und der Integration von Arbeit und Freizeit als Gegenkulturen gegen den industriellen und postindustriellen Kapitalismus zu werten. Die Kommunen versuchen, die Arbeit als ein Instrument zurückzuerobern, durch das sie sich selbst verwirklichen und mit dem sie auf die Gestaltung ihrer Mit- und Umwelt einwirken können. Die Sorge und Verantwortung für die MitkommunardInnen fördert das soziale Bewusstsein und eröffnet im Experiment beispielhafte Möglichkeiten für das Zusammenleben unterschiedlicher Generationen und Ethnien.

Perspektiven für die Zukunft

Kommunen sind gelebte Gegengesellschaften. An ihrer Existenz kann beispielhaft aufgezeigt werden, dass gesellschaftlich relevante, herrschaftsfreie Alternativen zum Bestehenden hier und jetzt gelebt und vorgeführt werden können. Über die Kritik an den herrschenden Verhältnissen hinaus entwickeln sie konkrete Vorstellungen einer egalitären herrschaftsfreien Gesellschaft, die Suchenden eine politische Orientierung geben und zu eigenen Konzepten kollektiven Zusammenlebens und -arbeitens anregen können.
Die verschiedenen Einnahmequellen, die durch die Koordination der marktvermittelten, kommuneinternen und gemeinwesenorientierten Arbeiten möglich werden, lassen Kollektive zu Institutionen werden, die sich zu Zeiten der wirtschaftlichen Unsicherheit immer wieder bewährt haben. Auch zur Betreuung und Versorgung von KommunardInnen, die sich noch nicht, nicht mehr oder vorübergehend nicht selbst helfen können, erscheint die Kommune der geeignete Lebensraum. Naheliegend ist deshalb die Frage, wieso in Zeiten, in denen Selbsthilfe und ehrenamtliche Hilfe für andere groß geschrieben werden, Kommunen nicht ebenso von staatlicher Seite räumliche, finanzielle und beraterische Unterstützung erfahren, wie beispielsweise Freiwilligenagenturen zur Unterstützung und Beratung potentiell ehrenamtlich Tätiger? Diese Frage gilt es zu stellen, auch wenn die meisten Kommunen eine solche Unterstützung für sich ablehnen würden.
Kommunen übernehmen zum Teil selbst die Grundausbildung der Kinder, pflegen sich bei Krankheit gegenseitig, pflegen alte und gebrechliche Menschen und niemand muss finanzielle Not leiden, weil alles geteilt wird. Die Möglichkeit der gegenseitigen Versorgung macht die vom "Vater Staat" geleisteten Unterstützungen und die Inanspruchnahme staatlicher "Einrichtungen" beinahe unnötig.
Die Gründe für die Nichtunterstützung und für die Nichtwahrnehmung durch außerkommunitäre Institutionen, so meine These, mögen darin liegen, dass kommunitäre Zusammenhänge ohne eine Kritik an der bürgerlichen Kleinfamilie und an kapitalistischen Unternehmensstrukturen nicht möglich sind, mögen sie sich selbst auch noch so "unpolitisch" verstehen. Und diese Kritik stellt die Grundstrukturen unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung in Frage. Allein der gelebte Hinweis: Es geht auch ohne Hierarchien und ohne geschlechterhierarchische Diskriminierungen und Abhängigkeiten in Zweierbeziehungen, rüttelt an den Grundfesten des zur "Normalität" deklarierten Wirtschaftens und Zusammenlebens. Zudem, und da mag der Hauptgrund für die Missachtung liegen: Wenn es darum geht, zu politischen und wirtschaftlichen Problemen Stellung zu nehmen, ist in einem Kollektiv ohne Chef und in einer Gruppe ohne Familienoberhaupt der beste Ort der Agitation, denn hier kann am schnellsten eine Flugblattaktion, eine Informationsveranstaltung, eine Demonstration oder eine wie auch immer geartete phantasievolle Aktion geplant und durchgeführt werden. Allein diese Möglichkeit - wenn sie auch oft nicht in die Tat umgesetzt wird - mag für diejenigen, die am Fortbestand des Bestehenden interessiert sind, bedrohlich wirken.
In der Zukunft muss es darum gehen, die herkömmliche Trennung von ökonomischen und außerökonomischen Bereichen sowie deren geschlechterspezifische Zuordnung auf breiter Ebene in Frage zu stellen. Daraus kann dann abgeleitet werden, welcher institutionellen Änderungen es in Beruf, Gemeinwesen und Haushalt bedarf, damit Frauen und Männer sich ebenbürtig begegnen können, und welche Maßnahmen in beiden Bereichen notwendig werden, um geschlechterspezifische Ungleichheiten abzubauen. Kommunen sind ein Versuch, um mit der Aufhebung der Entfremdung, der Neuverteilung von Arbeit und Verantwortung und der Möglichkeit der ebenbürtigen Teilhabe von Frauen und Männern am ganzen Leben ernst zu machen. Sie sind Schritte zur Verwirklichung des Projekts einer anderen Gesellschaft mit mehr Ebenbürtigkeit. Weitere Schritte und andere Projekte werden folgen. Denn eines ist sicher: Die Experimente des anderen Wirtschaftens und Zusammenlebens werden weitergehen. Es hat keinen Sinn, immer nur über Vereinzelung, Abhängigkeit und Unterdrückung zu klagen. Nach wie vor gilt der alte Spruch: Wer keinen Mut zum Träumen hat, hat keine Kraft zum kämpfen.

Gisela Notz


zum Anfang