Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.18 /2000, Seite 9

Der Angriff auf den öffentlichen Dienst

Weltweit geht es dem öffentlichen Dienst an den Kragen. Dabei geht es nicht nur um die Infragestellung des öffentlichen Eigentums, sondern grundlegender noch um die Art und Weise der Befriedigung sozialer Bedürfnisse. Die Arbeiterbewegung tut sich schwer, auf die Offensive zu antworten.

Der Nachkriegskapitalismus hat sich unter außergewöhnlichen Bedingungen entwickelt und außerordentliche wirtschaftliche Leistungen hervorgebracht; dabei spielte die Entwicklung des öffentlichen Dienstes eine besondere Rolle.
Im öffentlichen Dienst muss man unterscheiden zwischen sozialen Dienstleistungen (im Bereich Gesundheit, Bildung usw.), der Bereitstellung von Infrastruktur (Energie, Verkehr, Post, Telekommunikation) und Industrie- und Dienstleistungsbetrieben im staatlichen Besitz (Stahl, Banken usw.).
Im weiteren Sinne hat der öffentliche Dienst einen Doppelcharakter: Er ist einerseits Lieferant von sozialen Leistungen, die in massiven sozialen Kämpfen durchgesetzt wurden, andererseits langjähriges Instrument zur Herstellung und Sicherung von Stabilität und Legitimität des Kapitalismus.
Wohlfahrtsstaat, öffentlicher Dienst und Vollbeschäftigung waren die zentralen Merkmale des Auswegs aus der Krise der 30er Jahre, die mit der großen Depression begann und in Faschismus und Krieg mündete. Sie waren gleichermaßen eine Antwort auf den revolutionären Aufschwung in der UdSSR und in China sowie auf die Welle sozialer Bewegungen mit revolutionärem Potenzial in Europa und Japan in den 20er und 30er Jahren.
Die drei Merkmale haben nach dem Zweiten Weltkrieg eine Periode außerordentlich dynamischer Entwicklung des Kapitalismus getragen, trotz (oder wegen) der vielfachen Regulierunginstrumente, die die Marktmechanismen begrenzten. Die Theoretiker dieses Modells zogen daraus die Schlussfolgerung, dass der organisierte Kapitalismus in der Lage sei, den Widerspruch zwischen maximalem Profitstreben und der Begrenztheit der Absatzmärkte zu überwinden.
Der öffentliche Dienst hatte somit eine wirtschaftliche Funktion, die den Anforderungen entsprach. Er stärkte die Legitimität des Systems, indem nun — nicht ohne Grund — die Behauptung aufgestellt werden konnte, von nun an könnten Krisen vermieden und jedem Menschen Arbeit, ausreichende soziale Sicherheit sowie eine rasch wachsende Kaufkraft garantiert werden.
Die neoliberale Offensive hat diesen Diskurs vollständig auf den Kopf gestellt und versucht systematisch, dem alten Modell jede Legitimität zu entziehen. In Frankreich wird die Zeit um fünfzig Jahre zurückgedreht und alle Errungenschaften seit der Befreiung vom Faschismus in Frage gestellt: Mindestlohn, Sozialversicherung, Tarifverträge, Verstaatlichungen. Dabei kombinieren sich drei große, eng miteinander verbundene Tendenzen: Auf wirtschaftlicher Ebene hat das Ende der langen Welle der Expansion dafür gesorgt, dass die Nachkriegsmechanismen ihre Wirksamkeit eingebüßt haben. Ein Beispiel: Die Sozialausgaben verwandeln sich von dem Moment an, wo sie einer reinen Marktlogik unterworfen werden, von einer Stütze der Nachfrage in einen Faktor, der auf die Rentabilität des Kapitals drückt. Zweitens führt die Offensive des Kapitals zu einer Änderung des gesellschaftlichen Kräfteverhältnisses, national wie international. Auf nationaler Ebene werden sozialdemokratische Politikansätze unwirksam; gleichzeitig hat der Zusammenbruch der Gesellschaftssysteme in Osteuropa dazu geführt, dass gesellschaftliche Alternativen nicht mehr vorstellbar sind. Das dritte Element ist die Globalisierung; sie macht es möglich, ideologischen, aber auch materiellen Druck auf die Mehrzahl der sozialen Errungenschaften auszuüben. Im Bereich des öffentlichen Dienstes agieren heute große multinationale Konzerne, die eine gewisse Autonomie gegenüber den Nationalstaaten erlangen und eine Öffnung für das Privatkapital durchsetzen können.

Globale Warenwelt

Die neoliberale Offensive beansprucht universelle Geltung. Die vorgetragenen Argumente und Strategien für den Abbau der öffentlichen Dienste sehen sich frappierend ähnlich. Nehmen wir das mexikanische Beispiel: Die Privatisierung des Fernmeldewesens und die Umwandlung des schwach entwickelten Rentensystems in Pensionsfonds wurde hier nach exakt derselben Logik vorgenommen wie in Europa.
Die beanspruchte universelle Geltung hat auch einen organisatorischen Ausdruck. Die Experten des IWF gehen in der ganzen Welt mit denselben Anpassungsplänen hausieren. Die OECD hat die Aufgabe, die Einrichtung von Steuersystemen in Osteuropa zu überwachen. Die Weltbank schließlich forciert eine Rentenentwicklung, die auf dem gesamten Erdball den Übergang zur kapitalfinanzierten Rente anstrebt.
Was hat die Rente mit dem Preis einer Briefmarke gemeinsam? Grundsätzlich werden beide in relativ sozialisierter Form angeboten. Das Rentensystem nach dem Umlageverfahren basiert darauf, dass die Auszahlung der Rente von den individuellen Ersparnissen losgelöst ist und eine Art institutionalisierter sozialer Solidarität zwischen der im Erwerbsleben aktiven und der nichtaktiven Bevölkerung besteht.
Es ist die Gesellschaft, keine Versicherung, die jedem, der heute Beiträge zahlt, garantiert, dass er später eine Rente erhält, und dies nach einem System, das nicht allein seine individuelle Leistung berücksichtigt.
Der Preis für eine Briefmarke wird ebenfalls in sozialisierter Weise festgelegt: Es ist das Prinzip der einheitlichen Tarifbestimmung in einem gegebenem Gebiet, das hier die Beförderung eines Briefs zum selben Preis ermöglicht. Auch hier entspricht der Preis der Leistung nicht den Kosten im Einzelfall.
Diese Sozialisierung entzieht den Gütern und Dienstleistungen bis zu einem gewissen Grad den Charakter von Waren. So kann die neoliberale Offensive als ein Projekt verstanden werden, das darauf abzielt, in all diesen Bereichen die Güter wieder in vollem Umfang zu Waren zu machen.
Es geht also im öffentlichen Dienst nicht nur um die Durchsetzung von Privateigentum an Stelle des öffentlichen Eigentums, es geht auch um eine andere Art und Weise der Befriedigung sozialer Bedürfnisse. Liberalisierung heißt hier Individualisierung des Angebots an Gütern und Dienstleistungen.
Ein Hauptargument der Liberalen für die Privatisierung der öffentlichen Dienste ist ihre mangelnde Effizienz. Dort wo der öffentliche Dienst besonders schlecht arbeitet, ist es sehr schwer, gegen eine Privatisierung zu argumentieren, die angeblich alle Übel beseitigt. Oft wird mit Effizienz aber nichts anderes als die soziale Funktion öffentlicher Dienste bezeichnet, die eben beseitigt werden soll.
Ein privates Unternehmen, das sich auf die rentablen Bereiche konzentriert, gilt dann als effizienter als ein öffentlicher Dienst, der die Gesamtheit der Leistungen abdeckt. Diese Überlegenheit wird erkauft mit der Vernachlässigung bzw. eingeschränkten Befriedigung sozialer Bedürfnisse.
Im übrigen kann die Logik der Privatisierung auch in Gegensatz zum Postulat der Effizienz geraten. So läßt sich die angestrebte Privatisierung der Schweizer Bundesbahn schwerlich mit deren mangelnder Effizienz begründen. Was aber soll man davon halten, dass in Großbritannien die Netze und Dienstleistungen der Bahn so zerstückelt sind, dass es davon auf einem Territorium der Größe Luxemburgs sieben nebeneinander gibt?

Vernetzung oder Zerstückelung

Vor dreißig Jahren stimmten die meisten Wirtschaftsfachleute darin überein, dass es eine wissenschaftliche Rechtfertigung für einen öffentlichen Sektor gibt. Die Argumente von damals haben an Aktualität nichts verloren. Ein wichtiges, besonders treffendes Beispiel dafür bieten die Versorgungsnetze im Gesundheitswesen, Verkehrs- und Energiesektor sowie in der Telekommunikation, die mit öffentlichen Geldern aufgebaut wurden.
Eine flächendeckende Infrastruktur erfordert große Investitionen in Unterhalt, Ausweitung und Modernisierung der Netze. Wenn diese für die private Ausbeutung geöffnet werden, tun die Kapitalanleger ihr Möglichstes, sich solche Ausgaben nicht aufzubürden, weil sie wenig Gewinn versprechen; sie betrachten es als natürlich, dass der Staat dafür aufkommt.
Staatliche Versorgungsbetriebe, die bisher u.a. auch Netze unterhielten, werden zergliedert in profitable und unprofitable Bereiche. Daraus folgt die Notwendigkeit für eine Regulierung, ein System finanzieller Verpflichtungen sowie eine Koordination zwischen den beteiligten Privatunternehmen.
Deshalb sehen selbst die ultraliberalsten Programme Regulierungen vor, damit die verschiedenen Funktionen, die die öffentlichen Betriebe bisher wahrgenommen haben, auch unter privatwirtschaftlichen Bedingungen weiter erfüllt werden können.
Die in der neoliberalen Propaganda häufig anzutreffende Forderung, jegliche Regulierung abzuschaffen, weil sie nur Ausdruck administrativen Denkens sei, ist deshalb völlig absurd und in der Realität nicht haltbar. Und: Es ist der Staat, der sowohl die Privatisierung und Deregulierung gegen die eigenen Betriebe durchsetzt, als auch die Regulierung überwacht. Ohne massive politische Unterstützung würden die "freien Kräfte des Marktes" wenig ausrichten.
Damit ist jedoch die Gefahr groß, dass die Privatisierung der öffentlichen Betriebe ausschließlich dem kurzfristigen Gebot der Schaffung neuer Kapitalanlagemöglichkeiten folgt, die flächendeckende Versorgung mit elementaren Dienstleistungen der Quantität und Qualität nach in Frage gestellt wird und dem Staat auch noch die Unterhaltskosten der Infrastruktur aufgebürdet bleiben, ohne dass er dafür einen Gegenwert an Einnahmen erzielte — das staatliche Defizit also wächst.
Es gibt in der vorherrschenden neoliberalen Denkweise aber auch einen logischen Widerspruch. Wenn die Globalisierung wirklich einen Weltmarkt schaffen soll, wäre dann die rationellste und effizienteste Lösung nicht die flexible Koordination bestehender flächendeckender Einrichtungen, statt ihrer Fragmentierung durch den Wettbewerb? Wenn die europäische Einigung die Schaffung eines gemeinsamen Wirtschaftsraums zum Ziel hat, ist dann der beste Weg dorthin wirklich die Zerstörung der bestehenden Versorgungsnetze im Verkehrs-, Post- und Energiewesen?
Sogar der Vertrag von Maastricht spricht von der notwendigen "Verknüpfung" der Netze, aber er zieht daraus nicht die Schlussfolgerungen, die sich aufdrängen. Warum dann keine einheitliche europäische Energie-, Verkehrs- und Telekommunikationspolitik? Welche Wirtschaftseinheit ist je ohne Koordination und Vereinheitlichung ihrer verschiedenen Bereiche wirtschaftlicher Aktivität ausgekommen?

Soziale Bedürfnisse

Alles in allem ist die Tendenz zur schrankenlosen Liberalisierung und Privatisierung eng mit der Ignoranz sozialer Bedürfnisse bzw. deren sehr selektive Berücksichtigung verbunden. Das ist der Kern der Debatte. Entweder glaubt man, dass es Bedürfnisse gibt, die nur durch gemeinsame gesellschaftliche Anstrengungen befriedigt werden können, indem Dienstleistungen bereit gestellt werden, die von der Kaufkraft des Einzelnen unabhängig sind; oder man bedient nur die Bedürfnisse, die Geld abwerfen. Es ist klar, dass die zweite Option soziale Ungleichheit nicht nur hinnimmt, sondern verschärft und ausweitet.
Das Argument ist zwar berechtigt, es reicht aber nicht aus, die Leute zu überzeugen. Das Problem liegt darin, dass der öffentliche Sektor und die sozialen Dienstleistungen eine Form mittelbarer Vergesellschaftung darstellen, durch die die Befriedigung einer ganzen Reihe von Bedürfnissen dem reinen Markt entzogen ist, obwohl das Umfeld und die allgemeine Wirtschaftslogik, denen sie untergeordnet sind, die einer privatkapitalistischen Marktwirtschaft sind. Dies stellt einen gewissen Widerspruch dar, der sich unter Krisenbedingungen verschärft.
Der Zwittercharakter des öffentlichen Dienstes erklärt, warum er verteidigt werden muss, aber auch, warum seine Verteidigung nur auf einer Grundlage erfolgreich sein kann, die über die Logik des Markes hinausgeht. Jede Diskussion darüber hat schließlich damit zu tun, wie soziale Grundbedürfnisse befriedigt werden sollen, und deshalb — zumindest indirekt — mit Sozialismus.
Zwischen der profitorientierten Herstellung von Dienstleistungen durch Privatbetriebe und der "freien" Versorgung mit denselben durch Betriebe der öffentlichen Hand gibt es eine ganze Palette verschiedener Möglichkeiten, die zu unterschiedlichen Anteilen aus Steuermitteln gefördert werden. Das Ziel des Neoliberalismus ist die universelle Wiedereinführung der Marktmechanismen. Die sozialistische Alternative will die Befriedigung grundlegender menschlicher Bedürfnisse in einem Ausmaß, das allen einen würdigen Lebensstandard sichert. Beide Zielsetzungen sind unvereinbar.
Die Debatten und der Kampf um die Zukunft des öffentlichen Dienstes sollten um die Frage herum organisiert werden, auf welche Weise die elementaren gesellschaftlichen Bedürfnisse befriedigt werden sollen. Auszugehen ist dabei von den Rechten, die die sozialen Bewegungen zunehmend einfordern: das Recht auf Arbeit, Wohnung, medizinische Versorgung, Bildung, Kommunikation und Freizügigkeit.

Michel Husson

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